12.05.1995

Übermenschliche Kräfte

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Übermenschliche Kräfte

IN zwei Romanen – „Robur le Conquérant“ (Robur der Eroberer, 1886) und „Le Maitre du monde“ (Der Herr der Welt, 1904), die zu dem Zyklus „Außergewöhnliche Reisen“ gehören, erzählt Jules Verne von ein und derselben Person – Robur, ein Ingenieur, träumt davon, sich die neuen technologischen Errungenschaften nutzbar zu machen, um „Herr der Welt“ zu werden.

Im zweiten Roman entwickelt Robur einen furchterregenden Apparat, das „Grauen“, ein Panzer-Dampfer-Unterwasser-Flugzeug, das gleichermaßen auf der Erde und zu Wasser fahren, unter See tauchen und durch die Lüfte fliegen kann. In einem Brief, den er an die Regierung der Vereinigten Staaten richtet, droht er der ganzen Welt:

„Dieser Apparat ist und bleibt mein Besitz, und ich werde ihn nach meinem Gutdünken einsetzen.

Mit ihm verfüge ich über die Macht auf der gesamten Erde. Es existiert keinerlei menschliche Kraft, die in der Lage wäre, sich ihm unter welchen Umständen auch immer entgegenzustellen.

Ich warne jeden, der versucht, ihn in seine Gewalt zu bringen! Er ist für jedermann unerreichbar, und zwar auf immer und ewig. Alles Böse, das jemand mir zuzufügen gedenkt, werde ich ihm hundertfach heimzahlen.

Den Preis, den man mir ausgesetzt hat, verschmähe ich, ich brauche das Geld nicht. Sollte es mir im übrigen eines Tages in den Sinn kommen, Millionen oder Milliarden zu meiner Verfügung haben zu wollen, so müßte ich nur meine Hand ausstrecken und könnte sie mir nehmen.

Der Alte und der Neue Kontinent sollen es wissen – sie vermögen nichts gegen mich, ich aber alles gegen sie.

Und diesen Brief unterzeichne ich mit: Herr der Welt.“

SO also lautete der Brief an die Regierung der Vereinigten Staaten, der nicht über den üblichen Postweg ging, sondern direkt an der Polizeistation deponiert wurde. (...) Aus seinem Tonfall verspürte man das unerschütterliche Vertrauen in sein Genie, das ihn beseelte, und den unendlichen Hochmut, den ihm seine übermenschlichen Kräfte verliehen.

Nach der Zurückweisung der amerikanischen Angebote durch den Kapitän des Grauens, erhitzten sich die Gemüter zusehends. Man spürte es im Weißen Haus und im Ministerium: die öffentliche Meinung zwang zum Handeln... Gewiß, aber wie? Wo sollte man den Herrn der Welt suchen, und wenn er irgendwo auftauchte – wie sollte man seiner habhaft werden? Vieles blieb unerklärlich in seinem Fall. Kein Zweifel allerdings, daß seine Maschine über eine außergewöhnliche Geschwindigkeit verfügen mußte. Aber wie war es ihm gelungen, ohne Kontakt nach außen in den See von Kirdall einzudringen, und wie war er dort wieder herausgelangt? Zuletzt hatte man ihn auf dem Oberen See ausgemacht, und – ich wiederhole –, ohne daß man ihn auf der Strecke von über 800 Meilen bemerkt hätte, die zwischen den beiden Seen liegt.

Wirklich, ein Skandal, lauter unerklärliche Dinge! Ein Grund mehr, die Sache auf die Spitze zu treiben... Da die Dollarmillionen nichts vermochten, mußte man auf Gewalt zurückgreifen... Der Erfinder und seine Erfindung waren nicht käuflich, man hatte gesehen, mit welch hochfahrenden Worten und Drohungen er seine Ablehnung vorgetragen hatte. Nun denn! So mußte man ihn zum Übeltäter erklären und jedes Mittel, ihn unschädlich zu machen, gutheißen! Dies gebot die Sicherheit Amerikas und der gesamten Welt... Die Hypothese, daß er bereits bei irgendeiner Katastrophe zugrunde gegangen sei, konnte seit seinem Brief vom 15. Juli als widerlegt gelten. Er war lebendig, quicklebendig, und sein Leben stellte eine öffentliche, allgegenwärtige Gefahr dar.

UNTER dem Einfluß dieser Gedanken veröffentlichte die Regierung folgende Note: „Da sich der Kommandant des Grauens weigert, mit uns über eine Abtretung seines Geheimnisses zu verhandeln, obgleich wir ihm einen Preis in Millionenhöhe aussetzten, und da der Gebrauch, den er von seiner Maschine macht, eine Gefahr darstellt, gegen die man sich unmöglich wappnen kann, wird der besagte Kommandant außerhalb des Gesetzes gestellt. Alle Maßnahmen, die zur Vernichtung seines Apparates und seiner Person führen, werden hiermit im vorhinein für rechtmäßig erklärt.“

Der Krieg war erklärt, ein Krieg bis zum Äußersten, gegen diesen Herrn der Welt, der glaubte, einer ganzen Nation – der amerikanischen Nation – die Stirn bieten zu können.

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Jules Verne