12.06.1998

Stillstand auf höchstem Niveau

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Stillstand auf höchstem Niveau

■ GESELLSCHAFTEN kollabieren nicht, sie erodieren. Immer noch verändert sich die deutsche Lebenswelt diskret: Wohlstandsjogger stolpern in gepflegten Parks über Penner, unauffällig schaffen Polizisten die Bettler aus den Einkaufsmeilen, vor den Jugendstilhäusern im Berliner Westen spielen Akkordeonisten – wo immer die 6 Millionen faktisch Arbeitslosen stecken, ob sie verzweifeln oder schwarzarbeiten: diese Gesellschaft ist vor allem immer noch zu reich, um eine Krise des Bewußtseins zu produzieren.

Von MATHIAS GREFFRATH *

Aufgeklärt und zynisch geht eine Epoche zugrunde: Immer weniger Menschen sind von der Zukunftsfähigkeit des Modells Deutschland überzeugt. Allenthalben wird das skandalöse Mißverhältnis von explodierenden Aktienkursen und steigendem Arbeitslosenpegel beschworen; 63 Prozent der Deutschen sind überzeugt, daß man nur noch durch Steuerhinterziehung oder Erbschaft reich werden könne und die Regierung sich ausschließlich am Wohl der Reichen orientiere, nur 27 Prozent glauben an harte Arbeit und Sparsamkeit – und doch bekennen in derselben Umfrage 76 Prozent, daß es ihnen finanziell gutgehe. Deutschland, nach wie vor Exportweltmeister, mit 3,5 Prozent Produktivitätszuwachs im letzten Jahr wohl aufgerüstet für den Euro, stagniert politisch und moralisch auf höchstem materiellem Niveau.

Stagniert? Was aber ist mit den Rechtsradikalen? Mit den 13 Prozent, die Ende April in Sachsen-Anhalt eine Partei wählten, die nur mit Plakaten warb – gegen „Asylbetrüger“ und „kriminelle Ausländer“ und mit der Botschaft „Protest wählen“? Das sei die Folge von vierzig Jahren Kommunismus, riefen die CDU-Sprecher; eine Folge der gebrochenen Kanzlerversprechen, sagten die Sozialdemokraten; und die PDS – auf dem Weg, eine respektierte, linke Ost-SPD zu werden – diagnostizierte die Quittung für Raubkapitalismus und westliche Arroganz. Von all dem ist etwas richtig. Die Angst vor dem „braunen Sumpf“ ist verständlich – in einem Land, dessen Kanzler eben nicht selbstverständlich auf geschändeten jüdischen Friedhöfen und vor abgebrannten Türkenhäusern zur Stelle ist. Doch diese Angst vor alten Nazis und Hakenkreuzen auf Glatzen verstellt den Blick auf die neue, brisantere Mischung, die sich hinter der bunten Truppe rechtsradikaler Traditionsparteien – NPD, DVU, „Republikaner“ – zusammenbraut. Nicht ein Neonationalsozialismus ist die wirkliche Gefahr, sondern die Entstehung einer nationalkapitalistischen Opposition: gegen Migranten, Multikulturelle Gesellschaft, „Kriminalität“, Europa. Die Wählergruppe der DVU – jung, männlich, Arbeiter, von Arbeitslosigkeit oder Abstieg bedroht, Opfer des schlanken Kapitalismus – ist kein Ostphänomen. Der Osten zeigt dem Westen die Zukunft. In den Abgewickelten der alten DDR können die Ausgeschlossenen des real existierenden Turbokapitalismus im Zeitalter seiner rasanten Beschleunigung ihre Zukunft erkennen: Arbeitslose, Jugendliche ohne Chancen, Frührentner, Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen – das Fünftel der Arbeitsbevölkerung, das von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe lebt – und im Vergleich zu den Beschäftigten mancher anderer westeuropäischen Länder immer noch recht gut lebt. Dazu kommen die vom Abstieg bedrohten Facharbeiter und Angestellen, die parteilos gewordene SPD-Klientel. Noch ist der Aufstand der Überflüssigen latent – in den 13 Prozent von Magdeburg wird er zur Möglichkeit.

Zu kurz greifen deshalb die Bonner Reaktionen auf die Radikalisierung des Ostens: Die 600000 bis zum Herbst befristeten ABM-Stellen, von der Bonner Koalition an die Wahlfront geworfen, werden die Stimmung nicht ändern: zu sehr haben die „Ossis“ inzwischen die Schmiermechanismen des Parlamentarismus verachten gelernt. Gefährlich ist vor allem die taktische Anbiederung an die Themen der Rechten: Einen Wahlkampf gegen Kriminalität und Asylmißbrauch kündigte Finanzminister Theo Waigel noch am Wahlabend an; Kanzler Kohl warnte die Ausländer davor, das „Gastrecht“ zu mißbrauchen; und auch SPD-Kanzlerkandidat Schröder hatte schon im vergangenen Jahr gefährlich an der Grenze zwischen Ausländern und Kriminellen herumgezündelt. Noch sind es nur 3000 NPD-Mitglieder, die am 1. Mai in Leipzig, in atavistischer Rhetorik, für einen „Sozialismus ohne Multikulturalismus“ demonstrierten, aber die taktische Reverenz an provinzielle Ausländerfeindschaft und der nationalkapitalistische Populismus könnten, bei anhaltend schlechter Wirtschaftslage, den vulgärökonomischen Rassismus verstärken und zur politischen Gefahr machen.

Vor allem aber verhindert der opportunistische Reflex auf die Ängste der Modernisierungsverlierer eines, daß nämlich die Politiker ihnen erklären: Ja, wir gehen in eine schwierige, anstrengende Zeit; ja, wir sind neuen Menschen, neuen Schwierigkeiten, neuen Zumutungen ausgesetzt – aber es geht nicht anders, und es gibt solidarische Wege. Die Feigheit der politischen Eliten vor der Zukunft sorgt dafür, daß auch die nächste Bundestagswahl nicht zu einer Entscheidung über die Zukunft des Modells Deutschland wird, zu einer wirklichen Auseinandersetzung über „zwei grundlegend verschiedene Zukunftsentwürfe“, wie der SPD-Vorsitzende Lafontaine es noch im vergangenen Jahr gefordert hatte: zu einer Entscheidung zwischen einer Strategie der nationalen Standortsicherung (bei gleichzeitiger Ausgrenzung eines Drittels der Bevölkerung) einerseits und einer rot-grünen Politik andererseits, welche die Zukunftsinteressen der Gesellschaft gegen den Sog eines Globalkapitalismus und einer destruktiv gewordenen Konsumzivilisation verteidigt.

Privat ertönt immer häufiger das Echo der alten linken Kapitalismuskritik: Wie es jetzt noch funktioniert, geht es nicht mehr lange. Aber das ist nicht der Stoff, aus dem man Wahlkämpfe macht. Der Abschied, der ansteht, ist zu groß, als daß Politiker ihn jetzt ansagen könnten. So versprechen alle die Fortführung des „deutschen Modells“. Das aber zerbröselt längst. Sein Kern bestand darin, die Überschüsse der Exportindustrie, die auf Qualität, niedrigen Löhnen der Nachkriegszeit und einer unterbewerteten Mark beruhten, umzuverteilen. Ein Verfassungsgebot, das den Staat zur Herstellung homogener Sozialverhältnisse verpflichtete; ein Sozialvertrag zwischen Patronat und Gewerkschaften, der sichere Einkommenszuwächse und eine moderate Mitbestimmung der Arbeiter garantierte und im Gegenzug den Verzicht auf sozialistische Forderungen implizierte; der Flächentarifvertrag schließlich, der ein hohes Maß an Gleichheit unter den Arbeitern schuf – das war der Konsens, der die westdeutsche Gesellschaft konstituierte. Im Rückblick und angesichts der neoliberalen Restauration wird die Bedeutung der Systemkonkurrenz mit der DDR immer klarer: Sie zementierte diesen Konsens, sie erzwang den sozialen Kapitalismus, führte zu hohem öffentlichen Wohlstand, wachsenden Staatsleistungen, einem relativ hohen Maß an Gleichheit und einer Gewerkschaftspolitik, die den unteren Gehaltsgruppen proportional große Zuwächse brachte.

Dieses Ausgleichsmodell ist in den 16 Jahren der Kohl-Regierung zunehmend demontiert worden. Allein in den letzten fünf Jahren stieg das Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 46,8 Prozent, das private Geldvermögen um 46,9 Prozent, die Nettolohnsumme aber nur um 3 Prozent. Während die Produktivität um 10 Prozentpunkte stieg, sind die Reallöhne um 8,3 Prozent gesunken. Aber es geht nicht nur um Einkommenseinbußen, die Institutionen selbst geraten unter Druck. Die egalisierenden Tarifverträge sind, von Osten her, demontiert worden, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eingeschränkt, der Kündigungsschutz hat sich verschlechtert. Schon jetzt stehen nur noch 50 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland in einem regulären, unbefristeten, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsverhältnis.

Die besitzenden Mittelschichten fliehen aus der Bürgergesellschaft, entziehen sich durch Steuertricks der Finanzierung der allgemeinen Aufgaben: Vor vier Jahren trugen sie – über die Einkommensteuer – noch 40 Milliarden Mark pro Jahr bei; heute ist diese Summe unter 5 Milliarden gesunken. Dies alles verstärkt den Druck auf die industriellen Kernbereiche, deren sinkende Sozialabgaben einen immer größeren Sektor von Ausgegrenzten finanzieren müssen – eine Spirale nach unten. Das Ende der Lohnarbeitsgesellschaft ist in Sicht. Selbst die, im Vergleich, starken deutschen Gewerkschaften haben das nicht verhindern können.

Neoliberales Denken, die Abdankung der Politik an die Ökonomie, beherrscht die Publizistik. Typisch dafür ist die „Zukunftskommission“, die von den konservativen Ministerpräsidenten Sachsens und Bayerns einberufen wurde und liberalkonservative Ökonomen, Ministerialbeamte und einen kommunitaristischen Soziologen (Ulrich Beck) vereint. Die Weltsicht der Kommission ist fatalistisch: Die zunehmende Technisierung der Produktion und die Verlagerung einfacher Arbeiten in Billiglohnländer führe zu einer Zerlegung der Arbeiterklasse: in eine High-Tech- Elite wissenschaftlich qualifizierter Leistungsträger; in einen Bereich traditioneller Blue-collar-Arbeiter, Angestellter und Dienstleister, die für die Aufrechterhaltung der Wirtschaft notwendig sind, aber zunehmend „flexibilisiert“ arbeiten; und in einen „harten Kern“ von 25 Prozent „Absteigern“: niedrig qualifizierte, Frauen, unausgebildete Jugendliche, die in der Leistungsökonomie schlicht überflüssig sind.

Gerechtfertigt wird diese verschärfte Klassenspaltung mit einem technologischen Determinismus: die „Wertschöpfung“ sei übergegangen vom „Produktionsfaktor“ Arbeit an die Faktoren „Kapital“ und „Wissen“. Arbeit werde eben immer weniger nachgefragt.

Die Ökonomisierung der Köpfe

NICHT nur das Weltbild der liberalkonservativen Kommission, auch viele Analysen der SPD und der Gewerkschaften sind von Wirtschaftsdarwinismus durchtränkt. Am Primat der Ökonomie wird kaum noch gerührt, nur in den Nuancen der Folgenbewältigung unterscheiden sich die Rezepte. Ob nun die „Zukunftskommission“ den überflüssigen Geringqualifizierten eine Zukunft in der „personenbezogenen Dienstleistung“, sprich: als Kindermädchen, Masseure, Hausangestellte für die neue Elite wünscht; ob SPD-Denker Löhne in Industrie und Handel subventionieren wollen, damit dort mehr einfache Arbeiter eingestellt werden; ob kommunitaristische Soziologen einen „Dritten Sektor“ einrichten wollen, in dem – mit oder ohne Zwang – zu Löhnen knapp über dem Existenzminimum Parks, Kinder, Wälder und Kranke gepflegt werden; ob linksgrüne Theoretiker der neuen Armut den Glanz der selbstbestimmten Tätigkeit umhängen – immer geht es um die Rechtfertigung und Verwaltung von mehr Ungleichheit, nicht um die Reorganisation der Wirtschaft, sondern um die Bearbeitung der psychischen und sozialen Rationalisierungsfolgen – und nicht zuletzt um die Einrichtung von Arbeiten, die beim Stand der gesellschaftlichen Produktivität überflüssig wären, aber nun polizeilich begründet werden: staatlich ausgehaltene unbeschäftigte junge Männer sind eine Gefahr für die öffentliche Ordnung.

Die Ökonomisierung der Köpfe schreitet voran. „Ungleichheit muß in Kauf genommen werden“, schreiben Biedenkopfs Zukunftsdenker, und: „Wer nicht dient, verdient nicht“ – Sätze, die in Deutschland vor einigen Jahren noch einen Sturm öffentlicher Entrüstung hervorgerufen hätten, heute aber fast unbemerkt durchgehen – weil sie schon allgemein akzeptiert sind oder weil die institutionalisierte Öffentlichkeit in tausend Kanäle zerfasert ist und schon längst keine politische, zugespitzte Debatte mehr zuläßt. Die grassierende Angst produziert alle möglichen Formen von Persönlichkeitsprostitution, die Rhetorik der neuen Herrschenden wird immer schamloser. „Frage nicht, was dein Arbeitgeber mehr noch als bisher für dich tun kann, frage vielmehr, was du für die Sicherheit deines Arbeitsplatzes tun mußt“ – so diktiert es der Präsident der Niedersächsischen Landeszentralbank. Und auf der Straße faucht der Parksünder den Polizisten an: „Ich bin Unternehmer, ich schaffe Arbeitsplätze, ich habe keine Zeit, eine halbe Stunde einen Parkplatz zu suchen ...“

Stück für Stück zerfällt die alte Gesellschaft, ohne daß sich nennenswerter Widerstand dagegen regt; und die neue Ordnung der Ungleichheit nimmt allmählich Gestalt an. Die Entstehung einer neuen Unterschicht wird billigend in Kauf genommen, getragen von der Annahme, daß die Gesellschaft auch in Zukunft reich genug sein werde, sie zu alimentieren, und daß von unten keine politisch starken Forderungen nach Teilhabe an der Gesellschaft mehr kommen werden.

Aber bis zum 27. September ist der Fatalismus suspendiert. Kohl betet den neuen Aufschwung herbei – und der Hardcore-Flügel der Industrie wird ihn mit Erfolgsmeldungen dabei stützen; Kronprinz Schäuble, der seiner Partei eine ehrliche „Schweiß und Tränen“-Strategie verordnen wollte – mit Steuersenkungen, Leistungssteigerungen und Bildungsreform –, hat einen Maulkorb umgehängt bekommen. Und bis zur Wahl wird Schröder die „Neue Mitte“ beschwören: noch einmal das Lebensgefühl der alten Bundesrepublik in neue Kleider stecken. Bis zur Wahl wird niemand den besitzenden Mittelschichten nahetreten, die sich zunehmend aus der Solidarität des Sozialstaates verabschieden.

„Wir sind bereit“, sagen die SPD-Plakate nun. Sie zeigen einen gigantischen Schaltknüppel, der aus einem BMW- Sportwagen stammen könnte. Statt „Rückwärts“ steht dort „Kohl“, statt „5. Gang“: „Schröder“. Das ist Schröders Botschaft für die „Leistungsträger in Deutschland: hochqualifizierte und motivierte Arbeitnehmer, vorausschauende und engagierte Manager und Unternehmer, innovative Mittelständler, Handwerker, Freiberufler ... sowie verantwortungsbewußte Gewerkschaften“. Ihren „Konsens“ will der regierende Schröder moderieren. Es ist wahrscheinlich, daß er durchkommt, denn der CDU traut niemand mehr etwas zu.

Aber erst nach der Wahl wird sich zeigen, ob eine SPD, die sich der kapitalistischen Modernisierung pur verschreibt und von aller Kapitalismuskritik verabschiedet, noch genügend Integrationskraft für die gesamte Gesellschaft aufbringt, oder ob sie mit dem zukunftsberauschten Blick auf die nach wenigen tausend zählenden „neuen Arbeiter“ in den Fitneßstudios, den Medien, der Computerbranche die 800000 Menschen vergißt, die immer noch in Schlosserberufen arbeiten – zu zunehmend schlechteren Bedingungen.

Nach der Wahl also wird es wieder spannend werden. Dann könnten die weiterführenden Gedanken zur ökologischen und sozialen Modernisierung wieder auftauchen, die die SPD-Linke eingefordert hatte und die im März der parteiinternen Gedankenpolizei zum Opfer fielen. Schröders designierter Arbeitsminister Riester von der IG Metall verkörpert in sich die Spannweite dessen, wozu die deutsche Sozialdemokratie allenfalls freiwillig fähig ist: Er will eine „Modernisierung der Arbeitsverhältnisse“, mit einem neuen Arbeitsrecht, das den Druck der Weltmarktverhältnisse auf die Industrie ebenso berücksichtigt wie die Sicherheitsbedürfnisse der Arbeiter, eine Grundrente und eine nicht diskriminierende Grundsicherung auf niedrigem Niveau. Das läuft auf ein kontrolliertes, halbwegs egalitäres Abschmelzen des Rheinischen Kapitalismus hinaus. Aber Riester will (auch wenn das bis zum September keine große Rolle spielen wird) mehr: staatlich induzierte, große Arbeitsfelder zur ökologischen Innovation, zur Re-Urbanisierung der Städte, zur sozialen Arbeit – keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, sondern eine großangelegte Modernisierung der industriellen Infrastruktur. Ob aus solchen Gedanken etwas wird, wird davon abhängen, wie stark die Blockade der Kapitalvertreter sein wird, wie stark in der neuen Regierung Oskar Lafontaine wird, der solchen etatistischen Gedanken (und einer europaweiten Kontrolle des Kapitals) stärker zuneigt als Schröder mit seiner Industrie-Gläubigkeit. Wird abhängen von der Kraft der Grünen, ihre Konzepte ökologischer Industriereform – die sich kaum von denen der SPD-Linken unterscheiden – in einer eventuellen Koalition zur Geltung zu bringen. Vor allem aber davon, ob die Gewerkschaften es schaffen, mit neuer Macht die heute noch als „traditionalistisch“ denunzierten Forderungen nach sozialer Teilhabe auch an der künftigen Industriegesellschaft (nicht nur nach monetärer Kompensation und „Beschäftigung“) zu erheben. Bislang fehlt Klaus Zwickel, dem Chef der starken IG Metall, der – ebenso wie seine Kollegen Mai (öffentlicher Dienst) und Hensche (Medien) – von einer zukünftigen Regierung bereits jetzt eine weitere radikale Arbeitszeitverkürzung forderte, freilich noch die Unterstützung, nicht nur von seiten seiner Mitglieder, sondern auch von seiten der Funktionäre. Noch immer regiert unter ihnen der Glaube: Festhalten, was du hast, und beten, daß der nächste Aufschwung wieder alles so macht, wie es einmal war.

Nur zaghaft setzen sich Stimmen durch, die vom unwiderruflichen Schwund der Arbeit ausgehen – und diesen als die Voraussetzung einer Kulturrevolution begrüßen: einer Neubewertung der Arbeit und der freien Zeit, der Entstehung neuer Lebensformen jenseits des Konsums, der Organisation sozialer Sicherheit jenseits der Lohnarbeitsgesellschaft.

Ausgrenzende Modernität: der Wohlstand ist immer noch so groß, daß das Modell Deutschland noch eine Weile rollen könnte. Da es offensichtlich in seiner Dynamik strukturell angelegt ist, daß immer weniger Produktive in Zukunft immer mehr Überflüssige ernähren müssen, ist nur eines klar: auch dieses Modell ist kein Perpetuum mobile. Der Rest ist Politik.

* Freier Journalist in Berlin. Erschienen u.a.: „Montaigne. Ein Panorama“, Frankfurt a. M. (Eichborn) 1993; „Jens Reich im Gespräch mit Mathias Greffrath und Konrad Adam“, München (Hanser) 1994. Von 1991-94 war er Chefredakteur der Wochenpost.

Le Monde diplomatique vom 12.06.1998, von MATHIAS GREFFRATH