11.10.1996

Grosny – Weder Krieg noch Frieden

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Grosny – Weder Krieg noch Frieden

Von

MARIE-CLAUDE

SLICK *

AM 23. August ermächtigte der russische Präsident Jelzin den Chef des Sicherheitsrates, General Alexander Lebed, „Verhandlungen [mit den Vertretern der Unabhängigkeitsbewegung] zu führen und ein Abkommen zu schließen, das die politische Lösung des Tschetschenienkonflikts regeln und den Status Tschetscheniens als integraler Bestandteil der Russischen Föderation festlegen soll“. Seit der Offensive vom 6. August, als es den Kämpfern für die Unabhängigkeit der kleinen Republik gelungen war, Grosny innerhalb weniger Stunden zurückzuerobern, konnte es an der Niederlage der russischen Armee kaum noch Zweifel geben.

Am 11. Dezember 1994 war die russische Armee in Tschetschenien einmarschiert, doch auch nach einem 21 Monate währenden Krieg war die Armee offensichtlich nicht in der Lage, den ihr erteilten Auftrag zu erfüllen, in der Kaukasusrepublik „die Ordnung wiederherzustellen“. Nur unter Druck, weil ihm keine andere Wahl blieb, hat sich der Kreml auf Verhandlungen eingelassen; General Lebed, der von Anfang an auf eine friedliche Regelung gedrungen hatte, war es nun überlassen, einen Ausweg aus dem politischen und militärischen Desaster zu finden, das sechzig-, vielleicht sogar achtzigtausend Tote vorwiegend unter der Zivilbevölkerung gefordert hat.

Gestärkt durch ihren Sieg vom 6. August dieses Jahres ließen die Separatisten durch ihren Sprecher Mowladi Udugow verbreiten, sie seien bereit, auch Vorschläge zu prüfen, „die den russischen Interessen Rechnung tragen“. In der Nacht vom 30. auf den 31. August unterzeichneten Alexander Lebed und der tschetschenische Oberbefehlshaber Aslan Maschadow nach siebenstündigen Verhandlungen ein Friedensabkommen.

Dem Vertrag gebührt das entscheidende Verdienst, den Krieg zu beenden, doch ist die gemeinsame Erklärung beider Seiten bewußt unbestimmt gehalten und folgt dem Prinzip, alle wichtigen Entscheidungen zu vertagen. So will man über den Status Tschetscheniens tatsächlich erst am 31. Dezember 2001 endgültig entscheiden. Dabei wird völlig offengelassen, wie dieser Status in der Zwischenzeit aussehen und wer die Kaukasusrepublik in diesen Jahren regieren soll. Das Abkommen nennt auch kein Datum, bis zu dem die russischen Truppen Tschetschenien verlassen haben müssen – aus Grosny sind sie immerhin bereits abgezogen –, aber es enthält die prinzipielle Zusicherung des Rückzugs. Im Gegenzug für diese Selbstverpflichtung konnte Lebed die Separatisten wohl dazu bewegen, ihre Forderung nach Unabhängigkeit einstweilen zurückzustellen.

Der Vertrag ist so vorsichtig formuliert, daß im gesamten Text nicht ein einziges Mal vom verfassungsrechtlichen „Status“ Tschetscheniens gesprochen wird, statt dessen von den „künftigen Beziehungen zwischen der Republik Tschetschenien und der Russischen Föderation“. In Moskau gab genau dieser Passus Anlaß zu deutlicher Kritik: Die politische Führungsschicht ist sich darin einig, daß Tschetschenien nicht in die Unabhängigkeit entlassen werden darf. Selbst General Lebed, der dieser Frage keineswegs ausgewichen ist, hat wiederholt betont, daß er ein unabhängiges Tschetschenien für unrealistisch halte.

Seine eigenen Vorstellungen hat Lebed in wenigen Sätzen zusammengefaßt: „Man muß alle russischen Zivilisten evakuieren, alle Zahlungen an Tschetschenien einstellen und die Truppen hinter die Grenzen von 1956 zurückziehen (die entlang des Terek-Flusses verliefen, so daß zwei Gebiete im Norden des Landes an Rußland fallen würden). Dann kann man eine Volksabstimmung durchführen. (...) Aber für Tschetschenien wäre es vorteilhafter, wenn es sich für uns und gegen die Unabhängigkeit entscheiden würde.“ Unmittelbar nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens erklärte Lebed in Moskau: „Ich trete für die Unteilbarkeit Rußlands ein, aber die Methoden, die bislang angewendet wurden, kann ich nicht gutheißen.“ Tatsächlich hat der General – in öffentlichen Stellungnahmen, die hart mit der Regierung ins Gericht gingen – stets deutlich gemacht, daß er das militärische Eingreifen in Tschetschenien mißbilligte. Diese Haltung hatte ihn im Mai 1995 seinen Posten als Befehlshaber der in Moldawien stationierten 19. Armee gekostet.

Es gibt in der russischen Generalität heute kaum noch Befürworter der militärischen Intervention, dennoch sind die Militärchefs überwiegend der Ansicht, daß die Kaukasusrepublik – die im Oktober 1991 den Zerfall der UdSSR genutzt hatte, um einseitig die Unabhängigkeit zu erklären – Mitglied der Russischen Föderation bleiben müsse. In Gesprächen ist übrigens stets von „Rußland“ und nicht von der „Föderation“ die Rede – eine überaus aufschlußreiche sprachliche Unachtsamkeit.

General Eduard Worobijew, aktives Mitglied der Bewegung „Unser Haus Rußland“, wurde im Dezember 1994 der Oberbefehl über die Truppen der Föderation in Tschetschenien übertragen. Er weigerte sich, dieses Kommando anzutreten, und erklärte seinen Abschied aus der Armee. „Rußland ist ein ebenso multinationaler Staat wie zuvor die Sowjetunion“, meint Worobijew. „Seine Stabilität ist in hohem Maße abhängig von der territorialen Einheit. Das ist eine Überlebensfrage. Tschetschenien grenzt an Dagestan und Georgien; und wenn wir in einem solchen Präzedenzfall nachgeben, setzt das ein schlechtes Beispiel für andere kaukasische Republiken, die der russischen Föderation angehören – Tatarstan, die Republik Udmurtien und andere. Aber man kann die Einheit Rußlands nicht bewahren, indem man versucht, einen Konflikt, wie er in Tschetschenien entflammt ist, mit Gewalt zu lösen. Wenn die Union der Republiken Bestand haben soll, dann müssen gleichberechtigte Beziehungen zwischen dem Kerngebiet und den Republiken hergestellt werden. In Tschetschenien hat das nicht funktioniert.“

Auch General Walentin Warennikow, Mitglied der Kommunistischen Partei, befürchtet „eine Kettenreaktion“, falls „Tschetschenien von Rußland unabhängig wird“. „Wir müssen dafür sorgen“, erklärt er, „daß alle Kaukasusrepubliken Teil der Union bleiben, weil sie für die Sicherheit an den Südgrenzen unverzichtbar sind.“ Aber genau wie General Worobijew ist auch Warennikow der Überzeugung, daß ein militärisches Eingreifen keinen Sinn habe. Der russische Staatspräsident solle sich kompromißbereit zeigen, ähnlich wie im Fall von Tatarstan.

Die Tataren, wie die Tschetschenen überwiegend Muslime, blicken auf eine lange Tradition des Widerstands gegen die russische Herrschaft zurück. Am 30. August 1990 wurde die unabhängige Republik Tatarstan ausgerufen, und die Tataren waren nicht bereit, 1992 der Russischen Föderation beizutreten. Zwei Jahre später schlossen sie mit Rußland ein Abkommen über die Dezentralisierung der Machtbefugnisse; seither gilt Tatarstan als souveräner Staat im Sinne des Völkerrechts, der sich der Russischen Föderation „assoziiert“ hat. Als Gegenleistung für den Verzicht auf die vollständige formelle Unabhängigkeit erhielt Tatarstan weitgehende Autonomie bei der Ausbeutung seiner natürlichen Ressourcen und einen fiskalischen Sonderstatus.1

Diese Abmachungen hatten Modellcharakter für die Konfliktregelung und die Frage der Eigenstaatlichkeit. Seither sind vergleichbare Verträge mit anderen Republiken im Nordkaukasus geschlossen worden, etwa mit Inguschetien und Kalmykien. Zahlreiche politische Beobachter, Generäle und russische Experten empfehlen einen ähnlichen Weg zur Lösung des Tschetschenienkonflikts. Die Frage ist nur, ob die tschetschenischen Separatisten darauf eingehen werden. Aber dieses Problem wird sich ja ohnehin erst in fünf Jahren stellen ...

In Moskau wurde das Abkommen zwischen Lebed und Maschadow von vielen vorerst zumindest nur zähneknirschend hingenommen. Die Zeitungen sprachen sofort von einer „Kapitulation“; die Regierung aber gab nach anfänglichem Zögern ihre Zustimmung. Boris Jelzin versicherte zwar, daß er den Vertrag billige, machte jedoch unmißverständlich deutlich, daß er zu einem sofortigen Rückzug der russischen Truppen nicht stehen könne, der immerhin ein Kernstück der Übereinkunft bildet. Angesichts der vielen Unklarheiten gab es Gründe genug für eine abwartende Haltung. Inzwischen haben allerdings einige Einheiten mit dem Rückzug aus Tschetschenien begonnen.

Zweifellos ist das Friedensabkommen undeutlich formuliert. Aber vielleicht konnte es nur deshalb unterzeichnet werden. Es enthält einerseits keine Zusicherung der Unabhängigkeit Tschetscheniens, andererseits aber auch keinen Hinweis darauf, daß die Kaukasusrepublik Teil der Russischen Föderation bleiben soll. Im Gegensatz zu den Separatisten vertritt die russische Seite allerdings den Standpunkt, daß Tschetschenien in den fünf Jahren bis zu einer endgültigen Entscheidung als Republik der Russischen Föderation gilt.

So sehen es auch die russischen Verfassungsrechtler. Oleg Chestow, Professor an der Akademie für Diplomatie und Vizepräsident der Russischen Vereinigung für Internationales Recht, analysiert die verfassungsrechtliche Bedeutung des Abkommens mit klaren Worten: „Der Vertragstext enthält eine Reihe von Kompromißformeln, aber er geht davon aus, daß Tschetschenien Teil der Russischen Föderation ist. Vom rechtlichen Status einer ,Republik‘ ist an keiner Stelle die Rede. Statt dessen wird von den ,Grundsätzen für die Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und Tschetschenien‘ gesprochen. Mit gutem Grund: Die Verfassung der Russischen Föderation legt den Status Tschetscheniens eindeutig fest – das Land unterliegt der russischen Souveränität. Bis zum Jahr 2001 sollen die Beziehungen einvernehmlich festgelegt werden. Aber einstweilen ergibt sich aus dem Abkommen, daß Tschetschenien zu Rußland gehört und dort alle russischen Rechtsvorschriften gelten.“

In fünf Jahren kann viel geschehen. In Moskau hofft man, daß die Zeit für Rußland arbeitet. Die allgemeine Lage könnte sich zum Besseren wenden und die Tschetschenen dazu bewegen, auf ihre Forderung nach Unabhängigkeit zu verzichten. „Wenn Rußland sich an diese Vereinbarungen hält und eine vernünftige Politik macht“, meint Chlestow weiter, „wenn soziale und wirtschaftliche Beziehungen aufgebaut und die Menschenrechte geachtet werden, dann wird das auch die Tschetschenen zufriedenstellen. Schließlich wäre es sehr ungewöhnlich, wenn ein so kleines Land zum unabhängigen Staat würde.“

Bei alledem hat der Vertrag doch seinen Zweck erfüllt: Er hat einen grausamen und überwiegend als absurd empfundenen Krieg beendet. Nach einer Umfrage, die im Februar 1996 vom Institut Vitsiom durchgeführt wurde, vertraten nur 24 Prozent der Russen die Meinung, daß man die militärischen Operationen fortführen und Tschetschenien mit allen Mitteln in der Föderation halten müsse. Die russischen Truppen befanden sich in einer hoffnungslosen Situation, und aus der „Widerherstellung der Ordnung“ war ein entsetzliches politisches und militärisches Fiasko geworden. Nach Ansicht vieler Militärs muß die notwendige Armeereform auch einen Schlußstrich unter dieses Debakel ziehen.

Wäre ein unabhängiges Tschetschenien wirklich so undenkbar? Dimitri Oreschkin, ein Experte für Geopolitik, der häufig von den unabhängigen Medien als Berater herangezogen wird, gibt sich in der Frage skeptisch: „Die Tschetschenen werden ihren nationalen Befreiungskampf weiterführen – bis zur Loslösung von Rußland. Vielleicht wird Rußland am Ende einsehen müssen, daß es keinen Sinn hat und vor allem viel zu kostspielig ist, Tschetschenien mit Gewalt halten zu wollen.“

Das ist zweifellos keine Einzelmeinung. Immerhin arbeitet man im Kreml bereits an Plänen für eine neue Streckenführung der Ölpipelines, die das Gebiet Tschetscheniens umgeht. Derzeit verlaufen zwei dieser Versorgungsleitungen durch die Kaukasusrepublik: die eine kommt aus Kasachstan, die andere aus Aserbaidschan (siehe den Artikel von Vicken Cheterian). Außerdem ist von einer neuen Eisenbahntrasse die Rede, die Südrußland mit Dagestan verbinden und dabei ebenfalls das tschetschenische Gebiet aussparen soll. Unter Bezug auf diese Informationen hieß es in der Iswestija am 10. September: „Daß man dieses vergessene Vorhaben nun so plötzlich wiederaufnimmt, deutet darauf hin, daß die russische Führung politische Entscheidungen vorbereitet, deren Ziel es ist, die strategische Bedeutung Tschetscheniens im Nordkaukasus zu reduzieren.“

dt. Edgar Peinelt

1 Vgl. Vicken Cheterian, „Tatarstan als Modell?“, Le Monde diplomatique, September 1995.

* Journalistin, Moskau-Korrespondentin von TF1.

Le Monde diplomatique vom 11.10.1996, von Marie-Claude Slick