12.05.1995

Die Verantwortung Frankreichs

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Die Verantwortung Frankreichs

Von

JEAN

CHESNEAUX

VOR einem halben Jahrhundert, im Jahr 1945, hatte die Welt den Krieg hinter sich – oder hoffte es zumindest. Für die ehemaligen französischen Kolonien in Indochina fing er erst an, und es dauerte lange, bis der Krieg dort zu Ende war. Frankreich darf seine Verantwortung gegenüber diesen Ländern nicht vergessen, denn dort kämpfte es letztlich für die Aufrechterhaltung seiner Macht, die es von Napoleon III. bis zur Vierten Republik ausgeübt hatte. Nun liegt über die Geschichte dieser „fragwürdigen Kolonisierung“ ein solider Überblick in französischer Sprache vor.1

Aus ihrer reichen Berufserfahrung schöpfend, berichten Pierre Brocheux und Daniel Hémery von der Geschichte der „indochinesischen Föderation“, die den alten Staaten Vietnam, Kambodscha und Laos im 19. Jahrhundert aufgezwungen wurde; sie stellen das Machtsystem, die Entwicklungsbarrieren, die Polarisierung zwischen „Eingeborenen“ und Kolonialherren dar, aber auch den Prozeß der sozialen und kulturellen Modernisierung, egal wie ungleich diese Modernisierung war. So entstanden schließlich jene politischen Kräfte, die die französische Herrschaft bedrängen, erschüttern und schlußendlich stürzen sollten: die „entwickelte“ Bourgeoisie Saigons, die radikale Jugend (man denke nur an Nguyen Ai Quoc, den künftigen Ho Chi Minh) und das aufkommende Proletariat.2 Als Reaktion auf die außerordentliche Härte der französischen Politik mußte der klassische Nationalismus hinter den vietnamesischen Kommunismus zurücktreten – was innerhalb Asiens eine Ausnahme darstellt, wie die Autoren hervorheben. Die Modernisierung ging jedoch einher mit der Aufrechterhaltung archaischer Strukturen. So blieb die Salzsteuer, in Frankreich 1789 abgeschafft, eine der Haupteinnahmequellen der Föderation. Die in China 1905 aufgehobenen konfuzianischen Prüfungen überlebten im Reich Annam bis 1916.

Besonders aufschlußreich sind die Kapitel und der Anhang über den kolonialen Kapitalismus. Zwar blühte der Handel, doch die Wirtschaft blieb die Achillesferse des Systems. „Der koloniale Fortschritt“, schreiben die Autoren, „forderte einen höheren Preis als der Nutzen, den die Kolonisierten von ihm zogen.“ Einer der höchsten Preise war der Krieg, in den sich Frankreich von 1945 bis 1954 verrannte.

Er begann 1945 als koloniale Befriedungsaktion, ab 1950 wurde er als französischer Beitrag zur Verteidigung der „freien Welt“ gepriesen und trug nicht nur erheblich zum vorzeitigen Untergang der Vierten Republik bei, sondern führte Vietnam, Laos und Kambodscha aus dem künstlichen „indochinesischen“ System und ermöglichte es ihnen, zu einer nationalen Identität zurückzufinden. Vor allem schuf er ein stark symbolhaltiges, nahezu paradigmatisches Muster des „revolutionären Volkskrieges“. Die französische Niederlage bei Dien Bien Phu 1954 hatte einen stärkeren Widerhall in der gesamten Dritten Welt als 1905 der Sieg des asiatischen Japans über das europäische Rußland. Der Aufstieg des Viet-Minh schien damals – genauso wie in Kuba oder im China Maos – die weltumspannenden Bestrebungen des Kommunismus zu bestärken, indem er über dessen europäische Herkunft hinausging. Dieser Krieg, der die französische Armee 59.745 Tote und Vermißte, darunter 2.005 Offiziere, kostete und in dem 500.000 Vietnamesen starben, besiegelte das Ende des französischen Kolonialreiches, schließen Pierre Brocheux und Daniel Hémery.

Die subversive Radikalität einer Niederlage

UNTER all diesen Aspekten läßt sich die subversive Radikalität dieses häufig vergessenen Kapitels französischer Zeitgeschichte ermessen – ebenso wie seine herausragende Bedeutung für den heute überaus aktiven „kolonialen Revisionismus“3, wie er erst kürzlich wieder in einem umfangreichen Buch4 vorgetragen wurde. Dieser Band gibt sich als „Fresko“, als „Saga“ aus, doch sind seine Auslassungen noch beredter als seine billigen Dramatisierungseffekte bezüglich der „Reisfeld-Rebellen“. Kein Wort über die französischen Provokationen, die zur Wiederaufnahme des Krieges führten. Kein Wort über die wesentlichen Arbeiten von Philippe Devillers5 hinsichtlich der französischen Verantwortung im Jahr 1946, die des Sozialisten Marius Moutet in Paris ebenso wie die des Gaullisten d'Argenlieu in Saigon. Kein Wort über die lächerlichen Illusionen der „Bao-Dai-Lösung“. Kein Wort über den Einsatz von Napalm, mit dem später so viele kämpfende Völker entsetzliche Erfahrungen machten. Wie François Partant zu sagen pflegte: „Man kann schlechte Literatur nie ausführlich genug lesen.“6

Im Krieg in Indochina hat die gesamte politische Klasse (inklusive Charles de Gaulle) versagt und die Intelligenz eine schwere Niederlage erlitten. Sind wir ein halbes Jahrhundert danach vor solch einem Versagen gefeit?

Doch es sollte noch etwas anderes – wenngleich ohne jede Selbstgefälligkeit – an dieser Stelle festgehalten werden: die Kluft nämlich zwischen dem „Mandat“ (im konfuzianischen Sinn), das die vietnamesischen Kommunisten damals von seiten ihres Volkes besaßen, und ihrer Unfähigkeit, den neuen Gefahren am Ende des 20. Jahrhunderts in Asien die Stirn zu bieten: außer Kontrolle geratende, überbevölkerte Millionenstädte, autoritäre und korrupte Bürokraten, die Trugbilder des schnell verdienten Geldes, der Druck der multinationalen Konzerne, der Niedergang der Demokratie, die Zunahme des Drogenhandels...

Kurz, die Fallstricke einer „Entwicklung“, die alles andere ist, nur nicht stabil, und zudem für die Gesellschaften ebenso wie für die Natur verheerende Folgen hat. Eine fehlende Vorbereitung auf die weltweite Krise, zu der Frankreich beigetragen hat, indem es Vietnam in einen endlosen Konflikt hineinzog.

1 Pierre Brocheux und Daniel Hémery, „Indochine, le colonialisme ambigu“, Éditions La Découverte, Paris 1994, 431 S.

2 Vgl. Daniel Hémery, „Ho Chi Minh, de l'Indochine au Vietnam“, Gallimard, Reihe „Découvertes“, Paris 1990.

3 Vgl. Jean Chesneaux, „Un autre révisionnisme“ in: Le Monde diplomatique, Mai 1991.

4 Georges Fleury, „La Guerre en Indochine“, 1945–1954, Plon, Paris 1994, 690 S.

5 Besonders sein „Paris-Saigon-Hanoi, archives de guerre 1944–1947“, Gallimard, Paris 1988.

6 Titel einer Rubrik, die er in dem Bulletin Champs du monde schrieb.

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Jean Chesneaux