09.07.1999

Folgeschäden einer Friedensmission

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Folgeschäden einer Friedensmission

EINE Delegation der Vereinten Nationen unter Führung von Sergio Vieira de Mello, dem Stellvertretenden Generalsekretär für Humanitäre Fragen und Koordinator für Katastrophenhilfe, bereiste vom 16. bis 27. Mai das Kosovo und andere Gebiete der Bundesrepublik Jugoslawien. Der detaillierte Bericht der Delegation über die dramatische Lage der Bevölkerung vor Ort wurde von UN- Generalsekretär Kofi Annan am 9. Juni dem Sicherheitsrat vorgelegt. Wir veröffentlichen im folgenden die wichtigsten Ergebnisse.

Die Eskalation der Gewalt, die seit dem Jahresende 1997 im Kosovo zu beobachten ist, hat Massenmigrationen ausgelöst, zahllose zivile Opfer gefordert und unendliches Leid über die Zivilbevölkerung gebracht. Nach wie vor ist die humanitäre Lage besorgniserregend, die Menschenrechte werden in gravierender Weise verletzt. Mit Beginn der Luftangriffe gegen die Bundesrepublik Jugoslawien durch die Mitgliedsländer der Nato hat die Kosovokrise Ende März 1999 neue, unerwartete Ausmaße angenommen. Der vorliegende Bericht betrifft den Zeitraum vor den jüngsten ermutigenden Fortschritten, die auf politischer Ebene erreicht wurden. (...)

Das Ausmaß der Krise. Der Kosovokonflikt spielt zweifelsohne eine zentrale Rolle innerhalb der jüngsten Krise in Südosteuropa. Seine sichtbarsten Folgen waren bisher das Leid und die Massenmigrationen der Flüchtlinge aus dem Kosovo und innerhalb dieser Provinz. Doch auch andere Faktoren, so die Folgen der Auflösung des ehemaligen Jugoslawien, die Auswirkungen der systematischen Verletzung der Menschenrechte, die nur allzu lange anhielt, die Konsequenzen der langjährigen harten Sanktionen und die Luftangriffe durch die Nato haben das Land, wenn nicht gar die gesamte Region, erheblich geschwächt. Zusätzlich zur unmittelbaren humanitären Notlage der Flüchtlinge, der Deportierten und anderer Gruppen der Zivilbevölkerung hat der Konflikt gewaltige sozioökonomische, ökologische und materielle Schäden in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien und außerhalb davon verursacht, so daß man von einer neuen Art von komplexer humanitärer Notsituation sprechen kann. (...)

Kosovo. Folgen der Kosovokrise waren die massive, zwangsweise Deportation und Vertreibung Hunderttausender Zivilpersonen, die systematische Zerstörung von Besitz und Existenzgrundlagen, der Ausbruch von Anarchie und sinnloser Gewalt, die nachweisliche Ermordung Tausender neben einer nicht gesicherten Zahl noch unaufgeklärter Todesfälle, sowie unsägliches Leid. Die Mitglieder der Delegation haben während ihres gesamten Aufenthalts ihren jugoslawischen Gesprächspartnern auf allen Ebenen klar und deutlich erklärt, daß genau diese Faktoren im Zentrum des herrschenden Konflikts und damit im Zentrum einer Lösung stünden. (...)

Probleme, die das gesamte Land betreffen. In der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien haben die Luftschläge der Nato zahlreiche Tote und Verwundete unter der Zivilbevölkerung gefordert. Die massive Zerstörung und erhebliche Beschädigung von Einrichtungen der Infrastruktur und von Produktionsanlagen hatten verheerende Auswirkungen auf die Industrie, die Beschäftigung, die Umwelt, die wichtigsten Dienstleistungen und die Landwirtschaft. Zu den Opfern, die sich in einer besonders schlechten Lage befinden und die man am wenigsten beachtet, zählen die mehr als 500000 serbischen Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien, die während der vorausgegangenen Konflikte in die Flucht getrieben wurden.

Wichtigste Ergebnisse der Delegation für die Kosovo-Provinz. Allgemeine Situation. (...) Wenn man vom Zentrum mancher Städte absieht, wo auf den Straßen praktisch keine Fahrzeuge, aber doch einige wenige Menschen anzutreffen sind, bietet das Kosovo einen Anblick des Elends: niedergebrannte Häuser, verlassene Bauernhöfe, umherirrendes Vieh, aufgegebene Dörfer und geplünderte Geschäfte. Die Delegation hat mit Vertretern der Regierung gesprochen, aber auch mit Flüchtlingen, Vertretern zahlreicher ethnischer Gruppen, Mitgliedern verschiedener politischer Parteien und Bewohnern, die vor Ort geblieben sind. Deren Aussagen ergaben übereinstimmend, daß die Gebiete des Kosovo, in denen sich die Mission aufhielt, zwischen dem 24. März und dem 10. April Schauplatz ungezügelten Mordens, willkürlicher Brandstiftungen, Plünderungen, Zwangsvertreibungen sowie anderer Akte von Gewalt, Rache und Terror waren.

Zehn bis fünfzehn Tage nach Beginn der Luftschläge waren die Abfolge und das Ausmaß der Vorfälle von Dorf zu Dorf unterschiedlich. Bewohner des Kosovo berichten jedoch, Zeugen von Vertreibungen, des Niederbrennens von Häusern und Geschäften, Plünderungen, zwangsweiser Verschleppungen und Massenhinrichtungen geworden zu sein. In Pristina haben die Behörden nach den ersten zehn bis fünfzehn Tagen eingegriffen, um die Gewalt einzudämmen. Sie räumten der Abordnung gegenüber ein, daß in Pristina eine endlose Reihe schwerer Verbrechen verübt wurde, auf die die Todesstrafe steht, daß diese bislang jedoch „unbekannten Tätern“ zugeschrieben werden. In den Gegenden des Kosovo, die sie bereist hat, sah die Delegation zahlreiche albanische Häuser, Läden und Geschäfte, die systematisch zerstört worden waren. In manchen Regionen waren etwa 80 Prozent der Häuser niedergebrannt.

Zweimal wurde die Delegation Zeuge von Vorfällen, bei denen Häuser niedergebrannt wurden, und zwar in Gegenden, in denen keine Kämpfe stattfanden. Dies widerspricht den offiziellen Erklärungen, wonach die Zerstörungen eine Folge der Auseinandersetzungen zwischen serbischen Kräften und der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) seien. Die Delegation hielt sich auch in Kosovska Mitrovica auf, einer Stadt, in der viele Viertel niedergebrannt und geplündert wurden. Der Leiter der dortigen Regionalverwaltung gab zu, daß die Polizei zahlreiche Menschen albanischer Abstammung aus der Stadt vertrieben habe, um die UCK daran zu hindern, deren Häuser und Geschäfte für ihre Zwecke zu nutzen. Diese Erklärung stimmt mit den Aussagen der Flüchtlinge überein.

Abgesehen von den Dörfern mit serbischer Mehrheit sind unter den Städten und Dörfern, die die Mission bereiste, die Gemeinden Pristina und Prizren die einzigen, in denen das Eigentum und die Mittel für den Lebensunterhalt der Kosovo-Albaner nicht systematisch vernichtet wurden. Das Internationale Tribunal für Verbrechen im früheren Jugoslawien muß hier dringend eine gründliche Untersuchung einleiten. (...)

Djeneral Jankovic. Am 21. Mai hat sich die Delegation unter anderem nach Djeneral Jankovic an der makedonischen Grenze begeben. Nach Angaben des Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) sind am 21. Mai 1260 Flüchtlinge nach Makedonien gelangt, doch beim Besuch der Delegation war an der Grenze niemand zu sehen. Die Abordnung sah wenige Meter von der Grenze entfernt etwa zweihundert vor einer Zementfabrik stehende Traktoren und LKWs. Diese für Flüchtlinge typischen Fahrzeuge waren beladen mit persönlichen Dingen, die anscheinend vor Überschreiten der Grenze zurückgelassen worden waren. Als die Delegation bei den serbischen Behörden nachfragte, weshalb die Flüchtlinge nicht mit diesen Fahrzeugen ausreisen konnten, erhielt sie zur Antwort, daß die makedonische Grenze geschlossen gewesen sei und daß die Flüchtlinge, als sie wieder geöffnet wurde, zu Fuß hinübergegangen seien. (...)

Kacanik. Während früher 70 Prozent der Bevölkerung dieses Orts Albaner waren, stellte die Abordnung am 21. Mai fest, daß alle Albaner die Stadt verlassen hatten. Lediglich vier alte, kranke Männer, die man nicht mitnehmen konnte, waren zurückgeblieben und lebten nun in der Moschee. Die Delegation gewann den Eindruck, daß die Albaner in aller Eile evakuiert worden waren. Das Vieh, Haustiere, wertvolle Haushaltsgeräte, Gegenstände von persönlichem Wert wie Fotoalben und persönliche Papiere: alles war zurückgelassen worden. In einer Wohnung war eine Teekanne, gefüllt mit Tee, stehengeblieben, und auf dem Balkon hing noch frisch gewaschene Wäsche auf der Leine. Einige junge Roma erklärten der Abordnung, die albanische Bevölkerung sei vom Militär mit Gewalt vertrieben worden, und falls sie ins Dorf zurückkehren sollte, werde es ihr schlecht ergehen.

Frauen und Kinder. In jeder Gesellschaft, die von Konflikten erschüttert wird, sind die Folgen für Frauen und Kinder besonders schmerzlich und unheilvoll. Die Kinder im Kosovo sind auf verschiedene Weise von dem Konflikt betroffen: Ihr Schulunterricht ist unterbrochen, sie mußten Ermordungen mitansehen oder wurden selbst Opfer von Überfällen. Manche Kinder sind vielfachen Bedrohungen ausgesetzt. Zwei Kinder in Korisa, mit denen die Abordnung sprach, waren von der Polizei aus ihrer Wohnung vertrieben worden, sie haben die Luftangriffe der Nato überlebt und können immer noch nicht in ihr Haus zurückkehren, das sie von einem benachbarten Hügel aus sehen. Sie erhalten keinerlei Hilfe und geraten sichtbar in Furcht und Schrecken, wenn die Flugzeuge der Nato über ihre Köpfe hinwegdonnern und sie die Bombeneinschläge in der Nähe hören.

Neben der Versorgung mit dem Lebensnotwendigen muß die humanitäre Soforthilfe auch Hilfsmaßnahmen für die Kinder und ihre Familien einschließen. Sie muß Bedingungen für eine Entwicklung der Kinder schaffen, vor allem muß es gelingen, sie durch Spiele und Freizeitbeschäftigungen und einen informellen Schulunterricht wieder in ein normales Leben einzugliedern. Viele Frauen im Kosovo haben alles verloren und befinden sich zum ersten Mal in der Rolle des Familienoberhaupts. Sie müssen die schwere Verantwortung auf sich nehmen, Nahrung, Unterkunft und Schutz für sich selbst und die überlebenden Angehörigen zu finden. Viele ländliche, traditionelle Familien haben alle Männer verloren; die Frauen werden es besonders schwer haben, sich wieder zu integrieren. Die Situation der Frauen in den überbevölkerten Dörfern in der Nähe von Podujevo, wo viele Deportierte leben, wurde von der Delegation als besonders besorgniserregend beurteilt. Es war der Delegation nicht möglich, ausführliche Gespräche zu führen, doch eine Frau, die man zur sexuellen Belästigung oder Gewalt befragte, in diesem überbevölkerten Dorf mit sehr vielen Männern, beschrieb die Situation als „katastrophal“. In einem jüngeren Bericht des UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) heißt es, die Kosovo-Albanerinnen seien systematisch zu Opfern sexueller Gewalt gemacht worden. Diese Frage muß eingehender untersucht werden. (...)

Serbische Republik (ohne Kosovo). Allgemeine Situation. Die Delegation konnte feststellen, daß in allen Gebieten Serbiens, die sie bereiste, die Luftangriffe der Nato sehr große Sachschäden verursacht haben. Das jugoslawische Rote Kreuz registrierte 700 Tote und 6400 Verletzte unter der Zivilbevölkerung. Eine noch weitaus größere Zahl hat durch die Bombardements ihre Wohnungen verloren. Die Delegation konnte die Richtigkeit dieser Zahlen nicht überprüfen. Die meisten Zivilpersonen sollen in zahlreichen Städten, die die Delegation aufsuchte – Aleksinac, Surdulica, Cacak, Kragujevac, Pancevo und Nis – getötet oder verletzt worden sein. Die allgemeine Wirtschaftslage, die Schließung der Industrieunternehmen, sei es direkt als Folge des Krieges, sei es wegen der Unterbrechung der Rohstofflieferungen, des Verlusts von Absatzmöglichkeiten und der Zerstörung der Transportwege, haben die serbische Bevölkerung erheblich verarmen lassen. Die Unterbrechung der grundlegenden Dienstleistungen wie die Versorgung mit Wasser, Strom, Heizmaterial sowie der Dienste im Gesundheitswesen, in der Bildung und im Transportwesen haben das Leben der Zivilbevölkerung außerordentlich erschwert. (...)

Opfer sind vor allem Frauen und Kinder

PROBLEME der Beschäftigung und der Migration. Neben den materiellen Verlusten war in allen serbischen Städten und Gemeinden, die die Delegation besuchte, die Arbeitslosigkeit das Hauptproblem. Die Zerstörung der wichtigsten Industrien und die Schäden an den elementaren Versorgungseinrichtungen ließen viele Menschen von einem Tag auf den anderen ihre Beschäftigung verlieren. Nach Regierungsangaben wurden 600000 Menschen infolge der Beschädigung oder völligen Zerstörung von Industriebetrieben arbeitslos. Die Entlassungen haben darüber hinaus Auswirkungen auf etwa 2 Millionen Menschen ohne eigenes Einkommen. (...)

Flüchtlinge und Deportierte. (...) Die Bundesrepublik Jugoslawien beherbergt mehr als eine halbe Million Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina und Kroatien. Dies ist die zweitgrößte Ansammlung von Flüchtlingen in Europa. Die meisten leben unter schwierigen Bedingungen, und viele von ihnen sind zumindest zum Teil weiterhin auf humanitäre Hilfe (in Form von Nahrung, Hygiene-Artikeln und Brennmaterial zum Heizen) angewiesen. Die Rückkehr dieser Flüchtlinge nach Kroatien geht außerordentlich langsam vonstatten, was mit bürokratischen Schwierigkeiten und Problemen auf kroatischer Seite bei der Rückgabe ihres Eigentums zusammenhängt. Die für die Flüchtlinge Verantwortlichen erklärten, die Nato- Kampagne habe die ohnehin schon schwierige Situation der Flüchtlinge noch verschlimmert, indem sie deren Integration in die jugoslawische Gesellschaft bremse, die Neuansiedlung der Flüchtlinge in Drittländern unterbreche und den regelmäßigen Hilfsgütertransport, auf den die Flüchtlinge angewiesen sind, behindere (...)

Umwelt. Zahlreiche Industrieanlagen – zum Zeitpunkt der Reise der Delegation zählte man mehr als achtzig – wurden bei den Nato-Bombardements angegriffen und zerstört. Beschädigungen von Erdölraffinerien, Treibstofflagern, Chemie- und Düngemittelfirmen, Giftwolken, die bei den riesigen Bränden entstanden, und das Eindringen von toxischen chemischen Stoffen in den Boden und ins Grundwasser haben in manchen städtischen Gebieten Umweltverschmutzungen verursacht, die, auch wenn ihr Ausmaß noch nicht genau ermittelt werden kann, eine Gefahr für die menschliche Gesundheit und das Ökosystem bedeuten.

Die Delegation hat sich nach Pancevo, fünfzehn Kilometer nordöstlich von Belgrad, begeben, wo durch die Zerstörung einer petrochemischen Fabrik mehrere chemische Flüssigkeiten (wie Vinylchlorid, Chlor, Ethylenchlorid und Propylen) in die Luft, in die Gewässer und ins Erdreich gelangt waren. Dies könnte eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit der Bevölkerung in der Region sowie für die Ökosysteme im Balkan und in ganz Europa darstellen. Zahlreiche chemische Verbindungen, die bei diesen Unfällen freigesetzt wurden, können Krebs, Fehlgeburten und angeborene Mißbildungen verursachen. Manche können zu Nervenkrankheiten und tödlichen Lebererkrankungen führen. (...)

Frauen und Kinder. Frauen und Kinder hatten unter den Auswirkungen des Konflikts in Serbien, den direkten Folgen der Luftangriffe und den indirekten Folgen wie Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Unsicherheit und Zukunftssorgen besonders stark zu leiden. Am schwierigsten, so scheint es, war die Situation für die Kinder und Jugendlichen. Ein Kind, das befragt wurde, zitterte am ganzen Körper, als es die Bombardements beschrieb, die es einige Wochen zuvor erlebt hatte. Die Wiederaufnahme des Unterrichts spielt eine wesentliche Rolle bei der Rückkehr zu einem normalen Leben und zu den gewohnten kindlichen Beschäftigungen. In Serbien ist das Bildungswesen auf allen Ebenen beeinträchtigt. In den meisten besuchten Gebieten sind die Kinder seit Beginn der Luftschläge nicht mehr regelmäßig zur Schule gegangen, da die Bildungseinrichtungen geschlossen wurden. Viele Schulen hatten „Kollateralschäden“ erlitten. Zwar sind einige Kindergärten für Kinder berufstätiger Mütter geöffnet, doch im allgemeinen haben die Kinder keinen Zugang zu Freizeit- oder Bildungseinrichtungen. Es war nicht möglich, das genaue Ausmaß der Schäden an schulischen Einrichtungen zu bestimmen, doch ist offensichtlich, daß Schulmaterial gebraucht wird und die beschädigten Gebäude dringend instandgesetzt werden müssen. (...)

dt. Erika Mursa

Le Monde diplomatique vom 09.07.1999