13.12.1996

Elend und Selbsthilfe im Mama-Yemo-Krankenhaus von Kinshasa

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Elend und Selbsthilfe im Mama-Yemo-Krankenhaus von Kinshasa

Von unserer Korrespondentin FLORENCE BEAUGÉ *

DAS Mama-Yemo-Krankenhaus galt vor zwanzig Jahren als hervorragend, äußerst leistungsfähig und war der ganze Stolz von Marschall Mobutu. Alle bedeutenden Persönlichkeiten Zentralafrikas ließen sich hier behandeln. Amerikanische Ärzte drängten sich, an diesem Hosptal zu arbeiten, nicht aus Nächstenliebe, sondern weil dieses Juwel die Hälfte des staatlichen Gesundheitsbudgets von Zaire erhielt. „Das Mama-Yemo-Krankenhaus ist der Spiegel dessen, was in Zaire vor sich geht“, sagt Doktor Gérard Kabamba, Chirurg für Orthopädie. „Alle Bevölkerungsschichten sind hier vertreten. Niemand braucht etwas zu verbergen oder zu erfinden. Hier kann man wirklich eine Autopsie der zairischen Gesellschaft vornehmen.“

Mama-Yemo – benannt nach der Mutter des Staatschefs – ist heute ein Komplex aus einem Dutzend baufälliger Gebäude, die untereinander durch offene, mit Wellblech überdachte Gänge verbunden sind. Obwohl es in Kinshasa liegt, erscheint es wie eine eigene Stadt, eine Welt für sich, ein surrealistischer Ort. Hier ist das Elend ebenso anrührend wie die Hartnäckigkeit, mit der man, allem zum Trotz, die Würde zu wahren versucht.

Um nicht länger den Niedergang des Krankenhauses mitanzusehen, der seine Ursache im Zerfall des Staates hat, entschied sich das Personal vor zwei Jahren, die Verwaltung selbst in die Hand zu nehmen. „Wir bekamen seit ein paar Jahren bestenfalls alle sechs Monate Gehalt, und die Rückstände wurden nie ausgezahlt. So konnten wir weder leben noch arbeiten“, erklärt Doktor Jean Baptiste Sondji, ebenfalls Chirurg. 1991 hatte er zusammen mit Kabamba den Front patriotique gegründet, eine Partei, die die Zusammenarbeit mit Marschall Mobutu ablehnt. „Wir haben deshalb ein System auf die Beine gestellt, das es möglich machte, die Krankenhausverwaltung und das Gesundheitsministerium zu umgehen. Bis dahin kassierten die das Geld für Behandlungen und Operationen, ohne es an uns weiterzuleiten oder in das Krankenhaus zu investieren. Deshalb beschlossen wir, die Einnahmen an der Quelle einzutreiben, also bei den Kranken.“

Skalpell und Medikamente bitte mitbringen

TÄGLICH wird eine Person pro Abteilung bestimmt, die die Gelder einzuziehen und die Abrechnungen zu erstellen hat. Am Monatsende werden die spärlichen Einnahmen aufgeteilt: 40 Prozent gehen an die Ärzte, 40 Prozent an das Pflegepersonal, der Rest ist für die Leitung und die Verwaltung. Alle räumen ein, es sei schwierig, dieses System durchzusetzen und aufrechtzuerhalten: „Die Leute sind so verarmt, daß sie sich nicht einmal mehr behandeln lassen können. Wenn sie sich durchringen, zu uns zu kommen, sind sie schon im Endstadium“, schildert Jean Baptiste Sondji. „Wir wissen gar nicht mehr, was eine Notaufnahme ist. 80 Prozent der Einlieferungen sind Notaufnahmen. Aber wir können nicht helfen, weil wir nichts haben oder weil jede Hilfe zu spät kommt. Die Menschen sterben vor unseren Augen. Unser Krankenhaus ist ein Sterbehaus.“

So kommt es vor, daß ein Patient mit einem offenen Bruch bis zu acht Tagen warten muß, ehe er operiert wird. Zuerst muß seine Familie Verwandte und Freunde und dann ganz Kinshasa abklappern, um das notwendige chirurgische Material aufzutreiben: ein Skalpell, Handschuhe, Infusionen, Fäden, Pflaster, Antibiotika, das Betäubungsmittel, Blutkonserven. Wenn der Patient nicht unterdessen gestorben ist, kann die Operation stattfinden. Außerdem muß die Familie dem Patienten das Essen ins Krankenhaus bringen, denn dort gibt es dafür längst keine Mittel mehr. Aber auch mit Unterstützung seiner Familie wird der Patient wie die Mehrheit der Zairer höchstens einmal am Tag oder gar nur jeden zweiten Tag etwas zu essen bekommen.

Auf einer Bahre liegt ein Mann in den Vierzigern, seine Gesichtszüge sind verzerrt, er atmet mit Mühe. Er hat einen Darmdurchbruch und wartet seit drei Tagen in der Hitze auf seine Operation. Gestern mußten die Chirurgen wegen eines Stromausfalls alle Operationen absetzen. Heute fehlt es an Sauerstoff.

„Uns wird gesagt: Ihr seid verrückt, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, ihr setzt euch allen erdenklichen Risiken aus. Alle unsere Kollegen träumen davon, in Sambia oder Südafrika zu arbeiten – ein wahres Paradies für einen Arzt aus Zaire, zumindest bekommt man dort genug zu essen“, sagt Gérard Kabamba. „Aber wir haben uns entschieden, zu bleiben. Man muß einfach seine Wahl treffen, und daran hält man fest.“ Das meint auch Doktor Sondji, der zeigen will, daß es „in diesem Land, das alle als korrupt und kaputt darstellen, noch Idealisten gibt“.

Man traut seinen Augen nicht, wenn man den OP- Bereich sieht, in dem die beiden Ärzte arbeiten. In Armee-Containern hat man fünf kleine Operationssäle eingerichtet, die eher wie Kaninchenställe aussehen. Der Boden ist aufgerissen, darunter sieht man verrostete Eisenstangen, auf denen Eidechsen mit orangefarbenen Köpfen umherhuschen. Da es keine Klimaanlage gibt, bleiben die Türen während der Operationen geöffnet, so daß Fliegen und Mücken unbehindert umherschwirren können.

Im Januar wird ein neues OP-Gebäude in Betrieb genommen. Es wurde von Chinesen errichtet, deren Preise um das Zehnfache niedriger liegen als die der westlichen Unternehmer. Der Bau ist einer 6-Millionen-Dollar-Spende der amerikanischen Regierung zu verdanken. Als im Januar 1996 eine Antonow-Maschine über dem Markt von Kinshasa abstürzte, geriet der Zustand des Krankenhauses plötzlich in die Schlagzeilen und erregte das Mitgefühl der Amerikaner. „Das ist eine gute Sache, aber unser Grundproblem ist damit nicht gelöst“, betont ein Arzt. „Wir werden über eine schöne Notaufnahme und neue OP-Säle verfügen, wie wir sie in den letzten zwanzig Jahren nicht hatten, aber Material, Ersatzteile und Medikamente werden uns weiterhin fehlen, und das Personal wird nach wie vor kein Gehalt bekommen.“

Die Krankensäle warten noch immer auf Spender. An den einsturzgefährdeten, von Rissen überzogenen Wänden stehen verrostete Eisenbetten, ohne Bettwäsche, mit abgewetzten Schaumstoffmatratzen, auf denen Tag und Nacht stumme Patienten liegen, die häufig in ihr Bett nässen und sich wundliegen. Auch hier keine Klimaanlage, nur zwei, drei Ventilatoren an der Decke rühren die feuchtwarme Luft um. Die Hälfte der Säle ist ohne Licht, überall fehlen Fensterscheiben, von Fliegengittern ganz zu schweigen. Die Zangen und anderen Instrumente, die eigentlich steril aufbewahrt werden müßten, sind in Zeitungspapier eingewickelt.

Auf einem Bett liegt, mit verschränkten Armen und starrem Blick, ein zum Skelett abgemagerter Jugendlicher. Er wird sein Leben lang gelähmt bleiben. Seine Geschichte erzählt er in einem Atemzug, ohne ein Wort der Klage. Anfang Oktober ging er in seiner Heimatstadt Tembo, im Landesinneren, über den Markt, als eine Kugel ihn in den Rücken traf. „Man brachte ihn zu uns, aber er hat kaum eine Chance. Übrigens weiß ich nicht, ob man es ihm wünschen soll, denn für Reha-Maßnahmen haben wir hier keine Mittel“, erklärt eine Krankenschwester. „Jede Woche nehmen wir fünf bis sieben Personen auf, die von ,verirrten Kugeln‘ getroffen wurden. Fast immer stammen diese Kugeln von einem genervten Soldaten, der wegen irgendeiner Nichtigkeit abgedrückt hat. Das passiert besonders an den Straßensperren, die sie überall an den noch befahrbaren Straßen errichtet haben, um Schutzgelder zu erpressen. Auch sie haben schon ewig keinen Lohn mehr bekommen und benutzen ihre Waffen zum Broterwerb.“

Ein Händler, der an Typhus leidet, ist aus dem 500 Kilometer von Kinshasa entfernten Kikwit gekommen. Um in die Hauptstadt zu gelangen, wo er seine Ernte verkaufen wollte, mußte er mehr als zwanzig Straßensperren passieren: hier ließ er einen Sack Maniok zurück, dort einen Sack Mais, dann wieder Palmöl. „Manchmal hat man nichts mehr, wenn man ankommt, aber es hängt ganz von deiner Nase ab. Manche, die Autorität ausstrahlen und das richtige Gesicht dafür haben, können sich gegen diese Erpressung wehren.“

Der Staat zerfällt, aber er stirbt nicht

IM selben Krankensaal, nur ein paar Schritte entfernt, sitzt auf der Bettkante ein Militärangehöriger in staubiger Uniform. Sein Blick ist verstört, seinem kleinen Sohn hat man gerade beide Beine amputiert. Er ist vom Dach eines überfüllten Kleinbusses gestürzt, mit dem er unterwegs war, zusammen mit etwa fünfzig anderen. „Sie brauchen den Soldaten gar nicht zu fragen, ob er auf dem Weg in die Provinz Kivu ist, an die Front; er würde Sie auslachen“, meint ein Assistenzarzt. „Die zairische Armee ist eine Fiktion, es gibt nur noch Clans. Und wenn die Soldaten noch bewaffnet sind, so sind sie bereit, die Waffen gegen ihre Generäle zu richten, die zu 80 Prozent aus der Provinz Equateur – der Heimat von Mobutu – stammen. Sie wissen, daß sich nichts geändert hat und daß die Nutznießer des Systems dieselben sind wie früher.

Auch für den kleinen Mann hat sich nichts geändert. Die Lebensbedingungen haben sich weiter verschlechtert, und die unabhängige Nationalkonferenz ist nur noch eine ferne Erinnerung. Die riesige Hoffnung, die zu Beginn der neunziger Jahre aufkam, ist Verbitterung und Wut gewichen. Die Bevölkerung hat das Gefühl, betrogen worden zu sein – unter aktiver Beihilfe des Westens. Premierminister Kengo wa Dondo gilt als Kronprinz Mobutus. Es scheint ihm wichtiger zu sein, seinen privaten Reichtum zu konsolidieren und bei den Europäern und beim Internationalen Währungsfonds gut dazustehen, als die vielen Übel anzugehen, an denen Zaire leidet: der völlige Zerfall des Staates und der Sicherheitskräfte, eine grenzenlose Korruption (die von der Mehrheit der intellektuellen Elite schon immer als gängige Praxis zugegeben und hingenommen wurde), eine Währung, die verfällt, weil die Regierung die Notenpresse auf Hochtouren laufen läßt, und ein dramatischer Mangel an Kommunikations- und glaubwürdigen Informationsmitteln.

In den Augen vieler Zairer ist Etienne Tchisékédi der rechtmäßige Premierminister. Ihn hatte die Nationalkonferenz benannt, und er gilt (im Gegensatz zu Kengo) als der Mann, der das Land zu wirklich transparenten und demokratischen Wahlen führen könnte. Es scheint, als ob der Westen unter dem Vorwand, den Zeitplan strikt einzuhalten, diese Wahlen möglichst schnell durchgeführt wissen will, um die gegenwärtige Situation zu rechtfertigen und ihr einen Anstrich von Legitimität zu verleihen. Dies akzeptiert die Bevölkerung nicht, sie fordert nach wie vor eine wirkliche Veränderung.

Gewiß löst der Oppositionsführer Tchisékédi, der als Premierminister von Mobutu abgesetzt wurde, heute weniger Begeisterung aus als noch vor vier Jahren. Den Ruf eines integren Mannes hat er sich jedoch, obwohl ihm eine klare Strategie fehlt, bewahren können. „Er wird oft von den Mobutu-Anhängern hereingelegt, aber nicht, weil er auf ihrer Seite stünde (obwohl es stimmt, daß er vor zwanzig Jahren ein enger Vertrauter von Mobutu war), sondern weil er leichtgläubig ist“, sagt einer seiner Freunde. Ein anderer seiner Vertrauten, ein einflußreicher Pfarrer, bestätigt dem ehemaligen Premierminister einen „Horror vor jeglicher Gewalt. Er will jegliches Blutvergießen vermeiden, und das hindert ihn zu handeln.“

„Wir werden oft Linksextremisten genannt, doch was heißt denn das?“ empört sich Sondji, der mit Tchisékédi sympathisiert, aber einen radikaleren Kurs bevorzugen würde. „Wenn ich einen meiner Tuberkulosekranken behandele, verabreiche ich ihm dann nur die halbe Dosis unter dem Vorwand, die ganze sei zu viel? Der Krieg in Kivu ist nur der unübersehbare Ausdruck für den Verfall des Mobutu-Regimes, auch wenn sich sein Sterben noch endlos dahinzieht. Mobutu ein Garant für die Einheit von Zaire? Daß ich nicht lache! Ein Funke genügt, um das ganze Land in Brand zu stecken. Immer mehr Menschen sind am Ende, und sie sagen uns: ,Wann hört ihr auf, Politik zu machen? Gebt uns endlich Waffen?‘“

dt. Eveline Passet

* Journalistin

Le Monde diplomatique vom 13.12.1996, von FLORENCE BEAUGÉ