16.08.1996

Wo endet die Legitimität der Regierenden?

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Wo endet die Legitimität der Regierenden?

IN einer Demokratie ist die Frage nach der Legitimität rechtmäßig gewählter Politiker äußerst heikel. Die französische Rechte hat sie 1981, in den ersten Monaten nach der Wahl von François Mitterrand, gestellt, doch diese Haltung brachte ihr von seiten der Öffentlichkeit, die mit großer Mehrheit Wahlergebnisse als verbindlich erachtet, hauptsächlich den Vorwurf ein, eine „schlechte Verliererin“ zu sein.

Wenn sich gegenwärtig in Venezuela diese Frage in bezug auf den Präsidenten Rafael Caldera stellt, so deshalb, weil er selbst sie hinsichtlich seines Vorgängers Carlos Andrés Pérez aufgeworfen hatte. 1992 verkündete Caldera mit aller Autorität, die ihm seine Stellung als ehemaliger Präsident der Republik (1969-1974) verlieh, vom Rednerpult des Kongresses: „Meine Verantwortung als Politiker zwingt mich, Präsident Pérez zu sagen, daß es auch zu seinen Aufgaben gehört, unverzüglich die tiefgreifenden Veränderungen einzuleiten, die das Land braucht. Es ist schwer, vom Volk zu verlangen, Opfer für die Freiheit und die Demokratie zu bringen, wenn es das Gefühl hat, daß diese Freiheit und diese Demokratie nicht in der Lage sind, ihm genug zu Essen zu geben und den schwindelerregenden Anstieg der Lebenshaltungskosten zu verhindern; wenn es sieht, daß nichts gegen das Geschwür der Korruption unternommen wird, das täglich größer wird, und vor aller Augen die öffentlichen und staatlichen Einrichtungen zerfrißt.“

Vier Jahre später wenden sich diese Worte gegen ihren Urheber: innerhalb von zwei Jahren ist die durchschnittliche Kaufkraft der Venezolaner um 53 Prozent gesunken, 18 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung sind arbeitslos, und die öffentlichen Ausgaben für die Sozialversorgung und den Gesundheitsbereich erreichten 1995 nicht mehr als 0,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Das schlimmste gesellschaftliche Übel bleibt allerdings die Korruption. Die Skandale häufen sich: die Affaire der Andino Bank; die Affaire Semarys; hoch angesehene Banken, in denen Spitzenfunktionäre Provisionen kassierten; passive Bestechung und Vetternwirtschaft in den Verwaltungen der Sozialversicherungen, im Bereich Tourismus und in allen mit der Infrastruktur des Landes befaßten Ministerien. In dieser Hinsicht haben sich die gesellschaftlichen und politischen Umstände seit 1992 außergewöhnlich stark verschlechtert. Davon zeugen auch die Streiks der Angestellten des öffentlichen Dienstes, der Lehrer, Ärzte, Arbeiter etc., die eine Verbesserung ihres Lebensstandards, eine Wiederbelebung von staatsbürgerlichen Tugenden und vor allem mehr soziale Gerechtigkeit fordern. Gar nicht zu sprechen von der Krise in den Gefängnissen, die, wie Albert Camus bemerkte, einen unbestechlichen Gradmesser für den Zustand von Recht und Justiz in einem Land darstellt Justiz eines Landes bildet (vgl. nebenstehenden Artikel).

KANN man also die Regierung Calderas als illegitim bezeichnen, so wie dieser die Illegitimität der Regierung von Carlos Andrés Pérez anprangerte? Schon 1848 erklärte der US-amerikanische Präsident Abraham Lincoln in einer Rede vor dem Kongreß, daß „jedes Volk, wenn es das Bedürfnis verspürt und über die entsprechenden Mittel verfügt, das Recht hat, von der herrschenden Regierung eine Neubildung zu fordern, ja sogar zu erzwingen, die ihren Wünschen mehr entspräche“. Und Charles Alexis de Tocqueville behauptete, ein Regierender, der gesellschaftlich und politisch abgewirtschaftet hat, habe damit faktisch die Legitimität verloren.

Auch der italienische Philosoph – und Senator auf Lebenszeit – Norberto Bobbio hat sich mit der Frage nach der Illegitimität der Regierenden beschäftigt. Seiner Meinung nach verfügt ein Volk, das mit der herrschenden Regierung unzufrieden ist, über die notwendige Legitimität, diese durch eine neue zu ersetzen.

Angesichts einer Situation, in der das Wertesystem und die Rechtssicherheit ebensowenig garantiert sind wie die Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse des venezolanischen Volkes, sollte Rafael Caldera über diese Aussagen nachdenken.

IGNACIO QUINTANA *

* Politikwissenschaftler, Verfasser von „Una manera de ser hombre“, Caracas (Siam) 1983, Leitartikler bei der Tageszeitung El Nacional, Caracas.

Le Monde diplomatique vom 16.08.1996, von IGNACIO QUINTANA