12.05.1995

Die Islamisten auf dem Vormarsch

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Die Islamisten auf dem Vormarsch

ENDE März kam es in Aden zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit mehreren Toten. Der Anlaß waren Benzinpreiserhöhungen – ein Beleg dafür, daß die wirtschaftlichen Probleme im Jemen zunehmen und der Süden weiterhin ein Unruheherd ist. Der Bürgerkrieg hat das Land verwüstet, seine Folgen sind überall spürbar. Auf allen Ebenen gewinnen die Islamisten an Einfluß. Gleichzeitig nehmen die Machthaber die Demokratisierung wieder zurück, die bei der Vereinigung der beiden Landesteile 1990 durchgesetzt worden war.

Von unserem Korrespondenten ÉRIC ROULEAU

Ohne ein Wort zu erwidern hatte sich der Ministerpräsident des Jemen, Abdel Aziz Abdel Ghani, am Telefon die Drohungen des saudischen Verteidigungsministers angehört. Prinz Sultan hatte ihn aufgefordert, unverzüglich die Truppen zurückzuziehen, die in bestimmten Orten nahe der Grenze stationiert waren; anderenfalls werde die Luftwaffe des Wahhabiten-Königreichs „den Jemen bombardieren“. Vierundzwanzig Stunden später, Freitag den 13. Januar 1995, beugte sich der jemenitische Staatspräsident Ali Abdallah Saleh dem Druck. Zuvor hatte der stellvertretende syrische Präsident Abdel Halim Khaddam sich eingeschaltet, der eigens aus Riad gekommen war, um Saleh zu überzeugen, daß ein „Bruderkrieg“ vermieden werden müsse.

Staatspräsident Saleh mußte das Ultimatum des Prinzen Sultan ernst nehmen. Etwa vierhundert Panzer und mindestens ebenso viele gepanzerte Fahrzeuge, schwere Artillerie und Truppen in einer Stärke von zwanzigtausend Mann waren bereits siebzig Kilometer weit auf jemenitisches Gebiet vorgedrungen – allerdings nur in einer Region, auf die Saudi-Arabien Gebietsansprüche erhebt. Wider Erwarten haben die Verhandlungen, die Mitte Januar aufgenommen wurden, zu einem Kompromiß geführt.

Der Leiter der jemenitischen Delegation, Abdel Kerim Al Iryani, bestand hartnäckig darauf, die Frage der Grenzen umfassend zu diskutieren. Auf diese Weise gelang es, das heikelste Problem in die Verhandlungen einzubeziehen: den saudisch-jemenitischen Grenzverlauf im Osten, in jenem Gebiet, in dem große Erdölvorkommen vermutet werden. Zwar wurde kein Grenzabkommen erzielt, doch haben sich beide Seiten darauf geeinigt, eine internationale Schiedskommission einzusetzen (was Prinz Sultan zunächst abgelehnt hatte). Vor allem aber besagt die „gemeinsame Erklärung“, die am 26. Februar in Mekka unterzeichnet wurde, daß eine vollständige Normalisierung der Beziehungen zwischen Riad und Sanaa angestrebt werde. Sanaa knüpft daran die Hoffnung auf neue Verhandlungen über die Rückkehr wenigstens eines Teils jener achthunderttausend Jemeniten, die in Saudi-Arabien Arbeit gefunden hatten und damals das Königreich verlassen mußten.

Dafür hat Riad die Zusicherung erhalten, daß der 1934 geschlossene Vertrag von Taef, den Sanaa bislang nicht anerkennen wollte, nun als „rechtmäßig und gültig“ betrachtet werde. Saudi-Arabien kann so die Unverletzlichkeit eines Teilstücks seiner Nordgrenze mit dem Jemen festschreiben, deren Verlauf ein Resultat militärischer Auseinandersetzungen war. Offen bleibt, ob den saudischen Absichtserklärungen konkrete Schritte folgen werden, die den jemenitischen Erwartungen entsprechen. Angesichts der Kräfteverhältnisse sind Zweifel angebracht: der wahhabitische „große Bruder“ ist eindeutig der Stärkere. Die Truppenstärke der jemenitischen Streitkräfte ist bescheiden, und sie sind schlecht ausgerüstet. Die Industriemächte können es nicht riskieren, den saudischen Absatzmarkt zu verlieren – sie werden dem Jemen keine Waffen liefern. Und angesichts der schweren Finanzkrise kann es sich das Land auch kaum leisten, auf die überteuerten Angebote anderer Anbieter zurückzugreifen.

Kosten der Golfkrise

DIE wirtschaftliche Krise des Landes, das nach UNO-Maßstäben seit langem zu den „am wenigsten entwickelten Ländern“ (LLDC) zählt, wurde in den vergangenen fünf Jahren durch drei entscheidende Ereignisse verschärft. Der neue Staat, der im Mai 1990 aus der Vereinigung der beiden Republiken Nordjemen (Sanaa) und Südjemen (Aden) entstand, hatte schwere Haushaltslasten zu tragen. Die Zentralregierung mußte nicht nur die Auslandsschulden der ehemaligen sozialistischen Republik Südjemen übernehmen (mehr als 5 Milliarden Dollar waren an ehemalige Sowjetrepubliken zu zahlen), sie erbte auch die defizitären Staatsbetriebe und sollte die Gehälter von vierhunderttausend Beamten bezahlen, die zu den einhundertachtzigtausend des Nordjemen nun noch hinzukamen.

Noch härter traf es die jemenitische Wirtschaft, als im August 1990 die Krise am Golf ausbrach. Sanaa verurteilte den Überfall des Irak auf Kuwait, lehnte aber zugleich jede militärische Intervention ab – eine Position, die das Land wenigstens 2 Milliarden Dollar jährlich kostet. Sämtliche direkten und indirekten Finanzhilfen aus Saudi-Arabien und den übrigen Golfstaaten sind praktisch eingestellt, die US-amerikanische Hilfe ist erheblich reduziert worden. Außerdem hat die Regierung in Sanaa eine Million jemenitischer Arbeitskräfte wieder aufnehmen müssen, die, als „Strafmaßnahme“, aus den Golfstaaten ausgewiesen wurden. Damit fehlen die Gelder, die von den Arbeitsemigranten an die im Land gebliebenen Familien geschickt werden sollten – jährlich über eine Milliarde Dollar in Devisen. Und schließlich ein dritter finanzieller Aderlaß: der Krieg, der im vergangenen Sommer gegen den abtrünnigen Süden geführt wurde, dürfte die Zentralregierung rund 8 Milliarden Dollar gekostet haben.1

Diese Einschnitte in eine ohnehin strukturschwache Ökonomie haben das Land an den Rand des Ruins getrieben. Der politische Spielraum der Regierung wird immer enger. Die beiden Koalitionsparteien liegen im Streit. Die islamistische Partei El Islah präsentiert sich gern als Vertreterin der Interessen des Volkes und möchte dieses Image – mit Blick auf die für nächstes Jahr vorgesehenen Parlamentswahlen – nicht durch harte politische Maßnahmen gefährden. Die von Staatspräsident Abdallah Saleh geführte Kongreßpartei, die die Mehrheit hat, hält es dagegen für unvermeidbar, einige der Maßnahmen durchzuführen, die in einem Umstrukturierungsprogramm des IWF vorgesehen sind.

Sich mit der Islah-Partei anzulegen könnte sich als gefährlich erweisen. Man darf sich nicht davon täuschen lassen, daß die Partei im Parlament und in der Regierung nur eine Minderheit stellt. In Wahrheit ist Islah die einflußreichste, am besten organisierte Partei. In der Absicht, nach der Vereinigung ein Gegengewicht zur Sozialistischen Partei des Jemen (SPJ) zu schaffen, fanden sich im September 1990 Vertreter dreier unterschiedlicher politisch-sozialer Kräfte zusammen: der Stämme, der bürgerlichen Händlerschicht und der Moslembrüder. Letztere, deren Aktivitäten die Machthaber eindämmen wollten, zeigten sich ihren Bündnisgenossen an Erfahrung und Geschick überlegen. Sie gewannen an Einfluß, und auf dem Parteikongreß von 1994 erreichten sie, daß ihre Leute in alle Schlüsselpositionen gewählt wurden. Den Parteivorsitz mußten sie allerdings Scheich Abdallah al- Ahmar überlassen, dem Führer der Haschidenstämme, der sowohl mit dem jemenitischen Staatspräsidenten als auch mit dem saudischen Herrscherhaus verwandt ist. Daß die Moslembrüder in der Partei die führende Rolle übernahmen, rief nicht gerade Unmut hervor.

El Islah ist eine moderne Partei, deren Mitglieder in den Städten ebenso wie in den entlegensten ländlichen Gebieten erfolgreiche Arbeit leisten. Dabei kommt der Partei die Erfahrung zugute, die sie in der Illegalität gesammelt hat. Verschiedene Faktoren tragen zu ihrem Erfolg bei: zum einen hat das Scheitern der weltlichen Ideologien (Nationalismus, Sozialismus, Marxismus) eine gewisse Leere hinterlassen, zum anderen kann die Partei im Namen des Islam gegen Korruption und Unrecht auftreten, Erlösung und Versöhnung versprechen, und nicht zuletzt die Überwindung der Gegensätze zwischen Sunniten und Schiiten. Ein Netz von Wohlfahrtseinrichtungen und Hilfsorganisationen für die Ärmsten wurde geschaffen, es lindert die Not, die durch den Zusammenbruch der staatlichen Einrichtungen entstanden ist.

Die Aktivitäten des Islamischen Frauenverbands finden großes Interesse, El Islah verdankt seine Parlamentssitze nicht zuletzt der weiblichen Wählerschaft. Die entsprechende Propaganda hat sich offensichtlich ausgezahlt: im Unterschied zu den anderen politischen Gruppierungen, einschließlich der linken, die sich in dieser Frage eher bedeckt halten, äußert sich El Islah im Parteiprogramm und in Wahlkampfschriften auch zu den Rechten der Frau. Aus den ebenso leidenschaftlichen wie undeutlichen Beiträgen ergibt sich, daß diese Rechte mißachtet wurden. Vor allem in der vorislamischen Zeit.

Im vergangenen Herbst hat El Islah jedoch eine Verfassungsänderung durchgebracht, der zufolge die Scharia, das islamische Sittengesetz, „die Grundlage aller Gesetzgebung“ ist (und nicht mehr nur ein „leitendes Prinzip“). Und bei dieser Gelegenheit wurden gleich die letzten Hinweise auf eigene Rechte der Frau aus der Verfassung gestrichen.

Als im vergangenen Sommer Krieg herrschte zwischen Sanaa und Aden, leisteten die Islamisten einen wichtigen Beitrag zum Sieg des Nordens. Etwa achttausend ihrer Mudschaheddin griffen auf der Seite der Regierungsarmee in die Kämpfe ein, wobei einige ihrer Führer es zur Glaubenspflicht erklärten, die „gottlosen Kommunisten“ umzubringen. Dieser Einsatz war nicht umsonst: in der neuen Regierung durfte El Islah neun Ressorts (von siebenundzwanzig) für sich beanspruchen. Überdies besetzte die Partei die Hälfte aller Schlüsselpositionen in der Verwaltung, die andere Hälfte der Posten ging an die Kongreßpartei, den größeren Koalitionspartner.

Die islamistischen Regierungsmitglieder besitzen zumeist die Klugheit, ihre Ziele diskret und maßvoll zu verfolgen. So hat zum Beispiel der Bildungsminister Ali al-Koubati nicht die Lehrpläne auf den Kopf gestellt, sondern nur die Stundenzahl für den Koranunterricht erhöht – auf Kosten der naturwissenschaftlichen Fächer. Er hat Lehrer entlassen, die im Verdacht standen, sozialistische (oder auch nur weltliche) Anschauungen zu vertreten, und statt dessen Islamisten eingestellt, die notfalls auch im Sudan oder in Ägypten angeworben wurden. Und er hat, nach und nach, die Koedukation abgeschafft, die in Schulen und Universitäten des Südens noch praktiziert wurde. An Lehrerinnen und Schülerinnen erging die „Empfehlung“, sich „anständig“ zu kleiden. Scheich Abdel Wahhab al-Dailami, der Justizminister, erließ eine vorläufige Anordnung, daß Frauen nicht mehr zum Richteramt zugelassen werden dürfen – daß diese Möglichkeit überhaupt bestanden hatte, war ein Überbleibsel aus den Zeiten der sozialistischen Machthaber in Aden. Im persönlichen Gespräch erklärte der Minister, er halte Frauen in Fragen des islamischen Rechts für „vollkommen inkompetent“.

El Islah verfügt über eine wahrhaft erstaunliche Anpassungsfähigkeit. Die Partei richtet sich stets nach den augenblicklichen Machtverhältnissen. So achtet sie darauf, nicht in die Ressorts Sicherheit, Verteidigung und Außenpolitik einzugreifen, für die der Staatschef zuständig ist. Sie vermeidet Angriffe gegen den Westen, verurteilt alle Formen von Gewalt und Terrorismus, tritt für die Marktwirtschaft und die Meinungsfreiheit ein. Abdallah Yaddoumi, der Generalsekretär der Partei: „El Islah ist keine Partei, sondern ein Zusammenschluß von Reformkräften – das wird schon aus dem vollständigen Namen der Organisation deutlich.“ Abdel Wahab al-Ansi, stellvertretender Generalsekretär von El Islah (und stellvertretender Ministerpräsident), stellt klar: „Demokratie gehört zu den Grundwerten des Islam.“ Und auf unsere Nachfrage fügt er hinzu: „Was wäre, wenn wir in den kommenden Wahlen die absolute Mehrheit bekämen? Nun, wir würden keinesfalls allein regieren wollen. Um die Probleme der Unterentwicklung zu lösen, müssen alle politischen Kräfte des Jemen zusammenarbeiten.“ Wahab al-Ansi verkörpert den Typus des Intellektuellen in der Politik, klein, asketisch, mit lebhaftem Blick; trotz seiner etwas verklärenden Worte wirkt er aufrichtig.

Ganz anders dagegen Scheich Abdel Majid al-Zendani, der Vorsitzende des „Madschlis al-Schura“ der Partei, einer Art von Zentralkomitee – dieser Mann des Glaubens, dem man eine Vorliebe für Ausschweifungen nachsagt, versucht eher zu verführen, als zu überzeugen. Im Jemen ist er für seine Haßpredigten gegen die „atheistischen Kommunisten“ berühmt, aber man kennt ihn auch in der islamistischen Bewegung Algeriens, wo Kassetten mit seinen Brandreden in Umlauf sind und er als „geistiger Führer“ der Islamisten gilt. Das ist durchaus untertrieben, bedenkt man, daß er jahrelang aktiv die Rekrutierung, Ausbildung und den Einsatz der Mudschaheddin in Afghanistan organisiert hat; es heißt, in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen und dem saudischen Geheimdienst.

Unangenehme Fragen überhört Scheich Zendani, um sich statt dessen gegenüber dem Gesprächspartner aus dem Westen in endlosen Darlegungen darüber zu ergehen, daß der Koran ein ungemein wissenschaftliches Werk sei. Als er anhebt, sich über die Zukunft der Menschheit, den Dialog zwischen den Religionen, über Bosnien und Tschetschenien zu verbreiten, bemerkt er den Unmut des Zuhörers. Selbstverständlich sei er für die Demokratie, aber es komme darauf an, was für eine Demokratie! Da die Gesetze göttlichen Ursprungs seien, müsse ihre Ausarbeitung in die Hände der Ulema (der Korangelehrten) gelegt werden, die Rolle der gewählten Volksvertreter habe sich darauf zu beschränken, für die strikte Anwendung der erarbeiteten Vorschriften zu sorgen. Selbstverständlich, die islamische Bewegung müsse die Bürde der Macht auf sich nehmen, falls sie die Mehrheit der Sitze im Parlament gewinne, denn „nach den unglücklichen Erfahrungen in Algerien wird es niemand wagen, ein Wahlergebnis zu annullieren“.

Die offizielle Position der Islah-Partei zur Algerienfrage scheint vernünftig: Die beiden Konfliktparteien sollten einen Dialog beginnen, um den Weg für freie demokratische Wahlen zu ebnen. Diese Position verdiente Anerkennung, wenn die jemenitischen Islamisten nicht unter größter Geheimhaltung damit beschäftigt wären, Aktivisten aus verschiedenen Ländern, vor allem aus Algerien und Ägypten, aufzunehmen und sie ideologisch und militärisch zu schulen.

Wie kommt es, daß die jemenitische Regierung, die doch sonst um ihren Ruf im Ausland so besorgt ist, sich in dieser Frage blind stellt? Mehrere Erklärungen bieten sich an. Da ist zum einen die Tatsache, daß auch die USA, die sich ansonsten als unerbittlicher Gegner des „internationalen Terrorismus“ zeigen, die Existenz dieser Ausbildungslager, längst ein offenes Geheimnis, schweigend übergehen. Hinzu kommt, daß sich mindestens eines dieser Lager mitten in einem Stammesgebiet nahe der saudischen Grenze befindet, über das Scheich Abdallah al- Ahmar uneingeschränkt gebietet. Scheich Zendani wiederum bezeichnet man als den „Paten“ der „Soldaten Allahs“, die häufig auch „Afghanen“ genannt werden. Das alles läßt vermuten, daß hier, in einem Geflecht unterschiedlicher Interessen, jene gemeinsame Überzeugung herrscht, die islamistischen Kämpfer aus Algerien sollten über einen solchen Stützpunkt verfügen. El Islah und die Kongreßpartei arbeiten auch bei der Ausschaltung der Sozialistischen Partei des Jemen (SPJ) Hand in Hand. Die Sozialisten haben bereits die Fahne gewechselt, indem sie die kleine Gruppe unter ihren Führern, die für die Abspaltung des Südens eingetreten war, aus ihren Reihen verbannt hat. Die neu gewählte Führung ist deutlich „unionistisch“ orientiert. Das hinderte die Regierung nicht, das gesamte Parteivermögen zu beschlagnahmen.

Die Spitzenpolitiker aller oppositionellen Richtungen, aber auch unabhängige Intellektuelle und einflußreiche Persönlichkeiten in Regierungskreisen sehen diese Schwächung der Sozialisten mit Sorge. Mit dem Ende der SPJ wäre das letzte Hindernis auf dem Vormarsch der Islamisten beseitigt; danach würde zunächst die Meinungsfreiheit eingeschränkt, und die bestehenden Freiräume würden immer weiter verengt. Pessimisten sehen bereits die Diktatur der Einheitspartei kommen, mit oder ohne Präsident Ali Abdallah Saleh.

Der Staatschef selbst zeigt sich angesichts solcher Visionen verwundert: „Die islamische Bewegung“, erklärt er gleich vorweg, „ist vom Westen genährt und für seine Zwecke benutzt worden, wo immer es ging, in Afghanistan und anderswo. Nach dem Ende des Kommunismus hat man sie dann zum neuen Feindbild aufgebaut. Man darf von mir nicht erwarten, daß ich allen Winkelzügen der westlichen Politik folge oder eine Neuauflage der algerischen Tragödie in Kauf nehme. Die Islamisten zu verfolgen, hatte nur den Extremismus geschürt und Unruhen bewirkt. Ich habe es vorgezogen, sie an der Regierung zu beteiligen, im Rahmen einer demokratischen und pluralistischen Ordnung, und ich bereue es nicht im geringsten. Auf der anderen Seite schließe ich auch keineswegs aus, die Regierungsverantwortung mit der Sozialistischen Partei zu teilen, sobald sie gelernt hat, die Regeln der Verfassung zu achten.“

Die Macht des Staatspräsidenten ruht auf drei Säulen: zum einen auf der Armee und den Sicherheitskräften, deren Schlüsselpositionen mit Angehörigen des Stammes der Sahnan besetzt sind, das heißt mit Brüdern, Halbbrüdern und Vettern des Präsidenten, zum zweiten auf den Stämmen insgesamt, die er mit großzügigen Geldspenden bedenkt. Der Loyalität der Haschiden-Stämme hat er sich durch ihren Führer, Scheich Abdallah al-Ahmar, versichert. Bleiben noch die reichen Händlerfamilien, die auf die Vorteile des bestehenden Systems bauen. Das scheint eine Position der Stärke. Ob sie dem Vormarsch der Islamisten standhalten wird?

1 Olivier Da Lage, „Les Rêves brisés de l'unité yéménite“, Le Monde diplomatique, Juli 1994.

Le Monde diplomatique vom 12.05.1995, von Eric Rouleau