13.10.1995

Die Spirale der Gewalt

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Die Spirale der Gewalt

Liamine Zéroual, der derzeitige algerische Staatschef, wird bei den Präsidentschaftswahlen am 16. November dieses Jahres erneut kandidieren. Da es keinen Gegenkandidaten gibt, der auch nur geringe Aussichten auf Erfolg hätte, wird er wahrscheinlich sein eigener Nachfolger. So bleibt das Land in den Händen der Armee. Derweil nimmt die Gewalt im Lande zu, und es besteht wenig Hoffnung, daß mit dieser Wahl eine Rückkehr zum Frieden eingeleitet würde. Der anhaltende Konflikt beunruhigt alle Mittelmeerlnder,insbesondere Frankreich, das erst unlängst von einer Serie abscheulicher Attentate erschüttert wurde, deren Urheber nach wie vor unbekannt sind. Nur eine nationale Versöhnung könnte die algerische Tragödie beenden. Zwar sind die Dialogversuche zwischen den Machthabern und den Islamisten bislang gescheitert, die Kontakte jedoch sind nicht abgebrochen, auch wenn die Politiker beider Lager immer wieder von den jeweiligen Militärs gebremst werden, für die es nichts anderes gibt als Sieg oder Niederage.  ■ Von LHOUARI ADDI *N*

ALS die Militärs im Januar 1992 die Ergebnisse der Parlamentswahlen, aus denen die Islamische Heilsfront (FIS) als Sieger hervorgegangen war, annullierten und den zweiten Wahlgang absagten1, erahnten sie nicht, daß sie damit eine neue Welle der Gewalt heraufbeschworen und auf den erbitterten Widerstand der Islamisten stoßen würden. Sie gingen zwar davon aus, daß die Geistlichen in den Moscheen versuchen würden, die Menge aufzuwiegeln, aber sie rechneten nur mit kleineren Straßenunruhen, die sich nach ein paar Monaten schon legen würden – wenn man nur geeignete repressive Maßnahmen ergriff und die Rädelsführer hinter Gitter brachte. Zu diesem Zweck waren im Süden des Landes bereits „Sicherheitslager“ angelegt worden.

In Wahrheit jedoch verschlimmerte sich die Situation rapide und entglitt der Kontrolle der Sicherheitskräfte. Auf dem Land gewann die FIS immer mehr an Terrain, und gleichzeitig wuchs der Terrorismus in den Städten, dem vor allem Ordnungskräfte zum Opfer fielen. In vielen Kleinstädten und Dörfern mußte sich die Polizei Tag und Nacht verbarrikadieren, um sich gegen die spektakulären Überfälle der Islamisten zur Wehr zu setzen.2

Gleichwohl waren die Militärs 1992 und 1993 noch fest davon überzeugt, daß sie den Terrorismus in den Griff bekommen würden. Sie unterschätzten dabei drei Faktoren: erstens die Unbeliebtheit des Regimes und den starken Rückhalt, den die FIS bei einem Teil der Bevölkerung fand; zweitens die verheerende Auswirkung der Wahlannullierung, in deren Folge die Islamisten – ihrem lange gehegten Wunsch folgend – zu den Waffen griffen; drittens schließlich unterschätzten sie den Zusammenhalt der Familien und Clans, der durch die harten, weit über die Gesetze hinausgehenden Repressionsmaßnahmen noch enger wurde und immer mehr Menschen zu Rebellen machte.

Da es ihnen nicht gelang, den Bürgerfrieden wiederherzustellen, knüpften die Militärs im Winter 1993/94 einen Dialog mit den Parteien an. Sie schlugen vor, einen Regierungsblock zu bilden, in dem jede politische Partei – auch die FIS – vertreten sein sollte; einzige Voraussetzung war, daß der Terrorismus explizit verurteilt und bekämpft werden sollte und die Armee das Recht hätte, das Staatsoberhaupt zu designieren. Im Gegenzug wollte sie den Islamisten einige Ministerien überlassen, mit Ausnahme des Verteidigungs-, des Innen- und des Außenministeriums, die ihnen denn doch zu wichtig erschienen.

Die FIS hat dieses Angebot abgelehnt, denn ihr Anliegen war es, tatsächliche Macht zu erlangen; sie boykottierte die Nationale Einigungskonferenz, die am 25. und 26. Januar 1994 in Algier stattfand und an deren Ende Liamine Zéroual zum Präsidenten ernannt wurde. In seiner Antrittsrede versprach er, den Terrorismus auszurotten, nicht ohne jedoch ein Türchen offenzuhalten für den Dialog.3

Nach Monaten massiver Repression und unerbittlichen Terrors wurde Ende des Sommers 1994 ein zweiter Versöhnungversuch unternommen. Die Führer der FIS, Abassi Madani und Ali Benhadj, wurden aus der Haft entlassen und durften nach Hause, standen allerdings weiter unter Arrest. Da sie in ihren Wohnungen Telefon und Faxgerät hatten, konnten sie mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen; zudem war es ihnen erlaubt, Vertreter ihrer Partei zu empfangen, von denen einige soeben erst freigelassen worden waren. Doch Ende Oktober wurden die Verhandlungen wieder abgebrochen, und Abassi Madani und Ali Benhadj kamen erneut ins Gefängnis. In einer Fernsehansprache erklärte Präsident Zéroual, daß die Islamisten keine Bereitschaft gezeigt hätten, zum Bürgerfrieden zurückzukehren, und daß folglich der Staat nun entschlossen sei, ihren Umtrieben ein für allemal ein Ende zu setzen.4

Im Juni 1995 war in der Presse erneut die Rede von einem Abkommen zwischen dem Staatsrat und der Führung der FIS, das angeblich kurz vor seiner Unterzeichnung stehe. Es hatte Geheimverhandlungen gegeben, und man hatte gehofft, die FIS dazu bewegen zu können, sich an den Präsidentschaftswahlen im November zu beteiligen. Doch auch dieser Einigungsversuch endete wie die beiden vorherigen: Im Juli erklärte ein Kommuniqué des Staatsrats die Verhandlungen für gescheitert und gab der Unnachgiebigkeit der Islamisten die Schuld.

Nach zwei Jahren der Repression (1992 und 1993), die ohne greifbares Ergebnis blieben, haben die Militärs den Gedanken aufgegeben, sie könnten die Islamisten kaltstellen und von der politischen Bildfläche verschwinden lassen. Seither versuchen sie, die FIS zu domestizieren und in die Macht einzubinden. Sie wissen heute, daß die Islamisten in weiten Teilen der Bevölkerung großen Anklang finden, und da ihr eigenes Regime unter einem Legitimitätsdefizit leidet, sind sie auf die Einbindung der FIS angewiesen. Daher dieses scheinbar widersprüchliche Verhalten: Einerseits will man sie durch massive Repression einschüchtern, und andererseits versucht man, mit ihnen zu reden, um einen Kompromiß zu finden, bei dem die wirkliche Macht in den Händen der Militärs bliebe. Die Strategie besteht also darin, sie militärisch zu schwächen, um aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln.

Auf den ersten Blick scheint es, daß man die Gespräche endgültig abgebrochen hat. Doch das ist keineswegs sicher. Zwei Gegner, die erkennen, daß keiner von ihnen einen militärischen Sieg erringen kann, müssen sich in Verhandlungen um eine Beilegung der Krise bemühen, egal, wie festgefahren die Lage scheint. Bereits der bloße Gedanke an einen Dialog zeugt von einem Sinneswandel auf seiten der Militärs, die das Wort 1992 aus ihrem Vokabular gestrichen hatten und damals behaupteten, es gebe keine gemäßigten Islamisten. In den Zeitungen, die zu jener Zeit nahezu ausnahmslos auf diese Linie einschwenkten, wurde jeder, der dazu aufrief, die FIS als politische Bewegung anzuerkennen und mit ihr gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, als „Verräter“ tituliert. Nachdem die repressive Sicherheitspolitik den Terrorismus aber eher verschärft als eingedämmt hat, zeigten zahlreiche Militärs sich zu Gesprächen mit dem politischen Flügel der FIS bereit, der sich seinerseits damit einverstanden erklärte, Regierungsaufgaben auch dann zu übernehmen, wenn die Souveränität bei der Armee verbliebe.

Trotz des wiederholten Scheiterns ist der Dialog also noch nicht völlig blockiert, doch die politischen Führungsspitzen der beiden feindlichen Lager sind schwach und werden von ihren Kampftruppen gegängelt. Präsident Zéroual etwa ist längst nicht mehr Herr über die Terrorismusbekämpfung, deren heutige Ausmaße so gar nicht zu der von ihm vertretenen allgemeinen Politik einer Rückkehr zum Bürgerfrieden passen. In Algerien gilt immer noch das Primat des Militärischen über das Politische, ein aus dem Befreiungskampf stammendes Prinzip, von dem das Land nicht loskommt und das auch die Islamisten übernommen haben.

Die militärischen Führer beider Lager aber, die sich der Kontrolle ihrer Politiker entziehen, haben nur ein einziges Ziel vor Augen, den Sieg, und danach bemißt sich ihre Strategie. So hat Präsident Zéroual zwar von der Armee den Auftrag, Verhandlungen anzuknüpfen, aber sie sagt ihm auch deutlich, wo die Grenze verläuft. Abassi Mandani und Ali Benhadj dürfen nichts entscheiden, ohne die Führer der bewaffneten Gruppen zu konsultieren. Beide Konfliktparteien vermeiden es, den eigentlichen Streitpunkt anzuschneiden: die Macht. Die Militärs halten sich für deren Ursprung und Quelle, während die Islamisten sich für die einzig legitimen Anwärter und die natürlichen Nachfolger halten.

Für die einen wie die anderen ist die politische Macht eine Kriegsbeute und keine öffentliche Institution. Für erstere ist sie ein Schutzschild gegen die Rachsucht des Volkes, das ihnen Inkompetenz und Korruption vorwirft, für letztere ein Instrument zur ideologischen und moralischen Säuberung, betrieben in der Absicht, eine fiktive religiös-kulturelle Identität sowie eine mythische Gesellschaft der Gleichheit und Brüderlichkeit durchzusetzen. In keinem Fall wird die Macht als Eigentum der Bürger begriffen; sie ist nichts anderes als eine mystische, durch rohe Gewalt erlangte Fähigkeit, die das Volk zwingt, sich den materiellen Interessen der einen oder den messianischen Visionen der anderen zu fügen. Da sie ein privates Gut ist, steht ihre Begründung nicht zur Debatte und schon gar nicht die Frage nach den Modalitäten einer Übergabe.

Die politischen Voraussetzungen für ernsthafte Verhandlungen sind also noch längst nicht alle erfüllt. Der Algerienkonflikt hat längst einen Selbstlauf angenommen: Beide Seiten sind nur mehr getrieben von dem Gedanken an den Endsieg. Der Logik ihrer Interessen folgend haben die Militärs gleichwohl Zugeständnisse gemacht, als sie den Islamisten Ministerposten anboten. Diese jedoch lehnen diese Art der Zusammenarbeit ab. Als Grund geben sie an, daß sie angesichts der weitreichenden vergangenen Repressionsmaßnahmen unmöglich nunmehr mit jenen, von denen sie inhaftiert und gefoltert wurden, eine Regierung bilden könnten. Sobald es nicht um Wirtschafts- und Sozialpolitik geht, sondern um das nackte Überleben der Akteure, nimmt die Auseinandersetzung mörderische Ausmaße an und folgt einer Logik der Selbstzerstörung, die nur enden kann, wenn es gelingt, den Gegner zu vernichten.

Gewalt und List bestimmen daher die Politik und lassen Recht und Vernunft keinen Raum. Wer von Recht und Vernunft spricht, spielt schon das Spiel des Gegners und wird sofort mit ihm gleichgesetzt. So herrschen denn Schrecken und Gewalt, List und Verstellung: Die Ordnungskräfte operieren vermummt, während die Islamisten Polizeiuniformen tragen und in dieser Verkleidung falsche Straßensperren errichten ... Dabei kursieren die wildesten Gerüchte über die Hintermänner der spektakulärsten Attentate.

Und doch wäre eine Rückkehr zum Bürgerfrieden, ja ein erneuter Demokratisierungsversuch nicht unmöglich, wenn alle politischen Kräfte übereinkämen, einen Zivilvertrag zu schließen, der die freie Meinungsäußerung garantierte und Festlegungen für die Zeit nach einem Machtwechsel enthielte. Trotz des Extremismus der Islamisten ist ein solches Abkommen unter der Bedingung möglich, daß dieser Prozeß transparent gemacht und die Bevölkerung über die Presse einbezogen wird. Diese Ausarbeitung sollte in zwei Schritten geschehen. Zuerst müßten sich die politischen Parteien – unter Einschluß der Islamisten – über den Inhalt und die Modalitäten der Umsetzung einigen; danach müßten dieselben Parteien ihn den Militärs vorlegen und mit ihnen eingehend darüber diskutieren, denn nur sie können seine Einhaltung garantieren.

Die Heftigkeit, mit der die Militärs auf die Grundsatzerklärung reagiert haben, die von allen Oppositionsgruppen im Januar 1995 in Rom unterzeichnet wurde5, macht allerdings deutlich, daß sie nur dann zu verhandeln gedenken, wenn sie die Bedingungen vorgeben können. Die Armee will sich weder durch einen Zivilvertrag noch durch Verhandlungen binden lassen. Sie zieht es vor, sich formlos mit den Islamisten zu arrangieren und ihnen dafür Kompensationen anzubieten.

Dieser Kuhhandel, wenn er denn zustande kommen sollte, wäre die schlechteste Lösung für Algerien, denn dann hätte man dasselbe Regime wie zuvor, das nur zusätzlich durch die Islamisten legitimiert wäre.6 Der Gegensatz zwischen den beiden Lagern ist nicht ideologischer Natur. Die Armee verteidigt nicht die Demokratie oder die Laizität; aufgrund der historischen Entwicklung war sie einmal die Quelle der Macht, und das möchte sie um jeden Preis bleiben. Die Islamisten jedoch wollen an der Regierungsform im Grunde gar nichts ändern, sondern kämpfen lediglich darum, die Offiziere durch ihre eigenen Leute zu ersetzen. Das Regime kann sicher noch einige Jahre überleben, wenn die Armee zusammenhält und die westliche Wirtschaftshilfe nicht ausbleibt (daher die große Bedeutung Frankreichs in diesem Konflikt); die Islamisten wiederum werden immer wieder neue Freiwillige finden, die im Untergrund kämpfen und in den Städten Terror verbreiten.

Gleichwohl kann keiner der beiden Protagonisten einen militärischen Sieg erringen. Je länger der Konflikt aber dauert, desto mehr Tote wird es geben und desto verbreiteter wird der Wunsch nach Rache sein. Der Haß droht die Gesellschaft und die politische Kultur unwiderruflich zu prägen. Das haben die klügeren Köpfe in beiden Lagern längst begriffen. Die politische Führung der FIS hat die Gefahren der Eskalation erkannt. Sie haben sich dem Zusammenschluß der Opposition hinzugesellt und die Grundsatzerklärung von Rom unterzeichnet. Das Motiv der Militärs, sich für die am 16. November 1995 geplanten Präsidentschaftswahlen zu engagieren, rührt daher, daß sie sich von einer politischen Legitimation des Staatschefs mehr Handlungsmöglichkeiten erhoffen; vieleicht – so hoffen sie – kann dieser dann eine Entwicklung vorantreiben, die von der Mehrzahl der politischen Akteure akzeptiert wird. Drei Szenarien sind denkbar. Zunächst die völlige Ausschaltung der Rebellen, was die Stellung der Militärs stärken würde, denn ihnen würde man das Verdienst zuschreiben, die fundamentalistische Gefahr gebannt zu haben; doch das ist höchst unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, wie sehr sich die Islamisten bereits etabliert haben. Zweite Möglichkeit: Es kommt zu gravierenden Unstimmigkeiten in der Führungsriege der Offiziere und infolgedessen zu einem Sturz der Armee; das aber ist kaum wünschenswert, denn dann käme einmal mehr eine Einheitspartei an die Macht, die ihre Legitimität aus der Niederlage ihres unbeliebten Widersachers herleiten würde. Schließlich das vergleichsweise beste Szenario eines erneuten Demokratisierungsversuchs, an dem sich die Islamisten beteiligen müßten, da sie sich in der Grundsatzerklärung von Rom dazu bekannt haben.

Zum ersten Mal nämlich hat die FIS in Rom ein Dokument unterzeichnet, in dem sie sich verpflichtete, einen geregelten Regierungswechsel zu respektieren; sie hat darin die Möglichkeit einer politischen Lösung der Krise und die Existenz anderer Parteien anerkannt. Vor den Parlamentswahlen im Dezember 1991 hatten nichtreligiöse Gruppierungen schon einmal versucht, die FIS zu diesen Zusagen zu bewegen, damals jedoch ohne Erfolg.

Der Widerstand der Gesellschaft

OB die Islamisten diese Zusagen einhalten, wird davon abhängen, ob die anderen Parteien eine wirkliche ideologische und politische Alternative anzubieten haben und ob sie den Wählern glaubwürdig erscheinen. Für die Zukunft Algeriens ist es jedenfalls wichtig, daß es den Islamisten nicht gelingt, durch Waffengewalt an die Macht zu kommen, denn dadurch würden sie für die nächsten zwanzig Jahre legitimiert, während ein Machtwechsel durch Wahlen diese Periode auf fünf Jahre begrenzen könnte.7 Dem äußeren Anschein zum Trotz gibt es in der algerischen Gesellschaft durchaus ein großes Widerstandspotential gegen eine religiöse Politik, doch man weigert sich, diesen Widerstand den Militärs zugute kommen zu lassen.

Die Grundsatzerklärung von Rom könnte aus der tiefen Krise heraushelfen und dem Demokratisierungsprojekt neuen Schwung verleihen, wenn die Armee dieses Dokument als eine für alle Parteien verbindliche, die Regeln für einen Machtwechsel definierende Vereinbarung anerkennen würde. Die feindliche Haltung des Militärs rührt vor allem daher, daß man bislang immer die FIS für das Scheitern des Dialogs verantwortlich machen konnte. Dieses Bild aber hat durch deren Teilnahme an Verhandlungen sowohl in der nationalen wie in der internationalen Öffentlichkeit einen Knacks bekommen. Darüber hinaus möchten die Offiziere einen Kompromiß mit den Islamisten finden, ohne die anderen politischen Kräfte einzubeziehen, betrachten sie doch die FIS als ihre „Privatsache“, als einen rebellischen Sohn, der sich schließlich schon der Autorität unterwerfen wird.

Andererseits muß man jedoch auch sagen, daß es der Grundsatzerklärung von Rom an Realitätssinn gebricht, wenn sie verlangt, eine Untersuchungskommission einzusetzen, um die Attentate und Terroranschläge aufzuklären. Das ist ein heikler Punkt, der die Rückkehr zum Bürgerfrieden gefährden könnte, denn er setzt voraus, daß die Täter beider Seiten dingfest gemacht und abgeurteilt werden. Das ist unmöglich. Wichtiger als der legitime Wunsch nach Gerechtigkeit sollte der Wunsch nach Frieden sein. Es geht nicht darum, die Toten zu rächen, sondern die Lebenden zu retten.

Der Wille der Machthaber, am 16. November 1995 Präsidentschaftswahlen durchzuführen, ist jedoch immerhin ein Zeichen, daß auch sie nach einer Lösung der Krise suchen. Durch diese Wahl wollen sich die Militärs vor der nationalen und internationalen Öffentlichkeit legitimieren und sich zudem verfassungsmäßig absichern für den Fall, daß es zu Verhandlungen mit den Islamisten kommt. Denn ein gewählter Präsident, den die Armee anerkennt und unterstützt, wird seinerseits die Offiziere schützen, wenn sich allmählich ein Wechsel des Regimes anbahnt. Diese Beilegung der Krise ist indes nur plausibel, wenn die wichtigsten politischen Parteien dieses Szenario akzeptieren – was eben nicht der Fall ist.

Überdies scheinen die Militärs nicht einmal imstande zu sein, ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten. In einem Klima der Gewalt aber können die Kandidaten keinen Wahlkampf durchführen, können keine offenen Diskussionen über Programme stattfinden, kann sich die Presse nicht offen äußern, können die politischen Parteien keine Versammlungen abhalten, können die Wahlleiter nicht die Urnen kontrollieren und so weiter. Ja, sogar derjenige, der schlicht seine Stimme abgeben will, begibt sich unter Umständen in Gefahr.8 Unter solchen Bedingungen dürfte es so viele Stimmenthaltungen geben, daß die Wahl zur Farce wird. Am Ende wird dann der Wunschkandidat der Armee die Wahl gewinnen, und alles wird beim alten bleiben.

Der durch die Verfassung vom 13. Februar 1989 eingeleitete Demokratisierungsprozeß geriet ins Wanken, weil einerseits die souveräne Macht nie als eine öffentliche Institution begriffen wurde – als etwas, das vom Volk ausgeht –, und weil andererseits den Parlamentswahlen vom Dezember 1991 kein Zivilvertrag vorherging, in dem sich die politischen Kräfte, die nach der Macht strebten, dazu verpflichtet hätten, den Machtwechsel auch zu respektieren, sowie dazu, keinesfalls das Leben der ehemaligen Führer und der Armeeoffiziere zu bedrohen. Bei allen Übergängen zur Demokratie, insbesondere in Lateinamerika, gab es einen solchen Vertrag, der Leben und Würde der politischen Führer garantierte.9

Demokratie ist die – vom Volk kontrollierte – Ablösung der Eliten an der Spitze des Staates, und das setzt voraus, daß keiner der Konkurrenten die Macht für sein Privateigentum hält. Wenn die an der Macht befindliche Elite sich im Falle eines Wechsels physisch bedroht glaubt, wird sie um jeden Preis versuchen, diesen Wechsel zu verhindern. Man kann nur hoffen, daß die Protagonisten schließlich eine gewisse Reife an den Tag legen und erkennen, daß in der Politik alles verhandelbar ist, wenn es darum geht, den Bürgern den Schrecken eines blutigen Terrors und einer Repression zu ersparen, die sehr viel mehr mit dem jus talionis zu tun haben als mit wirklichem Recht und Gesetz.

Lahouari Addi

dt. Andreas Knop

1 Vgl. Lahouari Addi, „Algérie: le dérapage“, Le Monde diplomatique, Februar 1992.

2 Vgl. die Artikel von Florence Beaugé und Lyes Si Zoubir in den Ausgaben März 1993 und Mai 1994 von Le Monde diplomatique.

3 Vgl. El Watan, 2. März 1994.

4 Ansprache von Liamine Zéroual zum 1. November 1994 (Nationalfeiertag: „Tag der Revolution“), abgedruckt in El Watan, 2. November 1994.

5 Vgl. den Text des sogenannten Dokuments von Rom, Le Monde diplomatique, März 1995. Siehe auch Ignacio Ramonet, „Pacte pour l'Algérie“, Le Monde diplomatique, Februar 1995.

6 Darauf hat bereits Rémy Leveau hingewiesen, in „Le Sabre et le turban“, Paris (Boulin) 1993.

7 Vgl. hierzu Lahouari Addi, „L'Algérie et la démocratie. Pouvoir et crise du politique dans l'Algérie contemporaine“, Paris (La Découverte) 1994.

8 In den Arbeitervierteln kursieren Gerüchte, wonach die Islamisten jedem mit Repressalien drohen, der zu den Urnen geht. Vgl. José Garçon, „Les Algériens appelés aux urnes dans la terreur“, Libération, 11. September 1995.

9 Vgl. Guillermo O'Donnel und Philippe C. Schmitter, „Transitions from Authoritarian Rule: Tentative Conclusions about Uncertain Democracies“, Baltimore (Johns Hopkins University Press) 1986.

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Lahouari Addi