13.12.1996

Modell Deutschland

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Modell Deutschland

■ Die Streiks in Frankreich und die Sympathie, die ihnen in der Öffentlichkeit entgegenschlägt, zeigen eines: Die rigorose Sparpolitik ist auch mit der hehren Vision der Einheitswährung nicht zu verkaufen. Überall in Europa wächst der soziale Widerstand, die Bereitschaft zur Verteidigung der Arbeitsplätze, des Lohnniveaus und des Sozialstaatsgedankens. In Spanien sind am 23. November zum zweiten Mal in diesem Jahr 200000 Menschen gegen die Sparpolitik auf die Straße gegangen; in Belgien gab es am 28. Oktober Streiks gegen das Einfrieren der Löhne; in Italien haben 100000 – mit Unterstützung der Rechten – gegen die neue Eurosteuer demonstriert, und auch in England hat es im Sommer und Herbst punktuelle Streiks gegeben. Auch das „Modell Deutschland“ steht in der vereinten Bundesrepublik auf dem Prüfstand.

Von MATHIAS GREFFRATH *

ALS die IG Metall zusammen mit der ÖTV am 1. Oktober vor dem Daimler-Benz-Werk in Stuttgart demonstrierte, griff gegen Ende der Kundgebung eine Frau in die Tasten ihres Akkordeons und intonierte „Brüder zur Sonne zur Freiheit“. Einige summten mit, die Jungen hörten ratlos zu. Die alten Lieder sind vergessen, aber in diesem Herbst konnten sich die Gewerkschaften im Aufwind fühlen wie lange nicht.

Heißer Herbst? Acht Wochen danach ist alles ruhig und wie immer: deutsch- korporatistisch. Mit geordneten Nadelstichen und wie üblich schwerpunktmäßig bestreikt man derzeit die Produktion von Marzipan und Schokoladen-Weihnachtsmännern, und ordentlich setzt Klaus Zwickel einen großzügigen Termin. Bis Ende Februar sollen die Unternehmer sich abschließend zur Lohnfortzahlung geäußert haben. Bis dahin wird zwischen den Lagern verhandelt.

Doch selbst wenn sie inzwischen in eine verlängerte Tarifrunde mündet: Die Reaktion war knallhart, der Angriff auf das „deutsche Modell“, auf die Sozialpartnerschaft des „Rheinischen Kapitalismus“ ist einstweilen abgeschlagen. Regierung und Unternehmer hatten sich verkalkuliert. Durch ihre eigenen Worte wahrnehmungsgetrübt, schickten sich die Unternehmer an, die staatliche Ermächtigung zur Kürzung betrieblicher Leistungen ohne Rücksicht auf geltendes Recht und geltende Verträge umzusetzen. Mit der heftigen Reaktion hatten sie nicht gerechnet. Kommentator Barbier hatte in der FAZ voreilig gehöhnt, die Gewerkschaften spielten nur den heiligen Zorn, aber im Grunde sei auf sie Verlaß. Sie dächten nicht im Traum an politischen Streik. Doch dann zogen in Stuttgart die schwäbischen Maschinenbauer auf den Fabrikhof, und ihre Chefs sagten: „Da standen sie wieder, wie seit zwanzig Jahren nicht mehr, rollten die alten Fahnen auf. Wir hatten das alles schon längst vergessen.“

Auch wenn kein politischer Streik in Deutschland proklamiert werden darf: Was wir erlebt haben, ist natürlich ein politischer Streik, denn es ging nicht ums Geld. Getreu dem Prinzip der „kooperativen Konfliktbewältigung“ hatten in den Monaten zuvor in vielen Betrieben die Arbeiter erheblichen Opfern zur Sicherung der Renditen und der Arbeitsplätze zugestimmt. Landauf, landab hatte die konzertierte Aktion zur kontrollierten Aushöhlung des Tarifwesens funktioniert – unter gewerkschaftlicher Kontrolle, denn auch der Abbau der Hochlohnwirtschaft und des Sozialstaats erfolgt in Deutschland korporatistisch. Und da die Deutschen nun einmal an der Produktivität und an ihrem Selbstbild des Exportweltmeisters hängen, sind die deutschen Gewerkschaften, wenn man an die Exportfähigkeit appelliert, zu fast jedem Opfer bereit. Dies aber hatte die Eliten des Kapitals zum Hochmut verleitet. Olaf Henkel hatte öffentlich die Zerschlagung der deutschen Betriebsverfassung gefordert, die neoliberalen Ajatollahs im Wirtschaftsteil der FAZ wollten die Arbeiter nicht nur von den autoritären Männerbünden der Gewerkschaften und von der Diktatur der Betriebsräte befreien (Originalton: „Wer das Arbeitsplatzrisiko abschafft, wird früher oder später die Folter einführen“), sondern – tendenziell verfassungsfeindlich – an die Stelle des Sozialstaates die „Privatrechtsgesellschaft“ setzen.

Der Rechtsbruch ließ das Faß überlaufen. Die Öffentlichkeit sympathisierte mit den Streikenden, denn hier wurde an den Kern der deutschen Sozialverfassung gerührt – und Zwickels in den Staub getretener Bündnisvorschlag entstammte ja der tiefsten deutschen Sozialtradition. Die industrial relations in Deutschland sind schon immer ein „Bündnis für Arbeit“ gewesen, und wer daran rührt, gefährdet die Legitimität dieser Gesellschaft.

Das „deutsche Modell“ – der „Rheinische Kapitalismus“, von dem aufgeklärte Politiker in allen fünf Erdteilen schwärmen, just zu dem Zeitpunkt, wo die Koalition ihn privatisiert – hat eine lange Geschichte. Jede seiner Epochen zeichnet sich aus durch den gleichen Mechanismus des staatlich moderierten Klassenkompromisses: von der Bismarckschen Sozialgesetzgebung über das Bündnis, das Hugo Stinnes und Carl Legien am 15. November 1918 schlossen (über das Verbot der gelben Gewerkschaften, über kollektive Tarifverträge und Arbeitsrecht) bis zum Abkommen, mit dem Konrad Adenauer und Hans Böckler 1951 die Montanmitbestimmung vereinbarten, die den Arbeitern als Preis für den Verzicht auf Sozialisierung und die Zustimmung zur Wiederbewaffnung ein gewichtiges Mitbestimmungsrecht auch in den wirtschaftlichen Belangen einräumte.

Dies alles bestimmt noch das Bewußtsein der älteren Arbeiter, die jetzt in Rente sind, aber interessiert lassen sich die Jungen dieser Tage erklären, wie die Gewerkschaften nach dem Krieg, als die Unternehmer noch in ihren Berghütten saßen und auf die Entnazifizierung warteten, die Fabriken aufgebaut und mit ihrem Lohnverzicht die Wirtschaft in Gang gebracht hatten.

Die Brisanz des Papiers der beiden Volkskirchen zur sozialen Lage (das albald von den bischöflichen Spitzen verwässert wurde) spitzt sich zu auf einen Punkt: angesichts der massiven Umverteilung in den Kohl-Jahren und in einer Situation, in der „die Wirtschaft auswandert und die Politik mit dem Volk zurückbleibt“ (Richard von Weizsäcker), die Ideologen der Privatisierung und Individualisierung an etwas Grundsätzliches zu erinnern: daß unser Reichtum gesellschaftlich erarbeitet worden ist, auch wenn die Aneignung privat geschieht; daß es historisch erworbene Anrechte auf Beteiligung und Sozialstaat gibt; daß die Pflicht des Staates, „für einen erträglichen Ausgleich sozialer Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“, in dieser Republik Verfassungsrang hat. Die deutsche Gesellschaft ist verrechtlicht (schon immer) und – im internationalen Vergleich – egalitär (als Folge der Niederlage von 1945). Wer die beiden Säulen des deutschen Klassenkompromisses, das Arbeitsrecht und den Tarifvertrag, untergraben will, der stößt derzeit noch, bis weit ins Unternehmerlager und die Unionsparteien, auf Granit.

Die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer haben einen schönen Sieg errungen. Einen Sieg in einer Abwehrschlacht. Abwehr ist leichter als Offensive. Man verteidigt das Vertraute. Man kennt die Gegend. Die Angreifer sind im Unrecht. Aber viele solcher Abwehrschlachten kann sich die deutsche Gewerkschaftsbewegung nicht mehr leisten. Der Boden des Schlachtsfeldes selbst – gleichmäßiges Wachstum in allen Bereichen der Gesellschaft, hoher Organisationsgrad – wankt seit Jahrzehnten. Und der Spielraum wird immer kleiner.

Die Erfolge dieses Herbstes machen nur Sinn, wenn sie genutzt werden, um Zeit zu gewinnen. Denn es geht um hinhaltende Verteidigung: des Korporatismus und des vertrauten Sozialstaats. Hinhaltende Verteidigung, lehren die Militärhandbücher, heißt Rückzug auf Linien, die wenigstens eine Weile halten; man gewinnt damit Zeit, sammelt Kräfte für den Gegenangriff. Offensiven sind schwieriger. Man kommt in offenes Terrain. Es gibt mehrere Wege. Man muß selbst das Gesetz des Handelns bestimmen. Man muß unter Beschuß Brücken bauen, über Flüsse, deren Gegenufer man noch nicht kennt. Im Gegensatz zur Verteidigung muß man ein Ziel haben und eine Idee, um die eigenen Truppen zusammenzuhalten.

Wer über die kriegerischen Metaphern den Kopf schüttelt, hat noch nicht gemerkt, daß wieder Klassenkampf ist. Die Sieger der neuen Weltordnung, meinte Robert Reeves dieser Tage mit angelsächsischer Klarheit in der Herald Tribune, sollten nicht vergessen, daß es sich bei den Rechten der Arbeiter und dem Wohlfahrtsstaat „nicht um Geschenke an die Massen handelt, sondern um ein Entgelt dafür, daß sie nicht kommen und uns alle umbringen“.

Die Breschnew-Ära des real existierenden Kapitalismus

McKINSEY-CHEF Herbert Henzler und Lothar Späth haben das Wort von der neuen Klassengesellschaft geprägt. Kurz und knapp handelt es sich um den Gegensatz zwischen denen, die im hochproduktiven Kapitalismus noch Arbeit finden, und denen, die überflüssig werden, die nichts anbieten können, wofür es kaufkräftige Nachfrage gibt, die zunehmend ausgeschlossen werden: von Arbeit, vom Konsum und von Bildungschancen. Und ihre Zahl wächst.

Im Verteilungskampf zwischen Arbeitslosen und Arbeitsplatzbesitzern haben letztere nicht mehr viel abzugeben, dazu war die Umverteilung im industrialistischen Kern der Gesellschaft in den letzten Jahren einfach zu massiv. Von 1980 bis 1994 stiegen die Einkommen der Selbständigen um 126 Prozent, die der Arbeiter um 48 Prozent; die Besteuerung der Unternehmen sank, die der Arbeitnehmer stieg um ein Drittel. Und die relative Verschlechterung im unteren Bereich wird weiter zunehmen, denn die Freisetzungsreserven liegen etwa noch einmal so hoch wie die Zahl der jetzt schon Arbeitslosen.

Aber es geht nicht nur um Geld und Arbeitsplätze; es geht um die Grundlagen der korporatistischen Ordnung. In fast allen Branchen kommt es zur kalten Auflösung der Tarifverträge, zu neuen unkontrollierbaren Formen der Teilzeit- und Leiharbeit, zum Angriff auf die Substanz des Arbeitsrechts durch downsizing und neue Formen der Scheinselbständigkeit. Angesichts des Zerfalls der Unternehmerverbände wird es zwar weiterhin genug zu verhandeln geben, aber demnächst niemanden mehr, der sich daran hält.

Quantitativ ist nichts mehr zu verteilen, und der Mechanismus der Verteilung selbst klappert mächtig, niemand weiß, wie lange er noch halten wird. Wenn sich die Gewerkschaften in den Auseinandersetzungen um 10 Prozent Krankengeld verausgaben, versäumen sie kostbare Zeit zum Aufbau europäischer Arbeitnehmervertretungen – und wenn die nicht kommen, wird es demnächst um Konflikte gehen, angesichts derer Lohnfortzahlungsprozente zu Peanuts schrumpfen. Versäumen sie kostbare Zeit, um im Kern der industrial relations, in der Tarif- und der Arbeitszeitpolitik, neue Wege zu finden. Versäumen sie kostbare Zeit, um die strukturelle Reform aller sozialen Sicherungssysteme zu beginnen, die an das Arbeitsentgelt gebunden sind, um die staatlichen Dienstleistungen zu rationalisieren, ohne neue Ungleichheiten zu schaffen. Buchstäblich alle wissen, daß all dies dringend nottut, aber nichts davon bestimmt wirklich die öffentliche Debatte. Wir sind in der Breschnew-Periode des real existierenden Kapitalismus gelandet, und bislang ist keine Perestroika in Sicht – nicht einmal Glasnost, also das öffentliche Eingeständnis der Regierenden, daß sie neue Werkzeuge brauchen. Statt dessen nur die klassischen Sparappelle und ein ungebrochener Glauben an die wunderbare Kraft des kommenden Wachstums.

Die Atempause, die durch den Erfolg der Herbststreiks erreicht ist, muß von den Gewerkschaften und ihren Verbündeten genutzt werden, um ein neues Gesellschaftsbild zu entwerfen: gegen die neoliberale Vision einer Gesellschaft, die zerfällt in einen Kern von weltmarkttauglichen Höchstleistern, einen Kranz von lokalen Produzenten und ein Schlußdrittel der Gesellschaft, das überflüssig ist und mitgeschleppt wird. Die natürliche Bewegung der Märkte drängt genau in diese Richtung, und allerlei Heftpflaster und Quacksalben werden angeboten, um die Folgen zu beheben, von Billiglohnstrukturen im Bereich der personengebundenen Dienstleistungen über die allgemeine gesellschaftliche Dienstpflicht, um „überflüssige Arbeitskraft abzuschöpfen“, bis zur Stärkung der Familie und zur Schaffung einer Separatgesellschaft für die Überflüssigen, wie es Klaus Haefner (CDU) unlängst vorschlug: Sozialghettos, wo Menschen in Billigwohnungen leben und Lebensmittel und Kleidungsrationen zugeteilt bekommen. Krönender Schlußgedanke: „Wir müssen der Religion wieder nähertreten“ (Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank).

In allen Spielarten dieser Vision bleibt die Akkumulationsdynamik des Kapitals im Kern unbeeinflußt und unbeeinflußbar. Regulierbar sind nur noch die Folgen, sei es durch die Gesellschaft (Kommunitarismus, neue Bürgergesellschaft, Caritas), sei es durch den Staat (ABM, neue soziale Dienste, Dienstpflicht).

Da ist bösartige Fantasie mit im Spiel, und wir Westeuropäer sind noch weit entfernt von jener Hölle einer Industriegesellschaft, in der 20 Prozent die Arbeit tun und 80 Prozent mitgeschleppt werden, stillgestellt mittels „tittytainment“, wie ein amerikanischer Analytiker heute bezeichnet, was man früher „Brot und Spiele“ nannte. Aber gerade deshalb darf die deutsche Gewerkschaftsbewegung ihr eigenes Feldgeschrei gegen den Sozialabbau nicht für die ganze Sache nehmen. Vielmehr muß sie den Waffenstillstand und die Immobilität des Grabenkampfes um Prozente nutzen, um eine große Debatte auf die politische Bühne zu bringen. Um das Abrutschen zu vermeiden, genügt es nicht, sich festzuhalten.

Die Krise des Sozialstaats, der Ökologie, der Arbeitsgesellschaft sind nicht neu. Reformideen gibt es zuhauf. Die meisten wurden in den achtziger Jahren entwickelt und bis zur Trivialität diskutiert – unter dem Slogan: La crise – c'est la chance. Das gilt immer noch, aber wer kann der Öffentlichkeit eine folgenreiche Debatte über den Umbau der sozialen Institutionen aufzwingen, über die Aufgaben der öffentlichen Zukunftssicherung, über das Maß an Gerechtigkeit, das wir uns leisten wollen? Die beiden Volksparteien sind in einen Industrie- und einen Sozialflügel gespalten. Bei Christ- und Sozialdemokraten gibt es Marktliberale und Sozialpolitiker: die einen betreiben die Auflassung des Modells Deutschland, die anderen verteidigen seine Reste. Keine der Parteien hätte die innere Kraft, eine zukunftsorientierte Umverteilung in Gang zu setzen, weg von den individuellen Konsumzuwächsen hin zur gesellschaftlichen Sicherung der Zukunft: zu Bildung, Verkehr, Ökologie, Europa.

Blockiert von den (vermuteten) Ansprüchen ihrer Klienten aus der Mehrheitsmittelschicht spielen sie eine Remispartie nach der anderen. In der SPD gibt Schröder die Parole aus: „Wir machen Industriepolitik, die Grünen sorgen für die soziale Sauce“; Lafontaine murmelt etwas vom europäischen Sozialstaat; Dreßler verteidigt Prozentpunkte, aber nicht einmal eine Bildungsdebatte kann die SPD derzeit vom Zaun brechen.

Während die politischen Parteien auch rhetorisch nichts mehr wagen, sind die „Sozialpartner“ unter dem Druck der Verhältnisse gezwungen, neue Wege zu gehen, zukunftsfähige Lösungen zu erproben. Die IG Metall hat mit dem Volkswagen-Modell gezeigt, daß es möglich ist, Arbeit umzuverteilen und Qualifikation zu erhalten. Die Gewerkschaften – mit dem Rücken an der Wand – sind bereit, die Arbeitsbeziehungen, ja sogar das Arbeitsrecht flexibler zu machen, wenn das Prinzip des collective bargaining, der Verbindlichkeit des Flächentarifvertrages, gesichert bleibt. Im Umkreis der IG-Metall-, ÖTV- und IG-Medien-Führung entstehen politische Visionen einer europäischen Sozialordnung. Hier könnte eine politische Arbeitnehmerorganisation entstehen, die eine neue Debatte über den Wohlstand eröffnet, indem sie gesellschaftliche Aufgaben fordert, die Arbeit schaffen und nicht nur Beschäftigung; die unsere Gesellschaften lebenswerter machen will; die sich in die Bildungs-, Verkehrs- und Ökologiepolitik einmischt. Das geschieht zaghaft, weil die Führung dem Materialismus der Basis mißtraut und die Probe aufs Exempel nicht wagt.

Die produktive Chance Europas

AUCH auf der anderen Seite regen sich die Innovatoren einer vorwärtsgewandten Industriepolitik, die neue nachhaltige Wachstumsimpulse geben könnte, erst zaghaft. Ausgerechnet der von den Gewerkschaften „Rambo der Nation“ apostrophierte Vorstandsvorsitzende von Daimler-Benz griff vor einigen Wochen den Delors-Vorschlag der transeuropäischen Netze wieder auf.

Technologische (und wirklich zukunftsweisende) Großprojekte als Motor der europäischen Einheit und als plausibler Grund für Umverteilung und Wohlstandskupierung – die Vorstellung fasziniert. Aber es ist kennzeichnend für die derzeitige Politikblockade, daß solche Reden gar nicht mehr ernst genommen werden.

Den Kapitalismus nicht nur sozialstaatlich regulieren, sondern dem Fortschritt eine gesellschaftlich gewollte und durch politische Nachfrage definierte Richtung zu geben: das könnte nicht nur Krisen auf dem Arbeitsmarkt lindern. Es könnte auch eine Antwort vorbereiten auf die Frage: Was will denn Europa noch produzieren, wenn das Strömungsgefälle der Globalisierung auch hochqualifizierte Produktionsbereiche wegträgt? Eine solche Industriepolitik, die technologische Vorsprünge erhält, aber eben auch unsere Fähigkeit nutzt, die gesellschaftlichen Folgen der Technologie bei Entwicklung neuer Techniken zu bedenken (kurz: unsere durch Schaden entstandene Klugheit zu verarbeiten) das wäre die zweite Chance Europas.

Die Investitionen, die Neudefinition dessen, was gesellschaftlicher Reichtum ist, die Änderungen der entsprechenden Konsummuster sind wohl nur in einer Dreierkoalition von Kapital, Arbeit und Staat zu induzieren. Im Rahmen eines klassischen, aber nicht länger auf das Aushandeln einer Besitzstandsbalance, sondern auf Modernisierung gerichteten Korporatismus. Reflexive Modernisierung durch reflektierten Korporatismus – das deutsche Modell würde dafür gute Voraussetzungen bieten. Voraussetzung wäre „nur“ der Verzicht auf ideologischen Liberalismus und die verstockte Verteidigung des alten Sozialstaates.

Ob der Rheinische Kapitalismus Europa etwas zu sagen hat, wird vor allem davon abhängen, ob die Revitalisierung der Gewerkschaften gelingt. Denn die sind im Augenblick – weil sie stark und bedroht sind – die wohl wichtigsten handlungsfähigen Organisationen in Deutschland.

Eine politische Erneuerungskoalition ist noch nicht in Sicht; angedeutet ist sie am ehesten in Überlegungen der Kirchen und der Realo-Grünen, die sich vorsichtig auf einen Wahlkampf der Ehrlichkeit zubewegen. „Man muß den Leuten sagen, daß die Zeit der Konsumzuwächse vorbei ist“, sagt Joschka Fischer, und es gehe nun „an die Taschen der Mittelschicht“. Das geht nur, wenn man die Abstiegsängste der Gutverdienenden (also der Mehrheitsmittelschicht) mit überzeugenden Modernisierungskonzepten verknüpft, auch wenn sie teuer sind.

Nur mit neuen Aufgaben kann man die verknöcherten Institutionen umbauen und (Steuer-)Opfer erzwingen. Das Rezept ist nicht neu. Es war die Idee von Roosevelts New Deal: die Mittelschichten schröpfen, um den öffentlichen Reichtum zu mehren und die Gesellschaft mit Glanz moderner zu machen.

Was kann man tun in Stagnationsperioden? Wenig, außer: bereit sein. Oskar Lafontaine zitierte neulich Pierre Bourdieu als Kronzeugen gegen ein Europa à la Bundesbank und für einen europäischen Sozialstaat. Typischerweise schweigen die Intellektuellen in Deutschland beharrlich zu Europa, Globalisierung und Zukunft der Arbeit – und überlassen diese Themen den in ihren Gräben einbetonierten Politikern und dem Tagesjournalismus. Die letzte große Wende nach vorn in diesem Land – die sozialdemokratischen Jahre – kam nur durch eine vorangehende intellektuelle, teilweise utopische Bewegung zustande. Es scheint, daß man die sitzenden und besitzenden Eliten nur mit einer Kombination aus Hunger, Empörung – und Visionen ablösen kann. Neues entsteht aus tiefen, alten Wünschen und akuten Notlagen. Die Notlage haben wir, aber was sind die Wünsche? Was ist die Sonne, was die Freiheit, zu der die Brüder (und die Schwestern) heute streben? „Wir brauchen neue Lieder“, sagte eine junge Gewerkschaftlerin an jenem 1.Oktober in Stuttgart, vor den Toren von Daimler. Wer schreibt sie?

* Freier Publizist in Berlin. Er schreibt gerade an dem Buch „An die Arbeit! Eine Anstiftung zur Politik“ (Rowohlt Berlin 1997).

Le Monde diplomatique vom 13.12.1996, von MATHIAS GREFFRATH