12.05.1995

Afrikas Kino: Zeit der Rückeroberung

zurück

Afrikas Kino: Zeit der Rückeroberung

Von

CARLOS

PARDO *

ALLE zwei Jahre feiert Afrika in der Hauptstadt von Burkina Faso sein Kino. Das Panafrikanische Filmfestival von Ouagadougou (Fespaco) ist vor 25 Jahren entstanden und mittlerweile zu einem unschätzbaren politischen Hebel für den Staat Burkina Faso und zum „Stolz eines ganzen Kontinents“ geworden, auch wenn das Land den Filmen immer noch kein Leben nach dem Festival sichern kann.1 Immer mehr ist das Publikum auf die dem afrikanischen Kino gewidmeten Konferenzen beschränkt, deren zunehmende Zahl nur ein kleiner Brosamen ist. Nach der Abwertung des CFA-Franc ist das Aktionsfeld der wenigen bestehenden Vertriebsorgane dramatisch geschrumpft. Viele Kinosäle mußten schließen, und Raubvideokassetten haben den Markt überschwemmt.

Außerhalb anglophoner Länder wie Simbabwe und Nigeria bleibt Westafrika die aktivste Region, was die Produktion betrifft (hauptsächlich Mali, Burkina Faso, Côte d'Ivoire und Senegal). Genau wie Afrikas politisches Feld noch weitgehend von den ehemaligen Kolonialmächten bestimmt wird, wird auch seine Kinoproduktion wesentlich von den früheren Metropolen und von der Europäischen Union finanziert.

„Stellen Sie sich ein menschliches Wesen vor, das in einer riesigen Mülltonne herumstolpert, der Kopf steckt in den Wolken, er ist unfähig, auch nur die geringste Kontrolle über die Bewegungen seines Körpers auszuüben. Dieses Wesen würde man Chaos nennen.“ Der Kameruner Jean-Marie Teno2 versteift sich in seinem Film „La tête dans les nuages“ (Der Kopf in den Wolken) darauf, die Übel der modernen Welt und die Regression der afrikanischen Gesellschaften zu unterstreichen. Also setzt er den Schwerpunkt auf das informelle System. Dieser kurze Dokumentarfilm wurde in Yaoundé gedreht, aber er könnte ebensogut eine ganze Menge anderer afrikanischer Städte beschreiben: Abfallhaufen am Straßenrand, arbeitslose Akademiker, unbezahlte Beamte, zur Norm erhobene Korruption, ständiges Elend. Für Jean-Marie Teno sind „die Kolonisierung, die zivilisatorischen Gedanken, die Unabhängigkeiten, dann das humanitäre Gerede nur Vorwände, Theaterstücke, damit Afrika jener Ort bleibt, den die ausländischen Mächte in Seelenruhe ausplündern können“. Wohnt er einer neuen Kolonisierung bei? „Seit dem Berliner Mauerfall haben wir im Osten Regierungsformen stürzen sehen, die in Afrika Bestand haben. Die Wirklichkeit wird vom Gerede über Demokratie und Mehrparteiensystem verdeckt. Wenn der Druck von unten zu stark wird, kommt es zu einer bequemen Situation wie in Ruanda. Der Aspekt des Stammeskriegs wird herausgehoben, und der Westen schließt daraus, daß man vielleicht doch hingehen und Ordnung hineinbringen müßte. Und dann rückt eine Rekolonisierung in den Rahmen des Denkbaren.“

Auf Mauern gemalte Folterszenen bebildern den Vorspann des sehr schönen Kurzfilms „Un taxi pour Aouzou“ (Taxi nach Aouzou) von Issa Serge Coelo aus dem Tschad. Ein Tag im Leben des Taxifahrers Ali Mahammat Nour liefert einen Vorwand zum Besuch der von den jahrelangen Kriegswirren immer noch traumatisierten Hauptstadt des Tschad. N'Djamena bedeutet „Ort, an dem man sich ausruht“, doch selbst zu Friedenszeiten findet man dort nur schwer Erholung.

Coelo filmt die Stadt und ihre Einwohner mit offensichtlichem Vergnügen und erfaßt die Wirklichkeit in kleinen Dosen, wobei er dem Zuschauer die Freiheit zur Interpretation läßt. So wird die Folter angesprochen, als Ali sich vorstellt: „Man nennt mich Arbatchar, nach der Folter, die ich während des Krieges erleiden mußte“, sagt er einfach. Die Bedeutung eines solchen Spitznamens wird nicht weiter erklärt. Es wird auch auf Mitleidsheischen und Tränendrüsendruck verzichtet, als Alis Frau kurz nach ihrer Niederkunft das Krankenhaus verlassen muß, weil es kein Bett mehr gibt. Das Taxi ist die Schnittstelle, an der die unterschiedlichen Elemente der Gesellschaft aufeinandertreffen, „irgendwo zwischen reich und arm“, ein Ort wahrer „Demokratie“, wie Ali einer seiner Kundinnen gegenüber betont. In Afrika hat Demokratie nicht die gleiche Bedeutung, je nachdem, welches Land sie für sich beansprucht. Die Dokumentarfilmerin Anne-Laure Folly aus Togo3 thematisiert mit „Femmes aux yeux ouverts“ (Frauen mit offenen Augen), die wesentlichen Tabus jener Gesellschaften, in denen Frauen allzu oft das Wort verwehrt wird. Die von der Filmemacherin angesprochenen Frauen nehmen Stellung zu brennenden Fragen. Zum ersten Mal unterliegt das Aids-Problem nicht einem fremden Analyseschema. Die verschiedenen vom Westen aufgepropften Verhütungskampagnen verlieren hier jede Glaubwürdigkeit. Auf sexueller Ebene unterliegen die Frauen den Entscheidungen und Gelüsten der Männer, und das Thema der weiblichen Lust wird nicht einmal angeschnitten. „Die Frau ist zum Gebären da“, unterstreicht eine der Befragten, deshalb kann es beim Geschlechtsverkehr nicht um Verhütung gehen.“ In manchen Ländern sind die Frauen besser gestellt, wie zum Beispiel in Benin (und Ghana und Nigeria usw.), wo zum Staunen der Männer die „Mama Benz“ den Markt beherrschen, Stoffhändlerinnen, die jährlich mehrere Millionen Dollar umsetzen und deren Spitzname daher rührt, daß sie Luxuswagen fahren.

DAS moderne Leben ist das Lieblingsthema von Dani Kouyaté, dem Regisseur des sehr schönen Films „Keita, l'héritage du griot“ (Keita, das Erbe des Griot). Der junge Filmemacher aus Burkina ist selbst Sohn eines Griot und stellt sich Fragen zur Rolle jener traditionellen Geschichtenerzähler, die zu Sängern von Lobeshymnen geworden sind und die eigentliche Bedeutung ihrer Kunst vergessen haben. „Keita“ ist ein bestechendes Märchen: ein alter Griot bekommt den Auftrag, einem Kind aus der Stadt die Herkunft seiner Vorfahren zu enthüllen, der Familie des Begründers des Reiches Mali, Sundjata Keita. Zur großen Verzweiflung seiner Eltern und seines Lehrers ist der kleine Mabo wie gebannt von dieser Legende und verläßt die Schule. „Die Welt ist alt, die Zukunft entsteht aus der Vergangenheit“, mahnt der alte Griot. Kann eine Gesellschaft die Zukunft angehen, wenn sie ihre tiefen Wurzeln verleugnet? Wie kann man Tradition und Moderne verbinden? Die Geschichte des Griot verdiente es, nicht an einem Tag oder einem Monat, sondern über ein ganzes Leben lang erzählt zu werden, aus genau diesem Grund weigert sich Kouyaté, eine endgültige Antwort zu geben.

„Die Geschichte steht wie der Wind niemals still.“ Dieser Satz aus „Keita“ könnte auch auf den Film „Guimba“ des Maliers Cheick Oumar Sissoko angewandt werden. Wieder ist es der Griot, der Guimba beschreiben soll, einen allmächtigen Tyrannen und Zauberer. Diese Metapher erinnert selbstverständlich an General Moussa Traoré, den 1991 gestürzten malischen Diktator, der sich mit den besten Zauberern des Landes umgab. „Wir stehen heute an der Scheidelinie zwischen zwei Afrikas“, erklärt Sissoko. „Das Afrika der Tyrannen, das noch nicht tot ist, und das Afrika der Demokratien, das die größten Schwierigkeiten hat, Fuß zu fassen.“ „Guimba“ wurde in der mystischen Karawanenstadt Djenné gedreht. Es ist ein erstaunliches Schauspiel, das in sehr ironischer Weise Groteske und Tragödie vermengt, nach Art des Theaters der Bambara. Es vermischt verschiedene Sprachen (Bambara, Peul, Wolof, Soninke), untermalt von außerordentlich schönen Dekors und Kostümen.

Eine außerordentliche Schönheit wird auch in „Le Franc“ (Der Franc) dargeboten, dem berauschenden Phantasiespiel des Senegalesen Djibril Diop Mambéty (weitere Filme: „Touki Bouki“, „Hyènes“). Ein verkrachter, verarmter Musiker, der aus seiner elenden Wohnung herauszufliegen droht, zieht durch die durch die Abwertung des CFA-Franc verarmte Stadt, und nach einem possenhaften Kreuzweg glaubt er schließlich das Heil in Form eines Lotterieloses gefunden zu haben. Hier verbinden sich in einem verzweifelten Chaos die Verwestlichung des Alltags, die Verehrung des Gottes Mammon mit den Gebetsrufen der Muezzin.

1 Der jüngste Film des Maliers Souleymane Cissé, „Le Temps“, läuft im Wettbewerb auf den Filmfestspielen von Cannes.

2 Jean-Marie Teno ist der Autor von „Afrique, je te plumerai“. Vgl. „Sous l'oeil des caméras, métaphores d'un rêve“, Le Monde diplomatique, Mai 1993.

3 Anne-Laure Folly ist ebenfalls Autorin von „Femmes du Niger“ (1992).

* Journalist und Filmemacher

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Carlos Pardo