16.06.1995

Die Komplizenschaft der Vertuscher

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Die Komplizenschaft der Vertuscher

TAUSENDE von Toten, und sie haben nichts bewegt? Mehr als zehn Jahre nach der Industriekatastrophe im indischen Bhopal sind noch immer keine Lehren aus einer Tragödie gezogen worden, für die das amerikanische Unternehmen Union Carbide verantwortlich ist. Unvermindert errichten die multinationalen Gesellschaften Pestizidfabriken und andere umweltgefährdende Anlagen in der Dritten Welt, wo sie im allgemeinen kaum Bestimmungen einzuhalten haben. Um so bedeutender ist die Areit von lokalen und internationalen Organisationen, die wollen, daß Bhopal nicht vergessen wird.

Von MOHAMED LARBI BOUGUERRA *

Während Liberalisierung, Privatisierung und Globalisierung auf Hochtouren laufen und die multinationalen Unternehmen in Branchen mit hohem ökologischen Risiko um die Wette investieren, ist es dringender denn je, das Gedächtnis an die Katastrophe von Bhopal wachzuhalten. In der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984 entwich eine riesige Giftgaswolke aus der Pestizidfabrik, die Union Carbide in dieser indischen Stadt betrieb: Es war die folgenreichste Industriekatastrophe aller Zeiten. Das Werk wurde zwar nur geringfügig beschädigt, aber der Unfall forderte 6.600 Menschenleben – nach offiziellen Angaben. Von regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) wird die dreifache Zahl genannt.1 Sechshunderttausend Menschen leiden an schweren Folgeschäden und brauchen ständige medizinische Betreuung; noch heute tötet das Methylisocyanat wöchentlich fünf Personen.

Das Fabrikgebäude wirft immer noch seinen unheilvollen Schatten auf die Slums von Jaya Prakesh Nagar, die schrillen Reklametafeln für Unkrautvertilgungsmittel allerdings sind entfernt worden. Auf den Mauern des aufgelassenen Gebäudes prangen Bilder von einem am Galgen aufgeknüpften Warren Anderson (damaliger Firmenchef von Union Carbide), und Graffiti verkünden: „UC Killer!“ Gedenktafeln aber gibt es nicht, einzig die Statue einer Mutter, die ihren toten Säugling in den Armen hält – das Werk eines niederländischen Künstlers, dessen Eltern in den Gaskammern der Nazis ums Leben gekommen waren.2 Staatlicherseits scheint die Tragödie bereits vergessen. Sie traf die Ärmsten der Armen – die, die im Freien oder in schlecht verschlossenen Behausungen schliefen und dem Giftgas am meisten ausgesetzt waren. Was Union Carbide betrifft, so hat man alle agrochemischen Betriebe verkauft und annähernd 80 Prozent des Personals entlassen, und 1990 konnte der neue Unternehmensleiter Robert Kennedy erklären, daß „Bhopal heute eine alte Geschichte“ sei und der „Zwischenfall von Bhopal“ die Geschäfte des Unternehmens „kaum beeinträchtigt“ habe.3

Die Voraussetzungen für eine Katastrophe waren seit geraumer Zeit gegeben; Presse und Personal hatten sich – besonders nachdem 1982 aus einem Leck Gas entwichen und ein Arbeiter ums Leben gekommen war – unablässig warnend zu Wort gemeldet. Vergeblich: Zu mächtig war die Protektion, die das Unternehmen von allen Seiten genoß.4 Die Tragödie ist in Wirklichkeit die Folge von schadhafter Technologie, von jahrelanger Mißwirtschaft im Umgang mit einer gefährlichen Anlage, die nur mit einem Drittel ihrer Kapazität arbeitete, von diskretem Einvernehmen zwischen Behörden und einer Unternehmensleitung, die vor Sicherheitsmängeln die Augen verschlossen, und schließlich von fehlenden Rettungsdiensten – während die Bevölkerung keine Ahnung hatte, welche gefährlichen Güter in dieser Anlage verarbeitet wurden.

Hauptverantwortlich für das Desaster waren außerdem die Politiker, die industrielle Großprojekte begünstigten, Ämter, die lieber Akten aufhäufen, statt über die effektive Umsetzung von Gesetzen zu wachen, und die Zwänge einer „Grünen Revolution“, die eine Landwirtschaft nach amerikanischem Vorbild fordert, mitsamt der Abhängigkeit von agrochemischen Produkten, Traktoren, veredeltem Saatgut und Bewässerungsanlagen – alles Dinge, die nur aufbringen kann, wer über entsprechende Finanzen verfügt. Sträflich auch die Passivität der Behörden angesichts der Politik multinationaler Unternehmen, die industrielle Risiken in ferne Länder auslagern.5

Fünf Jahre benötigte die indische Regierung, um Union Carbide 470 Millionen Dollar abzuringen. Ursprünglich hatte sie das Siebenfache gefordert. Das amerikanische Unternehmen ließ keinen juristischen Kniff aus: zunächst blies es zum Gegenangriff und versuchte dem indischen Staat die Verantwortung an der Tragödie zuzuschieben; dann brachte es die Hypothese eines Sabotageaktes auf6, und schließlich bot es 300 Millionen Dollar7 – unter der Bedingung, daß das Verfahren eingestellt werde. Überdies weigerte sich das Unternehmen stets, der Auflage des Obersten Gerichtshofs des Bundesstaates Madhya Pradesh Folge zu leisten und 190 Millionen Dollar Kaution (bis zum Gerichtsentscheid) zu zahlen.

Dennoch gab der Oberste Gerichtshof am 14. Februar 1989 sein Plazet zu diesem Kuhhandel und wusch die amerikanische Firma und deren Verantwortliche von jeder Schuld rein. Der Schadensersatz von 470 Millionen Dollar, so hat man errechnet, belastete jede Union- Carbide-Aktie mit ganzen 43 Cent.8 Eine lächerliche Summe, bedenkt man die Zahl der Todesopfer, die Umweltschäden, die medizinische Versorgung der Überlebenden, die Langzeitwirkung des Gases... Verständlicherweise waren die NGOs empört; sie erreichten, daß die höchste juristische Instanz ihren Beschluß 1991 revidieren mußte.

Der Oberste Gerichtshof mußte die juristische Verantwortlichkeit von Union Carbide wiederherstellen und einen Haftbefehl gegen Warren Anderson ausstellen – den umzusetzen offenbar niemand Eile hat – und schließlich die indischen Guthaben der Firma einfrieren.9 Zuvor hatte das Gericht nach öffentlichen Protesten bereits gegen die Regierung vorgehen müssen, die das Vertragswerk über eine gütliche Einigung unterzeichnet hatte, ohne die Opfer zu Rate zu ziehen.10

Professor an der naturwissenschaftlichen Fakultät von Tunis und Mitglied des Centre national de recherches scientifiques, Paris.

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Mohamed Larbi Bouguerra