12.07.1996

Eiserne Faust in Tunesien

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Eiserne Faust in Tunesien

Von IGNACIO RAMONET

MEHR als vier Millionen Touristen werden dieses Jahr Tunesien besuchen – ein Land, das stolz ist auf seine traditionelle Gastfreundschaft und sich gern als „Oase des Friedens und der Ruhe“ präsentiert.1 Soeben feierte das Land 40 Jahre Unabhängigkeit, und die Regierung rühmt sich – nicht zu Unrecht – ihrer wirtschaftlichen Erfolge.

Zweifellos geht es den Menschen in keinem afrikanischen Land so gut wie in Tunesien: Das durchschnittliche Jahreseinkommen seiner Einwohner beträgt 2000 Dollar; die Ungleichheiten sind hier weniger schroff, und höchstens einer von zwanzig Einwohnern lebt unter der Armutsgrenze. Das jährliche Wachstum liegt über 4 Prozent, die Inflation unter 5 Prozent; das Haushaltsdefizit ist gering, der Anteil der Kinder, die Schulen besuchen, ist vergleichbar mit dem in entwickelten Ländern. Und in keinem arabischen Land haben die Frauen in vergleichbarem Maße am öffentlichen Geschehen teil.

James D. Wolfensohn, Präsident der Weltbank, fand bei seinem letzten Besuch im April dieses Jahres bestärkende Worte für den ultraliberalen Wirtschaftskurs der Regierung und deren Bemühungen um Anschluß an den euro- mediterranen Raum. Tunesien sei, so sagte er, „der beste Weltbank-Schüler der Region“. Mit diesen Worten dürfte er sich das Herz von Staatspräsident Zine al-Abidine Ben Ali erobert haben, der davon träumt, sein Land zum „Singapur Nordafrikas“ zu machen.

Für Ben Ali also reimt sich Liberalismus auf Autoritarismus. Als er 1987 – nach der sanften Absetzung von Habib Bourguiba, dessen früherer militärischer Sicherheitschef er war – an die Macht kam, verkündete er einen Umbau der Gesellschaft, sprach gar von einem „Neuen Zeitalter“. Die Folge waren Geschäftemacherei, polizeiliche Willkür und die Jagd auf Oppositionelle. Binnen weniger Monate stieg die Zahl der Polizisten von 20000 auf 80000. Politische Gruppierungen wurden verboten: Zunächst ging es 1990 den gemäßigten Islamisten (al-Nahda, arab.: Wiedergeburt) an den Kragen; deren Vorsitzender, Rachid Ghannouchi, floh nach London ins Exil. Hunderte seiner Mitstreiter wurden verhaftet und von zwei Militärgerichten des „Hochverrats“ beschuldigt; in einem äußerst unfairen Prozeß verurteilte man sie zu hohen, teilweise lebenslangen Freiheitsstrafen. Da den westlichen Regierungschefs der Schock angesichts der Zustände in Algerien tief in den Knochen saß, hüteten sie sich wohl, gegen diesen Machtmißbrauch die Stimme zu erheben. Doch dieses Schweigen animierte die tunesische Regierung nur, mit anderen Parteien der demokratischen Opposition ähnlich repressiv zu verfahren, angefangen bei der Kommunistischen Partei der tunesischen Arbeiter (PCOT) und verschiedenen linken Gruppierungen. Zu Tausenden wurden Oppositionelle, ohne daß sie für Gewalt eingetreten wären, verhaftet und zu hohen Strafen verurteilt – aufgrund einer neuen Gesetzgebung vom 22. November 1993, mit der die Grundrechte weiter eingeschränkt wurden und Menschen schon wegen ihrer Gesinnung interniert werden konnten.

In Polizeistationen und Gefängnissen wird wieder systematisch gefoltert. Doch die Proteste von amnesty international blieben bislang ergebnislos. „Die Richter nehmen es gar nicht zur Kenntnis, wenn die Vorgeführten Beschwerde einlegen, daß sie während der Untersuchungshaft mißhandelt, gefoltert und zur Unterzeichnung von Geständnissen gezwungen wurden; selbst wenn sie Wochen oder gar Monate nach der Verhaftung noch Spuren der Folter vorweisen können, wird dem nicht nachgegangen.“2 Die Familienangehörigen und deren Anwälte werden genauestens überwacht; entsteht der Verdacht, daß sie bei einer der Menschenrechtsorganisationen Beschwerde eingelegt haben, werden sie gleichfalls verhaftet, verhört, mitunter auch mißhandelt.

ALLE Zeitungen, ja, die Gesamtheit der Medien ist mundtot gemacht. Und die ausländische Presse wird systematisch zensiert. Selbst die Mitglieder der sechs offiziell noch zugelassenen Oppositionsparteien werden ständig überwacht und sind gegenüber dem Rassemblement constitutionnel démocratique (RCD) von Ben Ali zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Wundert es da noch, daß Ben Ali 1994 mit 99 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde; daß seine Partei über 88 Prozent der Sitze im Parlament verfügt und alle Gemeinderegierungen des Landes kontrolliert?

Kritik gilt mittlerweile als politisches Verbrechen, egal, aus welcher Ecke sie kommt. Der bekannte Arzt Moncef Marzouki, Vorsitzender der tunesischen Liga für Menschenrechte, hat dies am eigenen Leibe erfahren: Als er 1994 sein Vorhaben bekanntgab, gegen Ben Ali bei der Präsidentschaftswahl zu kandidieren, wurde er willkürlich drei Monate lang eingesperrt. Auch Freunde und Familienangehörige bekamen die Repression zu spüren: Sein Bruder wurde zu fünfzehn Monaten Gefängnis verurteilt, sein Neffe zu dreißig Monaten, und einer seiner Verteidiger, Najib Hosni, wurde selbst für acht Jahre hinter Gitter geschickt. Am 9. Oktober letzten Jahres, kurz nachdem Jacques Chirac Ben Ali bei einem Staatsbesuch für dessen „adäquate Antwort“ auf die islamistische Herausforderung gedankt hatte, wurde Mohamed Moada, der Vorsitzende der wichtigsten legalen Oppositionspartei (Mouvement des démocrates socialistes, MDS) verhaftet und nach einem Scheinprozeß zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.

Das tunesische Regime scheint einem regelrechten Sicherheitswahn verfallen zu sein; als Vorwand dient ihm der Erfolg in der ultraliberalen Wirtschaftspolitik und im Kampf gegen den Obskurantismus. Mit eiserner Hand führt Ben Ali ein Regime der Angst; jegliche demokratische Öffnung wird erstickt. Aber stiftet nicht jede Diktatur unweigerlich die Bürger zum Widerstand an?

1 Financial Times, 28. November 1995.

2 Siehe den Bericht „Tunisie, l'impunité favorise le renforcement de la répression“, amnesty international, 2. November 1995.

Le Monde diplomatique vom 12.07.1996, von Von IGNACIO RAMONET