10.11.1995

Zwischen Rot und Schwarz

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Zwischen Rot und Schwarz

DER „Sprung auf den Markt“ ist wie ein Kopfsprung in ein Schwimmbecken ohne Wasser. Der Vergleich klingt wie ein Hammerschlag – genau wie das ganze Buch. „Quelle voie après le communisme?“ ist eine regelrechte Anklageschrift gegen Lech Walesa und die „Schocktherapie“, die Polen aufgezwungen worden ist. Der Autor kommt dabei nicht aus der neokommunistischen Ecke. Karol Modzelewski ist einer der Gründer von Solidarność und war eine Zeitlang ihr Sprecher. Bei der Vorbereitung der Präsidentschaftswahlen hat er die Kandidatur von Jacek Kurón unterstützt, mit dem gemeinsam er 1964 den berühmten „Offenen Brief an die PVAP“ (Kommunistische vereinigte Arbeiterpartei Polens) verfaßt hat.

Was Karol Modzelewski der Mehrzahl seiner ehemaligen Weggefährten aus den Zeiten der Untergrundbewegung vorwirft, ist der Liberalismus, den sie, als sie an die Macht gekommen waren, gemeinsam mit dem IWF angenommen hatten (und nicht, wie er betont, unter dessen Druck). „Wir haben für Brot und Freiheit gekämpft. (...) Der Mangel an Brot hindert einen Großteil der polnischen Gesellschaft jedoch, an der Freiheit teilzunehmen.“ Arbeitslosigkeit, Verarmung, Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen und eine unausgeglichene Handelsbilanz: dahin haben die monetaristischen Rezepte Polen geführt. Diese „Reformstrategie durch den Ruin“ erklärt sowohl die Beliebtheit der gewendeten Kommunisten als auch der autoritären Tendenzen.

Die Diagnose wird durch eine Anweisung verstärkt. Karol Modzelewski fordert statt dessen „einen anderen Weg“, der sich auf eine Korrektur der Marktgesetze durch die Intervention des Staates stützen würde. Er setzt auf die öffentlichen Institutionen, um die Privatisierung zu kontrollieren und die sozialen Errungenschaften Polens zu erhalten. Für Karel Modzelewski lassen sich die ökonomische und die soziale Frage von der politischen nicht trennen. „Die autoritäre Versuchung steckt in allen sozialen Spannungen, die die neoliberale Umwälzung der sozialistischen Wirtschaft begleiten.“ Es ist an der Linken, den Polen einen dritten Weg zwischen der Alternative Rot oder Schwarz vorzuschlagen.

Diese Problematik betrifft eindeutig nicht nur Polen und selbst nicht nur die osteuropäischen Länder. Karol Modzelewski hat recht, wenn er schreibt: „Einige bedeutende Fragestellungen sind in beiden Teilen Europas gleich.“

DOMINIQUE VIDAL

1 Karol Modzelewski: „Quelle voie après le communisme?“ Éditions de l'Aube, La Tour-d'Aigues, 1995.

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Dominique Vidal