15.05.1998

Völker, stört die Signale!

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Völker, stört die Signale!

KANN man das politische, soziale und kulturelle Gebäude, das der Wirtschaftsliberalismus geschaffen hat, verändern? Oder sind die Bürger dazu verdammt, in dem derzeitigen wirtschaftlichen Schreckensszenario auszuharren, ohne ausbrechen zu können? Gibt es denn keine neuen Wege, die man einschlagen könnte, um wieder zum Wert des Gemeinwohls zurückzufinden?

Immer mehr Menschen in Nord und Süd meinen, daß das Maß inzwischen übervoll ist. Daß man in dieser von einer unmenschlichen Wirtschaft geprägten Welt nicht mehr länger leben kann. Daß die Flutwellen der Egoismen schon zu lange die Grundpfeiler der Ethik unterspülen. Nach dem Nationalstaat und dem Sozialstaat ist nun – im Zuge der Allgemeinherrschaft der Marktgesetze – die Gemeinschaft der Bürger selbst von Auflösung bedroht. Und die Zerstörung betrifft in der Tat die Gesamtheit der sozialen Zivilisation, die im Laufe der vergangenen zwei Jahrhunderte errichtet wurde. Ein gemeinsamer Aufbruch wird unausweichlich.

Nach einer notwendigen Zeit der Beobachtung und der Benennung der neuen Probleme, die durch den Fall der Mauer und den Zusammenbruch der Sowjetunion neue Aspekte gewannen, zeichnet sich heute die Kritik immer deutlicher ab: Wir beschrieben das „Einheitsdenken“, die „globalitären“ Regime, die zunehmende Vorherrschaft des Finanzsektors in der Wirtschaft und das Wegbrechen des Südens ebenso wie die allgemeine Unsicherheit der sozialen Lage und die Manipulation des Denkens. Auf diese Weise haben wir in der Vergangenheit außerordentlich wichtige Informationen, die die großen Medien ihren Lesern vorenthalten hatten, einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Doch wie konstruktiv die Kritik auch sein mag – wenn man sie endlos fortsetzt, läuft man Gefahr, sich zu wiederholen und leerzulaufen. Daher sind heute Vorschläge vonnöten – heute, da wir die Jahrestage von bedeutenden historischen Gründungsakten begehen, die für die jeweilige Epoche prägend waren und machtvoll in die Zukunft wiesen: das Erscheinen des „Manifests der kommunistischen Partei“ von Karl Marx und Friedrich Engels im Januar 1848, die Februarrevolution 1848 in Frankreich und den „Frühling der Völker“ in Europa; schließlich die beeindruckenden Revolten von 1968 in Paris, Berlin, Rom und Prag.

Ebenso wie damals suchen die Bürger heute nach einem globalen Gegenprojekt, einer Art Utopie, die in der Luft liegt. Man könnte sich fragen, ob das vernünftig ist, denn die bisherigen Utopien sind in ihrer Mehrzahl in Diktatur, Repression und Lüge untergegangen. Dennoch. Entgegen dem derzeitigen Gerede von der Notwendigkeit, sich anzupassen, suchen viele Bürger nach einem möglichen „Miteinander-Handeln“, und sei es nur, daß sie als erstes ein Körnchen Menschlichkeit in das Getriebe der neoliberalen Maschine streuen. I. R.

Siehe unser Dossier auf den Seiten 3 bis 8

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von I.R.