11.12.2014

Brief aus Kreta

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Brief aus Kreta

von Nikos Konstantaras

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Als Angela Merkel meinte, die Griechen und andere Südvölker zu den Tugenden der „schwäbischen Hausfrau“ bekehren zu müssen, musste ich an meine Großeltern denken. Nikos und Polyxeni lebten in einem kretischen Bergdorf. In einer Welt, die für das Überleben einer bäuerlichen Familie weit ungnädiger und unberechenbarer war als die süddeutsche Provinz.

Wenn ich wie jetzt wieder das fast verlassene Dorf besuche, erinnere ich mich an ihre Geschichten aus dem alten Griechenland. Das macht meinen Kopf klarer, gerade angesichts der griechischen Wirtschaftskrise, die sich nun ins sechste Jahr schleppt.

Diese Krise zwingt uns zwar völlig neue Erfahrungen auf, aber in mancher Hinsicht verweist sie uns auch auf unsere Vergangenheit. Zum Beispiel führt sie uns Griechen vor Augen, was uns die Europäische Union über die Jahrzehnte gebracht hat und was wir davon wieder eingebüßt haben. Aber sie zeigt uns auch, auf was wir uns zurückbesinnen müssen, wenn wir unsere Probleme bewältigen wollen.

Die Krisengeschichte ist bekannt: Bis 2009 hatte die Staatsverschuldung neue Rekordwerte erreicht; Anfang 2010 musste Griechenland bei der Troika (EU, EZB und IWF) ein Rettungsprogramm beantragen. Bedingung für das Kreditpaket von 240 Milliarden Euro war ein brutales Sparprogramm und die Zusage von Reformen, die vor allem den öffentlichen Sektor betreffen. Dabei wurden die Staatsausgaben so drastisch gekürzt, dass der Haushalt Ende 2014 wieder ein Plus aufweist. Allerdings nur, wenn man die Zinsbelastung für den Staat herausrechnet, die mittlerweile um 50 Prozent höher liegt als zu Beginn der Krise.

Immerhin konnte sich Griechenland in der Eurozone halten – entgegen den Voraussagen und Wünschen derer, die Europa den Regeln der „schwäbischen Hausfrau“ unterwerfen wollen. Aber die Kosten sind so enorm, dass der Begriff „Rettung“ fast zynisch klingt: Das Bruttoinlandsprodukt ist um 25 Prozent eingebrochen, die Arbeitslosenrate stieg auf 28 Prozent und sinkt nur langsam. Die Lohn- und Renteneinkommen schrumpften um ein Drittel. Ende 2013 waren 35,7 Prozent der Bevölkerung von sozialem Ausschluss bedroht – ein Fünftel mehr als vor der Krise.

Weniger bekannt ist, dass die griechische Bevölkerung – im Gegensatz zu ihrem Staat – keinesfalls zu Verschwendungssucht neigt. Vor Beginn der Krise lag die private Verschuldung pro Kopf niedriger als in Deutschland. Es war also nicht der „faule“ und „liederliche“ Grieche, sondern sein desorganisierter und korrupter Staat, der einen Großteil dessen vergeudete, was die Bürger erarbeitet hatten.

Für den neugriechischen Staat war die Gefahr eines Bankrotts oder einer Währungskrise seit seiner Gründung ein ständiger Begleiter. Erst der Beitritt zur Europäischen Union sorgte für politische Stabilität. Und als das Land der Eurozone beitrat, glaubten die meisten, jetzt seien wir auch ökonomisch in sicheren Gewässern. Meine Großeltern hatten, wie alle Familien im Dorf, keinerlei Schulden. Schon deshalb, weil sie keinen Kredit hatten. Sie kamen mit dem aus, was der Boden hergab, den sie geerbt hatten oder dank harter Arbeit pachten oder dazukaufen konnten. An diese Leute erinnerten sich die Politiker nur, wenn sie Soldaten brauchten. Oder vor Wahlen, wenn sie ihnen das Blaue vom Himmel versprachen und ihre Stimmen mit Posten im öffentlichen Dienst erkauften.

Mein Großvater verdingte sich, als die Straße zur nächsten Stadt gebaut wurde, zusammen mit seinen Brüdern als Lohnarbeiter, um das nötige Geld für das Medizinstudium ihres ältesten Bruders zu verdienen. Auch ihre Kinder mussten von früher Jugend allein klarkommen. Einige blieben als Bauern im Dorf, die meisten gingen nach Athen oder Thessaloniki, viele emigrierten nach Deutschland, Australien, Südafrika oder Mosambik, um im Ausland eine neue Existenz zu gründen.

Diese Auswanderergeneration und ihre Nachfahren bilden heute in Nordamerika und Europa eine griechische Diaspora, die sich nicht nur Wohlstand, sondern auch eine geachtete Position in ihrer neuen Umwelt erarbeitet hat. Bei vielen dieser Auslandsgriechen finden wir noch die Werte und die Arbeitsmoral, die schon für ihre Eltern in ihrem schwierigen Mutterland selbstverständlich waren. In dieser Diaspora lebt auch die zehrende Sehnsucht nach einer Rückkehr weiter. Das griechische Wort Nostalgie ist so alt wie Odysseus.

Das Dorfleben im alten Kreta hatte viele Seiten, die für den harten Alltag entschädigten. Man überlebte, weil man zu einer Dorfgemeinschaft gehörte, in der etwa strikte Regeln für die Verteilung des Wassers galten. Streitigkeiten wurden durch die älteren Mitglieder geschlichtet, ohne dass man die Polizei oder ferne Gerichte einschalten musste. Dieses Vertrauen in die dörfliche Gerechtigkeit war aber nicht unbegrenzt, wie die blutigen Familienfehden zeigen, die oft über Generationen andauerten. Und noch heute kommt es vor, dass ungezügelte Leidenschaften alle sozialen Bindungen zerfetzen – außer den elementarsten, den Familienbanden.

Im Dorf meiner Großeltern feierte man nicht nur die Feste gemeinsam, man half sich auch bei Arbeiten wie der alljährlichen Schafschur. Das Mitwirken an einem größeren Ganzen wurde als völlig selbstverständlich empfunden. Ich erinnere mich noch, wie peinlich es meinem Großvater war, als man ihm für seine Beteiligung am Widerstand gegen die deutsche Okkupation eine Rente zuerkannte. „Das war doch meine Pflicht“, meinte er. Derselbe Mann entwickelte eine enge Freundschaft zu einem deutschen Professor, der nach dem Krieg für seine Studenten historische Exkursionen nach Kreta organisierte.

Menschen wie mein Großvater, die sich in ihrer Gemeinschaft aufgehoben und mit sich selbst im Reinen fühlten, verstanden es noch, andere Menschen nach dem zu beurteilen, was sie sind, statt nach dem, was sie darstellen. Solche einfachen Dinge müssen wir jetzt in Griechenland wieder lernen.

Beruflich zu reüssieren war nie einfach in diesem Land, wo man furchtbar viel Zeit vergeudet, um mit der staatlichen Bürokratie selbst die einfachsten Dinge zu regeln. Und doch wurde das Leben für die meisten Menschen bequemer und angenehmer, als sie es sich je ausgemalt hätten. Aber damit sind sie auch, selbst in entlegenen Dörfern, viel individualistischer geworden. Sie sind nicht mehr darauf angewiesen, einen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten und dafür auch Einschränkungen hinzunehmen. In diesem Sinne haben sich die traditionellen Bindungen aufgelöst.

Die Krise rührt aber nicht daher, dass die Leute zu gierig geworden wären. Ihre wahre Ursache ist der klientelistische Pakt zwischen den Politikern und den Wählern, der das gesamte öffentliche Leben prägt und unterminiert. Die unsinnigen Schulden, die unsere Regierungen machten, dienten vor allem dazu, dieses System zu schmieren, also die eigenen Interessen und die ihrer Anhänger zu bedienen. Dieser Klientelismus blühte auch auf lokaler Ebene. Etwa wenn kretische Provinzpräfekte polizeiliche Ermittlungen und Gerichte beeinflussten, um Schafdiebe und andere Delinquenten zu schützen, die zu ihrer Klientel gehören. Oder wenn Bauern die Zahl ihrer Tiere oder ihrer Olivenbäume falsch taxierten, um EU-Subventionen abzugreifen.

An diesem System hat sich leider noch nicht viel geändert. Auch heute, im sechsten Jahre der Krise, sind der Staat und seine Institutionen noch immer außerstande, das Prinzip der Rechtsgleichheit durchzusetzen, die für Korruption und Vergeudung Verantwortlichen zu bestrafen, die Ärmsten und Bedürftigsten mit dem Nötigsten zu versorgen. Das Resultat ist eine Staatsverdrossenheit und ein allgemeiner Zynismus, der zum Zusammenbruch der alten populistischen Parteien geführt hat, sich zugleich aber auch in der Suche nach neuen populistischen Parteien äußert, die den Wähler am meisten versprechen und die alte politische Klasse am lautesten verdammen.

Aber zugleich regen sich gesellschaftliche Kräfte, die nach eigenen Lösungen suchen. Zum Beispiel, indem sie neue kommunale Strukturen entwickeln oder auch die alten wiederbeleben. In Kreta und anderswo organisieren die Gemeindeverwaltungen und die Kirche tägliche Mittagstische für tausende arme Leute. Und es entstehen ständig neue Projekte. Ambulante alternative Kliniken, in denen Ärzte, Apotheker und Krankenpfleger freiwillig mitarbeiten, versorgen Patienten, die keine Krankenversicherung mehr haben. Es werden alternative Märkte veranstaltet, Nachhilfestunden organisiert, Medikamente gesammelt oder Migranten und Flüchtlinge „ohne Papiere“ betreut.

Im Rhythmus der Krise ist ein Netzwerk von Projekten entstanden, das viele Menschen vor dem sozialen Absturz bewahrt. Der Staat ist damit nicht aus seiner Verantwortung entlassen, aber in Zeiten wie diesen sind solche Hilfsangebote oft die letzte Rettung.

Die selbstverständliche Solidarität macht sich auch im Alltagsleben bemerkbar. Die Leute sind hilfsbereiter geworden; das Gespür und die Aufmerksamkeit für die Sorgen der anderen sind weiter verbreitet als vor Beginn der Krise. Ende November strandete vor der Südküste Kretas ein Schiff mit fast 600 Flüchtlingen, die meisten von ihnen aus Syrien. In Hafen der Kleinstadt Ierapetra, wo sie abgesetzt wurden, warteten freiwillige Helfer, die sie mit Kleidern, Decken und Lebensmitteln versorgten.

Irgendwann mal fragte ich meine Großmutter Polyxeni, warum sie immer darauf achte, dass eine Portion im Topf übrig bleibt. „Das ist für den unerwarteten Gast“, sagte sie. Meine Großeltern würden sich, denke ich, in Griechenland heute mehr zu Hause fühlen als in den leichtlebigen Zeiten vor der Krise.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Nikos Konstantaras ist Kolumnist der Tageszeitung Kathimerini.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.12.2014, von Nikos Konstantaras