11.10.1996

Unwägbarkeiten der neuen Weltordnung

zurück

Unwägbarkeiten der neuen Weltordnung

NACH dem Zusammenbruch des Kommunismus ist die Debatte über die internationale Ordnung neu entbrannt. Das jüngst erschienene Buch von Ghassan Salamé, „Appels d'empire“1 ist ein wichtiger Beitrag. Seine These: Auf den emanzipatorischen Ansatz der Entkolonisierung folge nun der „Ruf nach Herrschaft“ – nicht zuletzt, weil die Auflösung der Blöcke die Klientel des untergegangenen Kommunismus wie die Klientel des Westens zu Waisen gemacht hat.

Die entwickelten Länder weigern sich, so Salamé, die Kosten der Angleichung für jene Gesellschaften zu leisten, deren Übergang von ruralen zu urbanen Strukturen zu schnell erfolgte. Da der ideologische Solidaritätsmechanismus fehle, seien die abhängigen Länder versucht, zwecks maximaler Chancenausnutzung ihr Schädigungspotential auszuspielen.

Salamé zeichnet das Bild einer neuen Welt, deren Logik sich verkehrt hat: Die Schwachen suchen heute nach Beschützern, obwohl sie die gefährliche „Logik der Schutzgelderpressungen“ nur zu genau kennen. Zwar interessieren sich die Mächtigen noch für die reichen machtlosen Länder, doch ansonsten beschränken sie sich darauf, „die chaotischsten und ärmsten Länder“ zu neutralisieren.

Im ersten Teil analysiert der Autor den Zusammenbruch zahlreicher neu gegründeter Staaten, die die früheren Kolonialmethoden übernommen haben, von deren zu teurer Kopie des westlichen Modells aber nur die Führungsschichten profitierten. Solange Ideologien und Großprojekte legitimiert hätten, daß man der Bevölkerung die politische Macht und die wirtschaftlichen Erträge vorenthielt, hätten diese Systeme funktioniert. Der nun aufgebrochene Widerstand verhindere auf längere Zeit eine neue Ordnung und bedeute die Gefahr endloser Kriege.

Die im zweiten Teil beschriebenen „Umstrukturierungen im Weltmaßstab“ sind recht gewagt. Für den Westen seien humanitäre Bekenntnisse häufig nur die Fortsetzung der klassischen Außenpolitik mit weniger kostspieligen Mitteln. Die UNO diene der westlichen Welt unter Führung der USA meist zur Tarnung der Einmischung. Einen regionalen Zusammenschluß habe nur Europa geschafft. Eine ähnliche Entwicklung in Asien werde gebremst, weil die herrschende Logik den Krieg als Mittel der Konfliktaustragung sieht. Zudem fürchtet man eine erneute Vorherrschaft Japans, das so im Zentrum des Regionalsystems liegen würde wie Deutschland in Europa.

Im dritten Teil konzentriert sich der Autor auf die Strategie der USA und arbeitet die unterschiedlichen Reaktionen auf den neuen „Ruf nach Beherrschung“ heraus. Seit ihre Dominanz außer Frage stehe, seien die USA nicht mehr bereit, die Kosten dieser Rolle zu tragen, und neigten überdies zum Isolationismus. Interventionen erfolgten aufgrund ökonomischer Interessen (Golf), außenpolitischer Solidarität (Israel) oder globaler Gefahren neuen Typs (Drogen, Terrorismus). Weite Gebiete würden vernachlässigt und den europäischen Partnern, internationalen Hilfsorganisationen oder dem Chaos überlassen. Rußland gelte nicht mehr als gleichwertiger Partner, geschweige denn Rivale; ihm verbleibe nur eine Absicherung der verbliebenen Macht, die weniger auf realem Einfluß basiere als auf der verbliebenen Fähigkeit, Schaden anzurichten.

Die Globalisierung – d.h. die von den USA dominierte Verwaltung der menschlichen Ressourcen – laufe also nur auf eine Vorherrschaft über nutzbare Regionen hinaus. Die alten Widerstände gegen den „Imperialismus“ sind noch immer aktiv und treten hier und da in neuem Gewande auf, etwa dem des islamischen Fundamentalismus. Diese erneute Suche nach kultureller Identität profitiert nicht zuletzt vom Untergang der großen Universalideologien. Das Ausbleiben einer Antwort auf den „Ruf nach Herrschaft“ könne sich aber auch in subversivem Verhalten und Kämpfen um die Profitanteile niederschlagen. Die Armeen verwandelten sich in internationale Polizeikräfte, die die Privilegien der Wohlhabenden, wie im 19. Jahrhundert die des industriellen Bürgertums, beschützen.

Die stärksten Spannungen resultieren aus der Unstabilität der zwischenstaatlichen Beziehungen. Auch die europäische Stabilität als Resultat des Kalten Krieges ist nicht mehr gesichert. Nach dieser Logik müßte sich die EU bei einem Rückzug der Amerikaner eigene Machtinstrumente schaffen oder sie würde in verfeindete Lager zerfallen. Die Entwicklung in Rußland und der Versuch Moskaus, in Osteuropa wieder an Einfluß zu gewinnen, berge die Gefahr eines deutschen Gegenzugs.

Berlin, ab dem Jahr 2000 Hauptstadt der BRD, liegt nur 60 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Deutsche Unternehmen, Kirchen, Universitäten und Stiftungen sind in Zentraleuropa sehr präsent. Damit partizipiere Deutschland an Mitteleuropa, ohne es zu beherrschen. Dies sei die deutsche Reaktion auf den „Ruf nach Beherrschung“, der als Gegenleistung Kapital-, Wissens- und Technologietransfer erwarte. Da Deutschland den Zuzug Hunderttausender deutschstämmiger Flüchtlinge vermeiden möchte, ist es an Stabilität im Osten interessiert.

Das verteidigungs- wie außenpolitisch noch unfertige Europa-Konzept könne in frühere Machtkämpfe zurückfallen. Deutschland etwa könne, falls es sich bedroht und isoliert fühle, in die alten Gleise des Nationalismus zurückkehren und, trotz aller historisch gebotenen Zurückhaltung, erneut sein wirtschaftliches Machtpotential ausspielen.

All diese Problemfelder prüft Ghassan Salamé mit nüchternem und sachkundigem Blick. Er hat sich seinen Glauben an die Institutionen, an das Wiederaufleben der Bedeutung souveräner Staaten sowie der UNO erhalten. Er setzt weiterhin auf alle Formen des respektvollen Zusammenlebens der gewachsenen kollektiven Identitäten, die lange verleugnet wurden und deren Schutz zahlreiche Bürgerkriege hätte verhindern können.

Er geht davon aus, daß das Schlimmste nicht unbedingt eintreten muß. Wenn die Idee des Ausgleichs den Fanatismus zu besiegen vermag, sind durchaus Alternativen zu einem mystischen Festhalten am Staat denkbar. Wenn man die Achtung gegenüber dem Anderen wiederherstellt, wird das alte Zusammenleben wieder möglich. Ganz nüchtern präsentiert der Autor dem Leser das Bild einer Zeit nach dem Kalten Krieg, die nicht allein auf Hobbes oder Machiavelli gründet.

RÉMY LEVEAU

dt. Paul Gevaudan

1 Ghassan Salamé, „Appels d'Empire. Ingérences et résistences à l'Ûge de la mondialisation“, Paris (Fayard) 1996, 351 Seiten, 145 FF.

Le Monde diplomatique vom 11.10.1996, von Remy Leveau