16.01.1998

Leserbriefe zum Thema „Schwarzbuch des Kommunismus“

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Leserbriefe zum Thema „Schwarzbuch des Kommunismus“

In seiner Dezember-Ausgabe veröffentlichte Le Monde diplomatique eine ausführliche Kritik am „Schwarzbuch des Kommunismus“. Daraufhin erhielt die Redaktion in Paris zahlreiche Leserbriefe, ablehnende wie zustimmende. Da die Debatte in Frankreich mit großer Heftigkeit und einem landesspezifischen Tenor geführt wird, drucken wir ausnahmsweise Auszüge aus den Briefen nach.A.B.

Beschämende Wahrheit für die Linke

Alan Lord (Toronto) schreibt:

Man muß nicht unbedingt reaktionär sein, um zu wissen: Wenn man mit den Zahlen von Toten spielt, wird man am Ende zum Apologeten der schlimmsten Verbrechen, die in diesem Falle nicht einfach Verbrechen gegen die Menschheit sind, sondern unfaßbarerweise im Namen ebenjener Menschheit begangen wurden. Aber ich bin nicht Le Pen, sondern ein Sympathisant des Anarcho-Syndikalismus, und werde nie den Vorwurf des „kriminellen Verrats“ vergessen, mit dem Moskau im Spanischen Bürgerkrieg die POUM bekämpft hat. (...)

Da nun einmal der Ruf nach dem guten Dr. Jekyll (Marx) unausweichlich den Auftritt des fürchterlichen Mister Hyde (Stalin) zur Folge hat – nach einem Kausalmechanismus, wie er direkter nicht sein könnte –, ist es doch höchste Zeit, die Lösung anderswo zu suchen. Die ewig beschämende Wahrheit für jeden linken Kämpfer ist doch diese: daß letztlich unter dem Kommunismus mehr Arbeiter umgekommen sind als unter den Nazis. Die Geschichte hat uns gezeigt, daß es keinen Kommunismus ohne Massaker gibt. (...)

Sich von engen Denkstrukturen lösen

Jacques Aupin aus Toulouse meint:

Das Fazit der Artikelserie im Monde diplomatique über die Fälschungen des „Schwarzbuches“ war unerwartet. Ich habe mir das Buch gekauft, weil es so heftig geschmäht wurde. Jahrzehntelang hatte ich Warlam Schalamow, Jewgenija Ginsburg und diverse andere russische Schriftsteller gelesen, die in der UdSSR verboten und in Frankreich bestenfalls geduldet waren (nur wenige Menschen ertrugen es, als „antikommunistische Hunde“ zu gelten, wie seit Sartre das einschlägige Schimpfwort lautet). Nun bin ich doppelt enttäuscht, sowohl von den Ausführungen der Autoren Ihrer Zeitung (Gilles Perrault, Maurice Lemoine und Co.) als auch von Stéphane Courtois und seinem Vorwort des Schwarzbuches. Um aus diesem Nazismus/Kommunismus- Schema in die Wirklichkeit zurückzufinden, habe ich mir alte Bücher hervorgeholt: „Im Banne des Todes“ und „Zinkjungen“ von Swetlana Alexejewitsch. Vielleicht hat Le Monde diplomatique über diese Schlüsselwerke ja berichtet: Sie bieten jedenfalls jenseits von Zahlen und Statistiken genügend Material zum Nachdenken und genügend Gelegenheit, sich von den engen Strukturen der Denk- und Gefühlswelten unserer Intelligenzija zu emanzipieren.

Nach der Lektüre der verschiedenen Artikel in Ihrer Zeitung möchte man sich die Publikation einer Enzyklopädie wünschen, in welcher alle totalitären Irrtümer aufgenommen sind, vergangene, gegenwärtige ... wie zukünftige, denn die Strukturen sind in allen Längen- und Breitengraden nach wie vor unerschüttert, von dem spanisch-christlichen Völkermord in Lateinamerika über die blutigen Irrwege der Maoisten in Tibet bis hin zu unserer heutigen verbrecherischen Blindheit gegenüber dem Unglück von Millionen Mitmenschen.

So ziselieren die Goldschmiede der Dialektik die subtilsten Unterscheidungen und Klassifizierungen, die doch nur jeden von uns in der Sicherheit all seiner Vorlieben wiegen, welche im Labyrinth des Unbewußten wurzeln. Natürlich gibt es nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion Vergangenheitsnostalgie, sondern auch im heutigen Deutschland, im Argentinien eines Carlos Menem und so weiter. Ein jeder von uns besitzt seine eigene Nostalgie, entsprechend den kleinen und großen Wohltaten, derer er in der Vergangenheit teilhaftig wurde.

Kommunismus als Staatskapitalismus

Claude Bitot, Autor des Buches „Der Kommunismus hat noch nicht begonnen“, betont den Stellenwert der forcierten Industrialisierung, die für Länder wie Rußland eng mit dem Kommunismus verbunden ist und auf die schon Nicolas Werth hinwies.

Die Ereignisse in der UdSSR und im China des 20. Jahrhunderts sind in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit der grausamen Geschichte der Entstehung des industriellen Kapitalismus. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: Dieselbe Entwicklung, die sich im Westen über mehrere Jahrhunderte hinzog, hat in der UdSSR und China binnen zwanzig, dreißig Jahren stattgefunden. Während sich im Westen eine ursprüngliche Akkumulation im Namen Gottes, der Überlegenheit der weißen Rasse oder auch nur im Dienst des Fortschritts und der Wissenschaft vollzog, geschah es in China oder in der Sowjetunion im Namen des „Kommunismus“.

Ursprung dieser Mystifizierung ist der Versuch der Bolschewiki, in einem zurückgebliebenen Land wie Rußland, in welchem die materiellen, sozialen und geistigen Bedingungen keineswegs einheitlich waren, eine proletarische (also kommunistische) Revolution durchzuführen. (...) Von diesem Zeitpunkt an häuften sich die Schwierigkeiten, und die Revolution war zum Scheitern verurteilt. Dieses Scheitern vollzog sich in Form einer bürokratischen Degenerierung, in deren Gefolge eine neue herrschende Ausbeuterklasse entstand. Diese nutzte ihre Machtposition im Staate, eroberte das gesamte kommunistische Projekt und verwandelte es in eine beliebige Ideologie. (...)

Der Kommunismus, der einmal als Emanzipationsgedanke einer ausgebeuteten Arbeiterklasse angetreten war, muß sich heute Verbrechen an Millionen Menschen vorhalten lassen, was heißt, daß er nie etwas anderes war als eine ideologische Fantasmagorie: Tatsächlich haben die vorgeblichen Kommunismen nichts anderes hervorgebracht als eine andere Form des Kapitalismus – den Staatskapitalismus.

Die Mär vom humanistischen Terror

Gabriel Mollier (Valence), der „aktiv für die Unabhängigkeit von Le Monde diplomatique“ eingetreten ist, unterstützt generell die „kritische Haltung der Zeitung gegenüber dem Liberalismus, zumal sie das, was sich weltweit als Sozialismus ausgibt, nicht als umfassend positiv einschätzt und der Weg des Stalinismus für sie nicht historisch unausweichlich war“. Jedoch widerspricht er insbesondere dem Artikel von Gilles Perrault und nimmt dessen Argumente nacheinander unter die Lupe:

1) Ursache für die Exzesse der Unterdrückung seien die Besonderheit der einzelnen Völker sowie die jeweiligen historischen Umstände (...). Auf die gleiche Weise wurde nach 1956 der Stalinsche Terror erklärt, wobei man sich damals auf das zaristische Erbe berief.

2) Die permanente Zunahme der Staatsgewalt gehe zurück auf die Umzingelung durch den (Klassen-)Feind (...). Ist es nicht vielmehr so, daß die „kommunistischen“ Diktaturen diese Psychose in großem Umfang selber in die Welt setzten, um ihre Macht zu zementieren?

3) Der „Kommunismus“ sei zu entlasten, weil der Kapitalismus schließlich um keinen Deut besser, eher noch schlimmer sei (...). Seit wann kann man ein Übel mit einem anderen rechtfertigen? Sind die Revolutionäre nicht gerade mit dem Anspruch angetreten, die Übel des kapitalistischen Systems zu beseitigen?

4) Schließlich sei der „Kommunismus“ im Unterschied zum Nazismus angeblich nicht grundsätzlich pervers (...). Hier wird unterstellt, daß die stalinistischen Diktatoren, ihre Helfershelfer, Folterknechte und fleißigen Beamten ein humanistisches Ideal besaßen. Aber wer war schließlich die wichtigste Zielgruppe des Terrors? Die Revolutionäre, die den kommunistischen Idealen treu geblieben waren.

All diese Argumente sind nur Spitzfindigkeiten, die bereits x-mal wiedergekäut wurden (...). Doch es gibt eine grundsätzliche Kritik an den Autoren des „Schwarzbuchs“, nämlich die ungerechtfertigte Verwendung des Wortes „Kommunismus“: Zur Bezeichnung von Regimen, in denen unter der Herrschaft einer Partei in kürzester Zeit das revolutionäre Ideal derart verraten wurde, ist der Begriff „Kommunismus“ unsauber. Das „Schwarzbuch“ ist ein Schwarzbuch des Stalinismus, auch wenn Stalin nicht der einzige war, der für die in dem Buch genannten Verbrechen verantwortlich ist.

Der gefährliche Glaube an das Gute

Frau Leula Koriakina kommt auf die Ursprünge des Kommunismus zurück:

Der Kommunismus ist eine der größten Utopien in der Geschichte der Menschheit. (...) Jede Praxis ist vielfältiger, komplexer und widersprüchlicher als ein noch so genialer Entwurf. Alle Versuche, maximalistische Idealgebilde energisch umzusetzen, haben unausweichlich Gewalt hervorgebracht und Opfer gefordert. (...)

Der Terror und die Massaker der Sowjetzeit erinnern mich an die Inquisition, als man die Menschen um der Liebe Gottes willen auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Für mich gibt es sehr wohl eine kommunistische Gefahr: Der Glaube an das Gute, das absolute, unendliche, gemeinsame und gleichbleibende Gute war schon immer eine Gefahr und wird es auch in Zukunft bleiben. (...) Doch die Lage ist noch schlimmer: Der Kommunismus nämlich glaubt, daß man dem Menschen gegen seinen Willen zu seinem Glück verhelfen muß, und dies, wenn nötig, unter Einsatz von Gewalt. Gleichzeitig ist der Glaube an das Gute aber auch eine der reinsten und schönsten Ideen, die die Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat. Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.

Le Monde diplomatique vom 16.01.1998