12.05.1995

Das tägliche Global Village

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Das tägliche Global Village

DIE vergangenen zwei Jahre hat Ägypten im Rhythmus der kalifornischen Leidenschaften gelebt. „The Bold and the Beautiful“ übertraf sogar die Einschaltquoten von „Dallas“ und „Falcon Crest“. Auch in Deutschland läuft sie seit Jahren täglich, mit bisher rund eintausendzweihundert Folgen, unter dem Titel „Reich und schön“ bei RTL. Ägyptens faszinierte Fernsehzuschauer haben sich die Helden dieser Serie als Symbole von Schönheit, Reichtum und außerehelichen Abenteuern angeeignet. Als die Schauspieler Ägypten bereisten, hatte das fast den Charakter von Staatsbesuchen, vorgestellt wurden sie fast ausschließlich mit den Namen, die sie in der Serie trugen. Neugeborene wurden nach ihnen benannt, die Ladenbesitzer hängten Bilder von ihnen auf, und bis in die hintersten Ecken der Armenviertel erinnerten die verschiedensten Buttons an ihre „unendliche Geschichte“.

Die in der Serie dargestellte Freizügigkeit war ein Ort zum Träumen und schien nur sehr wenige Bürger zu stören – so lange, bis die Moralapostel der islamischen Bewegung beschlossen, sich in ihren Predigten und in der Presse auf die „amerikanische Morallosigkeit“ einzuschießen und auf diesem Weg das nationale Fernsehen anzugreifen, das die Serie ausstrahlt.

Das mißglückte Attentat von 1994 gegen den Informationsminister Safwat EL Cherif fiel mit dem Höhepunkt dieser „Anti-Bold“-Welle zusammen. In dieser gespannten Atmosphäre wurde die berühmte Serie zuerst unterbrochen und dann in unregelmäßigen Abständen weiter ausgestrahlt, um schließlich ganz einfach aus dem Programm genommen zu werden. Letzteres ging allerdings nicht ohne zahlreiche Polemiken ab, die in Zeitungskommentaren, Karikaturen und unzähligen Noukats (Witzen) abgehandelt wurden. Daraufhin haben die Verantwortlichen des ägyptischen Fernsehens die Initiative ergriffen und eine neue, von der japanischen Regierung angebotene Fernsehserie namens „Oshine“ ins Programm genommen.

DIESES Auswechseln der Serie wurde zuerst als Strafmaßnahme der Zensur wahrgenommen. Doch nach und nach fand auch die neue Serie ihren Platz. Sie dreht sich um eine Frau im Japan der zwanziger Jahre und handelt von den kleinen Leuten und der Bindung an ererbte Traditionen. Der moralistische Ton verdarb keinesfalls die den ägyptischen Fernsehzuschauern teure melodramatische Stimmung. „Oshine“ war wohl eine ausländische Serie, aber zum ersten Mal ging es weder um einen Traumort noch um von Schönheit und Reichtum verwöhnte heldenhafte Figuren. Trotz seines für die Ägypter exotischen Hintergrunds hielt das „Japan von Oshine“ ihnen einen Spiegel vor: das Elend, der Machismo der männlichen Figuren, die Allgegenwart der sinnbildhaften autoritären Schwiegermutter und die Bindung an Traditionen – sowohl in der Kleidung als auch in den sozialen Beziehungen –, all das ermöglichte eine Identifikation, die die anderen, westlichen Serien nicht bieten konnten.

Zwischen den amerikanischen Serien und dem japanischen Melodrama entstand ein krasser Gegensatz: Traditionalismus gegen Libertinage, aber auch Sozialisationsfernsehen gegen Konsumfernsehen. Viele Journalisten haben sich bemüht, ihrem Publikum diese Interpretation nahezubringen, sie schrieben den „Oshine“-Fans die die Rolle der Guten, den „Bold“-Fans die der Bösen zu. Sie machten sich damit zugleich zu Opfern und Komplizen einer Verfälschung von Aufgabe und Statut des nationalen Fernsehens, wie es seit der Zeit Nassers definiert worden war.

IN der Praxis allerdings herrscht weiterhin Ambivalenz, fern aller moralisierenden oder ideologischen Reden: man erklärte sich zum „Oshine“-Zuschauer, ohne deshalb darauf zu verzichten, auch „The Bold and the Beautiful“ mit schöner Beharrlichkeit zu verfolgen. Handelt es sich da um eine neue Art von Rezeption der westlichen Medien? Wird hier die Grenze zwischen bewußtseinsfördernden nationalen Serien und importierten Konsumserien verwischt? Die Internationalisierung der Medien wird in Zukunft sorgen, daß sich importierte und regionale Codes immer wieder neu miteinander vermengen werden – zu leidenschaftlich präsentierten „lokalen Momentaufnahmen“.

D. El-K.

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Dina El-Khawaga