13.11.1998

Sonst glauben sie uns nicht!

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Sonst glauben sie uns nicht!

SCHON bei der Gründung der Agentur Gamma ging es uns darum, die Verbreitung unserer Bilder stärker zu steuern. Wir hatten die Idee, aus einer Geschichte zwei verschiedene Reportagen zu machen: als Fotos für die Zeitschriften und als 16-mm-Filme fürs Fernsehen. Damals setzten wir große Hoffnungen in die Zukunft der Fernsehsender.

Der Krieg zwischen Biafra und Nigeria war für uns eine lange, schwierige Geschichte. Wir hatten unter schrecklichen Umständen einen unserer Fotografen verloren, Marc Auerbach. Und Gilles Caron reiste im August 1968 bereits zum zweiten Mal dorthin. Der Hunger war entsetzlich, ich hatte so etwas noch nie gesehen, inmitten dieser tropischen Landschaft, in diesem sanften Grün, und dann diese Stille ... Später erfuhren wir, daß wir alle manipuliert worden waren, denn in Wirklichkeit ging es um die wirtschaftlich und politisch bedeutenden Ölvorräte in der Region Biafra. Unser Film ging ungefähr zwanzig Minuten und lief zunächst im französischen Fernsehen. Die BBC kaufte ihn daraufhin und wollte mit mir einen Vertrag machen, daß ich weiter in Afrika arbeite.

In den Dörfern und Missionen, in die wir damals reisten, empfingen uns zumeist irische katholische Priester, die voller Zorn und zutiefst verzweifelt waren. Das Wort „französisches Fernsehen“ war wie ein Zauberwort. Manchmal war Gilles Caron ein bißchen neidisch, aber er profitierte auch davon, weil alles sich auf mich konzentrierte, was für ihn eine größere Freiheit bedeutete. Auch wenn kein einziges Kind uns verfolgte. Die Überlebenden zeigten uns alles, Beerdigungen, überfüllte Krankenhäuser, ich legte einen Film nach dem anderen ein – es war grauenhaft!

WAS soll ich sagen ... Gilles und ich, wir arbeiteten beide, der eine filmte, der andere fotografierte. Ich erinnere mich nicht mehr an den Augenblick, als er dieses Foto aufnahm. Ich konnte damals solche Dinge gar nicht mehr wahrnehmen. Was ich auch tat, ich hatte ständig das Gefühl, daß meine Bilder hinter der Wirklichkeit zurückblieben, und jeden Abend überfiel mich eine gewisse Verzweiflung, daß es mir nie gelingen würde, dieses Grauen aufzuzeichnen. Der Film lief nur ein einziges Mal im Fernsehen, die Bilder von Gilles hingegen fanden eine weite Verbreitung. Vielleicht kann man es eher aushalten, Fotos zu betrachten als unerträgliche Filmaufnahmen.

Erst sehr viel später fragte mich Gilles Caron, ob er dieses Foto veröffentlichen könne. Es war ihm meinetwegen unangenehm, aber er mochte es sehr. Anderthalb Jahre später ist er in Kambodscha verschollen.

Später habe ich in der italienischen Psychiatrie gearbeitet, bedrückt, befangen, aber entschieden. Ich erinnere mich daran, wie Franco Basaglia mich einmal mit den Worten aufmunterte: „Du mußt fotografieren, Raymond, sonst glauben sie uns nicht!“

RAYMOND DEPARDON

Le Monde diplomatique vom 13.11.1998, von RAYMOND DEPARDON