11.03.2011

Neue Sorgen in Tunesien

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Neue Sorgen in Tunesien

Unordnung, Gaddafi, Wohnungsnot von Akram Belkaïd

Jetzt sind wir endlich frei, aber entschieden ist gar nichts. Leicht möglich, dass Tunesien von seinen alten Dämonen eingeholt wird“, sagt ein junger Journalist, der in La Marsa, einem der nördlichen Vororte von Tunis, auf der Terrasse eines kleinen Cafés sitzt. Er fasst die Stimmung im Land treffend zusammen.

Der Sturz des Regimes, der Haftbefehl gegen den Autokraten Ben Ali und seinen Clan, die faktische Auflösung der ehemaligen Regimepartei RCD (Konstitutionelle Demokratische Sammlung) und das Versprechen freier, transparenter Wahlen sind die beherrschenden Themen, in den Familien ebenso wie in den tunesischen Medien. Aber die Ungewissheit, wie es weitergehen soll, bleibt und verdirbt manchmal sogar die Freude über eine Revolution, der jetzt ein großer Teil der arabischen Welt nacheifert.

Neben den Schwierigkeiten des Alltags ist die größte Sorge der Leute die Unsicherheit. Von den Ordnungskräften, die noch vor kurzem an jeder Kreuzung standen, ist nichts mehr zu sehen – als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Ihr fast vollständiges Verschwinden aus dem Straßenbild hat die Lage destabilisiert: Rücksichtsloses Verhalten nimmt zu, vor allem im Straßenverkehr. Zugleich kursieren alarmierende Nachrichten von RCD-nahen Milizen, die sich an Menschen und Eigentum vergreifen und Angst und Schrecken verbreiten. Brände in mehreren Schulen und der Mord an einem polnischen Priester in einer Privatschule in Manouba, einem Vorort von Tunis, nähren das Gerücht, die Schergen des gestürzten Regimes seien immer noch unterwegs, um Vergeltung zu üben.

„Die Anhänger des ehemaligen Regimes tun alles, damit wir uns nach dem Polizeistaat zurücksehnen! Seit Ben Alis Sturz betreiben sie eine Politik der verbrannten Erde“, schimpft ein Buchhändler in Tunis. Die aktuelle Situation könne den Übergang zur Demokratie gefährden, meint er, wenn die bürgerliche Mittelschicht die Armee zur Hilfe rufe, damit der Frieden gewahrt wird. Stabschef General Rachid Amar genießt hohes Ansehen, seitdem seine Truppen sich weigerten, auf die Demonstranten zu schießen, und Ben Alis Milizen daran hinderten, das Land zu verwüsten. Er betonte mehrfach, das Militär werde die Entscheidung des Volkes respektieren und nicht die Macht übernehmen. Viele Tunesier wollen jedoch um jeden Preis solch blutige Konflikte verhindern, wie sie das Nachbarland Algerien zerrissen haben, und könnten die Rückkehr einer Form von Autoritarismus durchaus erleichtert begrüßen.

Weshalb die Polizisten das Feld geräumt haben, ist schwer zu sagen. Manche sicher aus Furcht vor Repressalien; andere vielleicht, weil klare Anweisungen der Übergangsregierung fehlten. Zudem wurden manche Einheiten aufgelöst oder entwaffnet, wie die ehemalige Präsidentengarde. Außerdem waren die Sicherheitskräfte insgesamt ein derart undurchsichtiges Gebilde, dass manche paramilitärischen Milizen überhaupt nicht zu identifizieren sind. Etliche Vertreter aus Politik und Gewerkschaften bedrängen deshalb die Übergangsregierung, den Sicherheitsapparat ganz neu aufzubauen. Hinter dieser Forderung steht vor allem die Furcht, ein Teil der gut 400 000 Personen – Spitzel nicht mitgezählt –, die bis vor kurzem im Dienst des Innenministeriums standen, könnten ins Lager der Ben-Ali-Anhänger wechseln.

Der ängstliche Blick auf die Nachbarstaaten

Manche Tunesier fordern zumindest eine Teilamnestie. Andere jedoch, wie der hochrangige Politiker Moncef Marzouki und der Islamistenführer Rachid Ghannouchi, sind der Meinung, Ben Ali und seine Frau müssten festgenommen und vor Gericht gestellt werden. Die Expräsidentengattin Leïla Trabelsi gilt in der öffentlichen Meinung als derzeit größte Gefahr für den Frieden und die zukünftige Stabilität im Land.

Die zweite Sorge der Tunesier ist außenpolitischer Natur und betrifft die beiden wichtigsten Nachbarn: Libyens Gaddafi, der sich mittlerweile selbst vor seinem Volk verschanzen muss, versicherte Ben Ali erst seiner Unterstützung, und dann, als das nichts mehr half, bekundete er seinen Respekt für der Entscheidung des tunesischen Volkes. Man ist in Tunesien an die impulsiven Entscheidungen des libyschen Nachbarn gewöhnt, etwa als ihm in den Sinn kam, tausende eingewanderter Arbeiter auszuweisen; und die Furcht, Gaddafi könnte Tunesien zu destabilisieren versuchen, war wochenlang Teil der tunesischen Kalkulationen. Es kursierte sogar das Gerücht, Madame Trabelsi habe sich in Libyen niedergelassen, um dort einen Brückenkopf für die Rückeroberung einzurichten. Seit dem am 14. Februar ausgebrochenen Aufstand gegen Gaddafi sind die Karten allerdings wieder neu gemischt. Doch die Ängste bleiben – und am größten ist jetzt die Furcht vor den Folgen einer Spaltung im Nachbarland, davor, dass es im Bürgerkrieg versinkt.

Der westliche Nachbar, Algerien, wirft andere Fragen auf: Das Schweigen des Regimes in Algier ist niemandem entgangen. Die regierungsnahen Medien spielten nach Ben Alis Sturz das Ausmaß der Proteste in Tunesien herunter oder verschwiegen sie ganz. Bis auf ein paar lakonische Erklärungen, die nicht mehr waren als eine Kenntnisnahme des Regierungswechsels, gaben sich sowohl Ministerpräsident Ahmed Ouyahia als auch Staatschef Abdelasis Bouteflika äußerst zugeknöpft. Dass die Menschen, die am 11. Februar den Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak auf der Avenue Habib Bourguiba in Tunis feierten, unter anderen auch algerische Fahnen schwenkten, kam in Algier gar nicht gut an. Die Tunesier fragen sich beklommen, wie das algerische Regime reagieren würde, wenn sich seine Gegner frei auf den tunesischen Satellitensendern wie Nesma TV oder Hannibal TV äußerten.

Jenseits von möglichen Konflikten mit den Nachbarn und dem Problem der inneren Sicherheit ist die eigentliche Herausforderung aber sozialer Natur. Jeder Tag führt dem Land neu vor Augen, was für ein Lügengebäude die angeblich so gesunde tunesische Wirtschaft war. Kaum war der Diktator geflohen, wurden zahllose Forderungen in astronomischer Höhe präsentiert. Während sich Tunesien als eines der wenigen arabischen Länder darstellte, denen (dank der intensiven Förderung von Wohneigentum durch das Regime) die extreme Wohnungsknappheit erspart geblieben sei, zeigt sich jetzt, dass viele Tunesier praktisch kein Dach über dem Kopf haben.

Seit Mitte Februar berichten die Fernsehsender immer wieder, dass auf Brachland oder Grundstücken, die vermutlich geflohenen oder inhaftierten früheren Profiteure des Regimes gehören, wilde Siedlungen aus dem Boden schießen. Das Phänomen hat ein derartiges Ausmaß angenommen, dass das Innenministerium die „Grundstücksbesetzer“ gewarnt hat und die Bevölkerung aufrief, Privateigentum zu respektieren. Um nur den dringendsten Bedarf zu decken, müsste der Staat 110 000 Sozialwohnungen bauen, sagt ein leitender Mitarbeiter der Zentralbank; und bei dieser Zahl sind noch nicht die Erwartungen der arbeitslosen jungen Leute berücksichtigt, die gezwungen sind, bei ihren Eltern zu wohnen.

Auch die Löhne und Arbeitsbedingungen treiben die Menschen auf die Barrikaden. Zwischen dem 1. und dem 15. Februar brachen gut hundert soziale Konflikte aus, selbst in Unternehmen, die sich dagegen gefeit glaubten, wie etwa Tunis Air. Die Forderungen sind immer dieselben: Absetzung der Geschäftsführung, die sich mit dem gestürzten Regime kompromittiert hat, Erhöhung der Löhne und Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Doch die zuständigen Stellen können nichts anderes tun, als um Geduld und Besonnenheit zu bitten, obwohl auch sie anerkennen, dass hier eines der drängendsten Probleme liegt.

Hier bewegt sich die Übergangsregierung auf vermintem Gelände, denn der soziale Protest stellt das gesamte Wirtschaftsmodell infrage. Tatsächlich betreffen die Proteste auch die ausschließlich für den Export produzierenden Unternehmen. In der Textilbranche ebenso wie in der Automobilzulieferindustrie, bei Herstellern elektronischer Bauteile und sogar bei Zulieferfirmen für die Luftfahrt verdienen tunesische Arbeiter manchmal nur 5 Prozent dessen, was in Europa üblich ist. Ähnliche Zustände herrschen bei Dienstleistern wie den Callcentern und den Verwaltungsfilialen europäischer Unternehmen, und insbesondere bei Banken, Wirtschaftsprüfungs- und Buchhaltungsfirmen.

„Bis jetzt konnten die rein exportorientierten Unternehmen in einem rechtsfreien Raum agieren, in dem Mitarbeiter kaum vor Unternehmerwillkür geschützt waren und die Gewerkschaften außen vor blieben“, meint ein Vertreter der Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail). In der Presse heißt es, in den Schlüsselsektoren habe Ben Alis Polizei jede soziale Mobilisierung im Keim erstickt – verständlich, dass eines der ersten Anliegen der UGTT eine Novellierung der Gesetzgebung für Unternehmen und Sonderwirtschaftszonen ist.

Die Verschärfung der sozialen Situation hat die Gewerkschaft zu einem der Hauptakteure des Übergangs gemacht. Die provisorische Regierung trifft keine weitreichende Entscheidung, ohne die UGTT zu konsultieren; angeblich wurde der Gewerkschaft sogar die Liste der neuen Bezirksgouverneure und Botschafter vorgelegt. Auch der Rücktritt von Regierungschef Mohammed Ghannouchi am 27. Februar, geht auf den Druck einer Oppositionsbewegung zurück, in der die UGTT eine gewichtige Rolle spielt. Der Industrie-, Handels- und Handwerksverband Utica (Union Tunisienne pour I’industrie, le Commerce et l’Artisanat) ist nun in einer deutlich schwächeren Position: Die Arbeitgeberschaft ist wegen ihrer Kollaboration mit dem ehemaligen Regime weitgehend kompromittiert. Gut möglich, dass mit Ben Alis Sturz die Zeit des alten Tunesien vorbei ist: als das Land um jeden Preis ausländische Unternehmen anlockte und dafür die niedrigsten sozialen Standards im ganzen Mittelmeerraum durchsetzte.

Aus dem Französischen von Barbara Schaden Akram Belkaïd ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.03.2011, von Akram Belkaïd