15.05.1998

Israel braucht den Palästinenserstaat

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Israel braucht den Palästinenserstaat

Von SCHIMON PERES *

ALS Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, den Satz prägte: „Ein Volk ohne Land sucht ein Land ohne Volk“, wußte er noch nichts von der Existenz einer arabischen Bevölkerung in Palästina und ihrer künftigen Entwicklung. Seine Vision – die einzige Utopie, die im Nahen Osten jemals Wirklichkeit geworden ist – hat zu einer nationalen Unabhängigkeit geführt, die alles überstieg, was er sich je hätte erträumen können.

Ein verstreutes, fast verlorenes Volk sammelte sich, um neu zu erstehen. Es kehrte in sein angestammtes Vaterland zurück und hauchte ihm neues Leben ein, es ließ die Sprache der Vorväter wieder aufleben und machte sie zu einer lebendigen Sprache. Es siegte in fünf Kriegen, obwohl es an Truppen und Waffen unterlegen war. Es schuf neue Formen des Zusammenlebens (den Kibbuz, den Moschav, die Aufbausiedlung), und es entwickelte ein Staatswesen, in dem die demokratischen Rechte eingehalten wurden – selbst in Kriegszeiten. Es baute ein unabhängiges Rechtswesen auf, es schuf ein beeindruckendes Bildungssystem, und es setzte in Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungssektor Entwicklungen in Gang, die den Vergleich mit den Industrienationen nicht zu scheuen brauchen. Wenn es für den Holocaust überhaupt eine Wiedergutmachung geben kann, dann besteht dieser Ausgleich im Staate Israel.

Aber ein entscheidendes Ziel ist bislang nicht erreicht worden – ein umfassender Friedensschluß mit den arabischen Nachbarn. Die ungelöste Palästinafrage – der Vorwand für die Angriffe gegen Israel – bedeutet bis heute die größte Gefahr für die Sicherheit des Landes. Eine eventuelle Lösung wird sich an der wahren Größenordnung des Problems ausrichten. Aber aufgrund der Geschichte des Konflikts, der räumlichen Nähe zu den arabischen Ländern und der zahlenmäßig bedeutenden palästinensischen Exilbevölkerung in diesen Ländern droht das Ausbleiben einer Lösung einen Flächenbrand zu entfachen, der die geographische Größenordnung des Problems überschreitet.

In Oslo haben wir den Versuch unternommen, die israelisch-palästinensische Aussöhnung einzuleiten. Die Vereinbarungen mit den Palästinensern waren von grundsätzlich anderer Art als die Abkommen mit Ägypten, die (vor Oslo) in Camp David geschlossen wurden, und der Friedensschluß mit Jordanien, der nach Oslo zustandekam: dort hatten wir es mit bereits bestehenden Staaten zu tun. In Oslo haben wir ein Verfahren vereinbart, das zum Frieden mit den Palästinensern führen soll, aber zugleich wurden die Palästinenser als eigenständiges Volk anerkannt, ebenso wie die Notwendigkeit, diesem palästinensischen Volk den Weg zu einer Unabhängigkeit zu ermöglichen, die sie in der Geschichte des Nahen Ostens noch nie besessen hatten. Hier ging es also nicht mehr um ein Abkommen über bereits Bestehendes, sondern in Oslo entstand etwas Neues.

Oslo bedeutete den Entschluß, eine ernsthafte Aussöhnung mit den Palästinensern zu beginnen. Sie erlangten dabei die Anerkennung ihrer nationalen Würde, während Israel sich von einer moralischen Last befreite, die es vor dem Hintergrund seiner Geschichte als bedrückend empfand: Daß Israel das Schicksal eines anderen Volkes bestimmt, widerspricht unserem historischen Selbstverständnis und empörte die Palästinenser – damit sollte endgültig Schluß gemacht werden.

Überflüssige Maginotlinien

GERADE damit Israel ein jüdisches Land bleibt, in bezug auf seine Bevölkerung und seine Grundwerte, muß Israel daran gelegen sein, daß es einen palästinensischen Staat gibt. Heute leben 4,7 Millionen Juden und vier Millionen Araber zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Wenn es nicht zur Existenz zweier getrennter Staaten kommt, dann wird zur großen Enttäuschung beider Völker ein binationales Staatswesen geschaffen, und dies bedeutet den Beginn einer Tragödie für beide Nationen, denn Israel wird gezwungen sein, den Palästinensern weiterhin bewaffnet gegenüberzutreten, die auf eine solche bittere Erfahrung erneut mit Terrorismus antworten könnten.

Zugleich ist die Aufteilung des Territoriums zwischen den beiden Völkern äußerst kompliziert. Das Land zwischen Mittelmeer und Jordantal umfaßt 24000 Quadratkilometer. Die dort lebende Bevölkerung, derzeit neun Millionen, wird sich in zwanzig Jahren verdoppelt haben und um die zwanzig Millionen betragen; die Hälfte davon (wenn nicht mehr) werden Araber, die andere Hälfte werden Juden sein. Ob nun die Araber den größten Teil jener Gebiete bekommen, die sie fordern (etwa 20 Prozent des gesamten Territoriums zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer), oder ob Israel den größten Teil des Landes behält – beide Bevölkerungen werden viel zuwenig Land haben, um eine Selbstversorgung mit Agrarprodukten zu gewährleisten. Auch hier eine paradoxe Situation: Israel muß an der Entstehung einer modernen palästinensischen Wirtschaft interessiert sein, die den palästinensischen Einwohnern ein angemessenes Einkommen sichert.

Es darf nicht dazu kommen, daß sich zwei Volkswirtschaften auf unterschiedlichem Niveau herausbilden – auf der einen Seite die arme arabische Ökonomie, die billige Arbeitskräfte bietet, und auf der anderen Seite die reiche israelische, die davon profitiert. Durch ein solches Auseinanderstreben der Entwicklungen könnte aus einem nationalen Konflikt eine sozioökonomische Auseinandersetzung werden. Um eine sozial gerechte Zukunft zu sichern, müssen zwei getrennte Staatswesen geschaffen werden, auf deren Zusammenarbeit sich eine künftige moderne Wirtschaft gründen läßt. Israel muß daran gelegen sein, daß der Palästinenserstaat modern, demokratisch und wirtschaftlich erfolgreich ist.

Bleibt noch immer die Frage der Grenzen: Je nach Beschaffenheit dieser Grenzen kann ihr Verlauf auf einfache oder komplizierte Art bestimmt werden. In der heutigen Welt haben die zwischenstaatlichen Grenzen allerdings viel an Bedeutung eingebüßt. Gegen die Macht der Wirtschaftsströme bieten Grenzen keinen Schutz, denn die Wirtschaft ist global geworden, und sie stützt sich auf Wissenschaft und Technologie, die keine nationale Eigenheit mehr besitzen. Märkte sind wichtiger als Staaten, und die Beteiligung an diesen Märkten erfolgt mittels des Wettbewerbs, für den es keine Grenzen gibt. Ein Blick auf die neuen internationalen Zoll- und Handelsabkommen zeigt dies deutlich.

Grenzen taugen auch nicht mehr dazu, bewaffnete Übergriffe zu verhindern, denn schließlich helfen sie gegen Raketen so wenig wie gegen Terroristen. Und Maginotlinien verlieren jede Wirkung, denn eine Rakete, die chemische oder biologische Kampfstoffe oder gar einen Nuklearsprengkopf trägt, nimmt nicht den Landweg.

Ganz offensichtlich gibt es auch für Fernsehsendungen keine Grenzen mehr. Das Wissen der Jugendlichen stammt heute zu 90 Prozent vom Bildschirm, nur die übrigen 10 Prozent lernen sie in der Schule. Und das gilt für arabische und israelische Jugendliche ebenso wie für französische oder japanische.

Es hat also keinen Zweck, die Grenzen zu verminen. Statt dessen sollte man sie in Zonen der Kooperation verwandeln und darauf Flughäfen, Hotels, Industrieparks oder sogar Erholungsstätten bauen. Es ist besser, die Völker schließen miteinander Bekanntschaft, als daß ihre Armeen gegeneinander aufmarschieren – so gesehen könnte sich erweisen, daß Hotelanlagen auf Grenzgebieten mehr Sicherheitsgarantien bieten als Militärstützpunkte.

Der Frieden ist nicht die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Der Frieden bedeutet, daß an die Stelle der Geschichte, die in blutroter Farbe geschrieben wurde, eine neue Geschichte tritt, die in der grünen Tinte der Verträge geschrieben wird, damit die nächste Generation neue Perspektiven und eine höhere Lebenserwartung hat und neue Freude am Leben gewinnen kann.

Der Staat Israel besteht nun seit fünfzig Jahren. Ich habe gerade ein Buch fertiggestellt, in dem ich mit Theodor Herzl eine imaginäre Rundreise durch das Land unternehme, das er sich erträumte – er ist völlig begeistert über das, was er sieht. Es ist nun Zeit, einen Fehler wiedergutzumachen, den wir begangen haben. Wir haben auf die Existenz eines anderen Volkes keine Rücksicht genommen, und da wir nun einmal Seite an Seite mit ihm leben, haben wir alle Gründe der Welt, jene geschichtliche Wende zu vollenden, die wir eingeleitet haben: Es muß gelingen, mit dem Nachbarn – einem guten Nachbarn – neue Beziehungen zu knüpfen und auf diese Weise einen umfassenden Frieden im Nahen Osten zu stiften – zum Wohle der ganzen Welt.

dt. Edgar Peinelt

* Ehemaliger israelischer Premierminister, Träger des Friedensnobelpreises.

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von SCHIMON PERES