12.06.1998

Politik des Verbrechens in Bombay

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Politik des Verbrechens in Bombay

Von JEREMY SEABROOK *

BOMBAY, die Hauptstadt des Bundesstaates Maharashtra, ist Indiens bedeutendstes Handelszentrum. Doch über die Hälfte seiner Bevölkerung, meist zugewanderte Landarbeiter, leben in elenden Hütten – in Bombay herrschen Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Eine Politik des sozialen Ausgleichs wird nicht versucht, statt dessen findet der Zerfall der sozialen Ordnung seinen Ausdruck in der Zunahme außergerichtlicher Polizeimaßnahmen, die sich als blutige Gemetzel erwiesen haben: 150 Tote gab es in den letzten drei Jahren bei solchen „Zusammenstößen“.

Praktiken, die bislang vor allem aus den nordöstlichen Bundesstaaten wie dem Punjab oder Kaschmir bekannt waren, wo militante Gruppen und die Polizei oder das Militär aufeinandertrafen, sind offensichtlich inzwischen auch in Bombay üblich. Hintergrund ist hier die extreme Form von „Selbstverwaltung“, die von Shiv Sena und der Bharatiya Janata Party (BJP) praktiziert wird: Dabei geht die Kriminalisierung der Politik mit einer – wenn man so will – Politisierung des Verbrechens einher. Bei jedem neuen Mord beruft sich die Polizei auf Notwehr und behauptet, die Gegner hätten das Feuer eröffnet – das Gesetz erlaubt den Ordnungskräften nämlich den Waffeneinsatz gegen jeden, der einer Tat verdächtig ist, die mit der Todesstrafe geahndet wird. Allerdings läßt es sich kaum noch mit dem Zufall erklären, wenn es immer mehr Tote gibt, ohne daß jemals ein Polizist getötet oder auch nur verletzt wird.

Die regierenden Politiker von Shiv Sena und BJP haben sich stets hinter die Polizei gestellt. Noch nie wurde ein Polizeioffizier verhört oder vor Gericht gebracht. Tatsächlich mißbraucht die regierende Partei, in Komplizenschaft mit der Polizei, die staatlichen Institutionen, um sich ihrer Rivalen zu entledigen.

Das Komitee zum Schutz der demokratischen Rechte (Committee for Protection of Democratic Rights, CPDR) hat in einer Eingabe beim Obersten Gerichtshof gefordert, die Exekutive daran zu hindern, sich an die Stelle der Justiz zu setzen. P. A. Sebastian, Anwalt und Generalsekretär des Komitees, ist der Ansicht, daß sich ein beträchtlicher Teil der politischen Elite kriminalisiert hat. „Sie benehmen sich wie Gangster“, erklärt er. „Die Shiv Sena selbst ist die wichtigste kriminelle Organisation der Stadt. Jede shakha (Parteisektion) treibt Geld ein, fordert Schutzgelder von den Geschäften und Unternehmen in dem von ihr kontrollierten Gebiet, und aus Angst vor Repressalien protestiert natürlich niemand.“

Bal Thackerey, der starke Mann der Shiv Sena in Bombay, duldet keinerlei Einschränkung seiner Macht. Wer ihm im Weg ist, muß weichen, auch wenn es ein Verbündeter von gestern ist. Vor fünf Jahren hatte sich Thackerey bei einer Versammlung im Shijavi-Park für seinen Freund Arun Gawli eingesetzt, den er als „Helden“ bezeichnete und als die Antwort der Hindus auf die berüchtigte muslimische „Gang“ von Dawood Ibrahim vorstellte. Doch Arun Gawli stieg langsam immer höher auf in der Hierarchie der Shiv Sena und wurde so populär, daß ihn Thackeray schließlich als Rivalen betrachtete – und verantwortlich machte für die Morde an einem Abgeordneten und einigen führenden Politikern der Shiv Sena.

„1996 wurde Jayant Jadhav ermordet“, fährt Sebastian fort. „Der junge Mann stand Thackeray und seiner Familie sehr nahe, er galt als seine graue Eminenz, sein Kronprinz. Und er hatte eine Menge Geld gemacht. Da Thackeray Gawli in Verdacht hatte, Drahtzieher dieses Mordes zu sein, erklärte er ihm den Krieg.“ Gawli hatte zudem eine neue politische Partei gegründet, die Akhil Bharatiya Sena, die Shiv Sena viele tausend Wählerstimmen kostete.

Die Hintermänner bleiben ungestraft

NACH Ansicht von Sebastian benutzt Shiv Sena den Staatsapparat, um ihr Zurückbleiben hinter Gawli und den ehemaligen Verbündeten wieder wettzumachen. Zwei von Gawlis engen Mitarbeitern wurden bei einem „Zusammenstoß mit der Polizei“ getötet, und Sada Pawle, seine „rechte Hand“, ist von Vijay Salaskar umgebracht worden, dem stellvertretenden Polizeiinspektor und „Spezialisten“ für solche Zusammenstöße. Allein dieser Offizier hat zwischen Januar und September 1997 vierzehn Personen umgebracht. Gopinath Munde, Vizeminister von Maharashtra, vertritt die Ansicht, daß „die Menschenrechtsvertreter die Polizei demoralisieren“, und behauptet, die Regierung habe die Zusammenstöße weder angeordnet, noch werde sie die Polizei auffordern, sie zu vermeiden. „Es handelt sich dabei nicht um Kriminalitätsbekämpfung“, meint wiederum Sebastian, „sondern um einen brudermörderischen Kampf zwischen zwei Gruppen von Kriminellen.“

Nach Ansicht der Mittelschichten werden Recht und Ordnung täglich mit Füßen getreten. Die Polizei verliert dabei an Ansehen und muß reagieren: Paradoxerweise sind die „Zusammenstöße“ Teil ihrer Strategie, die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Angenommen, ein renommierter Makler wird im Zusammenhang mit einem Konflikt um Immobilien ermordet, so fahndet die Polizei nach denjenigen, die den Finger am Abzug hatten, aber nicht nach den Auftraggebern. Sie beseitigt die Handlanger und behauptet, in Notwehr gehandelt zu haben. Das Ganze geschieht ohne Zeugen, doch die Öffentlichkeit gibt sich zufrieden, und das Ansehen der Polizei ist wiederhergestellt.

1995 wird Ramdas Nayak, Vorsitzender der BJP in Bombay, im Vorort Bandra ermordet. Die Polizei reagiert unverzüglich und erschießt ein paar Gangster. Kurz nach Nayaks Tod geht Sebastian zur Polizei. „Mir gegenüber saß ein Polizeioffizier“, erzählt er, „und auf dem Tisch lagen drei Fotos. Ich fragte, was darauf zu sehen sei. Der Offizier sagte: ,Das sind die Leute, die Nayak umgebracht haben.' Und in einem Augenblick seltener Offenherzigkeit setzte er hinzu: ,Als Vorsitzender der BJP in Bombay bekam Nayak seinen Prozentsatz auf alle Schmuggelware. Eines Tages hat er eine Erhöhung gefordert. Anstatt zu zahlen, hat man ihn um die Ecke gebracht.'“

So verkürzt sich das Leben mancher bekannter Bürger, weil sie Teil krimineller Netzwerke sind, während die Öffentlichkeit davon ausgeht, daß ein solches Verschwinden eben zu den Risiken der Berühmtheit gehört. Gulshan Kumar, 1997 ermordet, hatte sein Geld mit dem Verkauf von Kassettenaufnahmen von Sängern gemacht, die berühmte Künstler wie Lata Mangeshkar oder Mohammad Rafiq imitierten oder populäre Hindu-Chansons sangen. Imitationen also, nichts wirklich Illegales. Doch Kumar gründete nach diesem Prinzip eine Band, die sich als sehr profitabel erwies. Einige Leute aus der Musikszene waren der Meinung, sie schade ihrem Umsatz und ihrer Karriere. Auch Kumar war Mitglied der BJP.

Auch Bombays Filmindustrie bewegt sich Sebastian zufolge zum großen Teil in der Illegalität. Das Geld, das dort im Umlauf ist, ist dunkler Herkunft, Schwarzgeld, das von kriminellen Organisationen geliehen und wieder zurückgezahlt wird, ohne Spuren zu hinterlassen.

Ein weiteres Attentat im Mai 1997: Das Opfer ist Datta Samant, Veteran der Gewerkschaftsbewegung in Bombay (und einer der Führer der berühmten Streiks der achtziger Jahre). Der Polizei zufolge ist er von einer Gang umgebracht worden, im Auftrag eines gewissen Guru Sattam, der in Hongkong lebt und dafür 500000 Dollar bezahlt haben soll. Kurz darauf werden vier Jungen im Alter von 18 bis 19 Jahren festgenommen, die nach Meinung der Polizei den Mord begangen haben. Jeder von ihnen soll 250 Dollar bekommen haben, aber die Polizei zeigt sich unfähig, bis zu den Auftraggebern vorzudringen. Einem Gerücht zufolge sollen sie im Umkreis von Premier Automobiles zu finden sein, ein Unternehmen, in dem Samant gewerkschaftlich aktiv war.

Die Justiz diskreditieren

POLIZEI und Politiker haben auf diese Weise ein Netz aus Korruption und Geheimnissen gesponnen, das sich der Untersuchung entzieht. In Bombay wird geschwiegen, zumal die Protagonisten weder für eine bestimmte Sache noch für ein Ideal kämpfen. Es geht schließlich nur um Geldbeträge – eine fremde Welt für die Armen und die Arbeitslosen in der Stadt.

Tatsächlich ziehen Politiker und Polizisten an einem Strang, wenn es darum geht, die Justiz zu diskreditieren. Ihrer Ansicht nach ist sie zu liberal, zu langsam und ineffizient, sie läßt zu viele Kriminelle aus Verfahrensgründen frei. Das Pendant zu dieser Verleumdungskampagne ist selbstverständlich die Rechtfertigung der „Zusammenstöße“, dieser Morde, die sich der Justizgewalt entziehen.

Was in Bombay vor sich geht, ist nichts anderes als der Zerfall des Rechtsstaats, gedeckt durch eine Regierung, deren Führer seine Bewunderung für Hitler kundtut und den Muslimen das Recht verweigert, auf indischem Boden zu leben.

dt. Sigrid Vagt

* Britischer Schriftsteller, Verfasser von „In the Cities of the South“, London (Verso) 1996, auf deutsch erschien u. a. „Preisgegeben“, zusammen mit Michael O‘Neill, Berlin (Bloch) 1970.

Le Monde diplomatique vom 12.06.1998, von JEREMY SEABROOK