11.10.1996

Vom Neuschreiben der Geschichte

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Vom Neuschreiben der Geschichte

Von

CHRISTINE

MARTIN *

DER anglikanische Erzbischof Desmond Tutu beschwört eine tiefgreifende intellektuelle Revolution. „Im Geschichtsunterricht lernen die jungen Afrikaner nicht, daß es in Afrika blühende Königreiche gab, die in kultureller, künstlerischer und vieler anderer Hinsicht Bedeutendes geleistet haben. Sie wissen nicht, daß dies zu ihrem Erbe gehört und glauben, alles Wichtige komme aus dem Ausland. Man brachte ihnen bei, daß Livingstone die Viktoriafälle entdeckt hat, so als hätte sie vor seiner Ankunft niemand gesehen, als sei ihre Existenz nicht bekannt gewesen. Im neuen Südafrika muß das Geschichtsverständnis authentischer werden.“1

Für ein Land im Aufbruch, auf der Suche nach einer neuen Seele und einer neuen staatsbürgerlichen Identität, ist es eine wichtige Aufgabe – und eine ebenso spannende wie komplizierte Herausforderung –, die Geschichte neu zu schreiben und die Fakten, die die Entwicklung des Landes geprägt haben, neu zu interpretieren. In Südafrika ist dies eine Geschichte von 300 Jahren Kolonisierung, von Rassentrennung und einer noch auf der Haut brennenden Apartheidpolitik.

Fanyana Mazibuko, Direktor einer Schule in Soweto, sieht die Wiederherstellung und Pflege der Erinnerung als Notwendigkeit und Pflicht. „Wenn wir das nicht tun, wird diese Generation von Jugendlichen an historischem Gedächtnisschwund leiden. Sie werden nicht wissen, was Apartheid bedeutete und was daraus entstanden ist. Wenn sie das nicht lernen, besteht die Gefahr, daß sich die Geschichte wiederholt. Wir müssen die Geschichte analytisch neu schreiben, ohne dabei eine Gruppe gegen die andere aufzubringen.“ Mehr noch, Historiker und Bürger müssen die Geschichte des Landes aus einer neuen Perspektive, nämlich der seiner Ureinwohner betrachten. Eine solche „Afrikanisierung“ kann man angehen, ohne zugleich das europäische Erbe zu leugnen.

Mythen und Lügen

BIS vor kurzem beschränkte sich die in Südafrika gelehrte Geschichte auf die der Weißen. Die Afrikaner existierten nur aus der Erobererperspektive. Martina della Togna, eine junge Südafrikanerin italienischer Abstammung, erinnert sich an den Unterricht an ihrer staatlichen Schule in Kapstadt. „Die afrikanischen Zivilisationen vor Ankunft des Holländers J. V. Riebeeck auf der Kap-Halbinsel wurden kaum erwähnt. Geschichte konzentrierte sich auf die holländischen und englischen Kolonisatoren und war vom Nationalismus der Buren geprägt. Deren Rolle wurde verklärt, um die Gesetze der Weißen und ihre Besitzansprüche auf das Territorium zu rechtfertigen. Das Wenige, das wir über die Afrikaner lernten, war ein Gemisch aus Mythen und Lügen.“

Alice Gqibitole, eine 64jährige Lehrerin, hat ein gutes Gedächtnis. In den Schulbüchern wurde ihr Volk als der Feind dargestellt; seine Existenz war für die Weißen ein ständiges Problem, ein Fortschrittshindernis. „Da bekommen Sie drollige Sachen zu lesen, wie ,die Xhosa stahlen das Vieh der Buren‘, für Afrikaner entwürdigende und demütigende Dinge. Der wahre Charakter der Geschäfte zwischen Kolonisatoren und Afrikanern wird verschwiegen.“

Ganze Epochen der afrikanischen Geschichte wurden ausgeblendet. Der Unterricht konzentrierte sich auf die weiße Kolonisierung des Landesinneren, auf den Krieg zwischen Buren und Engländern und die Schaffung der südafrikanischen Union. „Für uns ist es eine Herausforderung, das alles neu zu schreiben. Unsere Geschichte ist voll von kriegerischen Konflikten, die den Widerstand gegen Kolonisierung und Apartheid widerspiegeln. Doch ist sie auch nicht so verschieden von der Geschichte anderer Völker“, faßt der Historiker John Pampallis zusammen, der die Abteilung für politische Bildung an der Natal-Universität in Durban leitet.2

Weiß und gebildet zu sein bedeutet in Südafrika, daß man Werte und Kultur Europas bzw. Nordamerikas übernimmt. Europa bleibt das Bezugssystem. Das Zugehörigkeitsgefühl zu Afrika überläßt man den Afrikanern und Buren. Martina della Togna ist Afrikanerin geworden, weil sie es wünschte. Die Schule bot ihr keine Möglichkeit, sich mit ihrem Kontinent zu identifizieren. Der Literaturunterricht machte sie mit Shakespeare und anderen britischen und ausländischen Autoren vertraut, nie mit afrikanischer Literatur. „Unsere Lehrpläne schöpften nicht aus den Quellen des Landes. Es war uns unmöglich, die Welt der einheimischen Dichter und Schriftsteller zu erkunden. Mehrere südafrikanische Autoren, von Nadine Gordimer bis Breyten Breytenbach, waren als subversiv verschrien. Keine irgendwie progressive zeitgenössische Literatur war zugelassen.“

Bis Ende des Jahrunderts müssen neue Lehrpläne und pädagogisch neu konzipierte Lehrmittel entwickelt werden. Kurz nach ihrem Machtantritt erkannte Nelson Mandelas Regierung, daß dafür gegenwärtig das Geld fehlt. Manche Professoren haben jedoch bereits damit begonnen, anrüchige Passagen aus den Büchern zu entfernen und eigene Unterichtsmittel zu entwickeln. „Wir müssen Geschichte so lehren, daß wir unsere Differenzen beiseite lassen, eine Nation aufbauen und uns miteinander versöhnen können.“ John Pampallis erklärt, daß die Ultrakonservativen, vor allem unter den Buren, vorschlagen, jede Gemeinschaft solle die Geschichte ihres eigenen Volkes lernen. Demgegenüber fordern die afrikanischen Nationalisten, der Nachdruck müsse auf der Geschichte der Afrikaner liegen und man müsse vor allem die Unterdrückung seit Ankunft der Weißen dokumentieren.

Die ethnischen Gemeinschaften Südafrikas müssen ihre gemeinsame Vergangenheit kennen und akzeptieren lernen. Jedem bloß „seine“ Geschichte zu präsentieren ist trügerisch und allzu simpel, denn Weiße und Schwarze bilden keineswegs zwei homogene identitätsstiftende und voneinander unabhängige Blöcke ohne interne Konflikte. Eine solche Sicht würde die Vergangenheit verfälschen und die vielfältigen Verbindungen zwischen allen ethnischen Gemeinschaften vergessen machen.

Die jüngste Geschichte bietet in dieser Hinsicht zahllose Beispiele. Während manche Schwarze zu Handlangern von Kolonialismus und Apartheid wurden, war die nationale Befreiungsbewegung zwar stark von Afrikanern dominiert, aber zu ihren Aktivisten gehörten auch Weiße, Inder und Mischlinge. Joe Slovo, Ruth First, Yusuf Dadoo, Ahmed Kathrada, um nur ein paar zu nennen, verbrachten lange Jahre im Gefängnis oder mußten in den Untergrund und später ins Exil gehen.

„Es ist eine schlechte Idee, eine Art offizielle Geschichtsschreibung festzulegen. Von Kind an müssen die Schüler und Studenten lernen, nicht daß es keine Wahrheit gibt, aber daß die Wahrheit auf verschiedenste Weise interpretiert werden kann. Im Geschichtsunterricht müssen sie lernen, kritische Bürger zu werden“, betont John Pampallis. Die Studenten sollen ermutigt werden, verschiedene Standpunkte zu analysieren. Erst dann kann Geschichte in ihrer ganzen Komplexität verstanden werden.

Einigkeit besteht offenbar darin, daß die Apartheid zu verurteilen ist. Doch jenseits der unerläßlichen „Austreibung“ des Bösen kann die Geschichte auch zum Katalysator einer neuen Gesellschaft werden. Das glaubt jedenfalls Fanyana Mazibuko: „Wir müssen beweisen, daß es materiell und psychologisch von Nutzen ist, tolerant zu sein, verschiedene Kulturen anzuerkennen und keine von ihnen als Bedrohung der eigenen Kultur zu sehen. Alle in diesem Land vertretenen Rassen müssen sich als Teil der südafrikanischen Nation verstehen. Man kann seine kulturelle Identität bewahren und zugleich Südafrikaner sein. Wir müssen an das Prinzip der Einheit in der Vielfalt glauben.“

dt. Christiane Kayser

1 Dieser Artikel entstand mit Hilfe des Journalistenstipendiums des Centre International des Droits de la Personne et du Développement Démocratique.

2 John Pampallis ist der Autor von „Foundations of the New South Africa“, Maskew Miller Longman Ltd, 1991. Das Buch beschreibt die Geschichte Südafrikas aus dem Blickwinkel der Befreiungsbewegung. Pampallis ist ebenfalls Herausgeber der Reihe „They fought for Freedom“, in der Kurzbiographien führender afrikanischer Männer und Frauen aller ethnischen Gruppen veröffentlicht werden, die für die Freiheit gekämpft haben. Er hat mehrere Jahre lang an Schulen gelehrt, die der ANC in mehreren afrikanischen Ländern, unter anderem in Tansania, für exilierte Südafrikaner unterhielt.

* Journalistin, Montreal.

Le Monde diplomatique vom 11.10.1996, von Christine Martin