10.11.1995

Afghanistans ferngesteuerte Glaubenskrieger

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Afghanistans ferngesteuerte Glaubenskrieger

NACHDEM die Taliban im September Herat eingenommen haben, kontrollieren sie nun über die Hälfte Afghanistans und stehen zum zweiten Mal kurz vor Kabul. Dieser Krieg, der seit dem Rückzug der Sowjets im Jahre 1989 das Land verwüstet, hat einen Wendepunkt erreicht. Den Strategen in Pakistan bietet sich eine weitere Chance, tief nach Zentralasien vorzudringen.

Von ALFONSO ARTICO *

„Ich weiß nicht mehr, wem ich noch trauen soll.“ Sardar, ein Riese von Gestalt und von Beruf Ingenieur, bezweifelt, daß „die Regierenden den Frieden wollen. Ich glaube eher, es geht ihnen um die Macht, um sich zu bereichern.“ In der Runde nicken alle Kabulis zustimmend. „Wir sind privilegiert, weil wir mit regierungsunabhängigen Organisationen zusammenarbeiten, doch die anderen, zumal in den von den Taliban eroberten Gebieten...“

Im September 1994 erschienen die Taliban auf der politischen Bühne Afghanistans, seither haben sie das militärisch- politische Gefüge des Landes grundlegend verändert. Sie sind inzwischen mit anderen oppositionellen Gruppen verbündet, vor allem mit den Usbeken von General Raschid Dostam, und zu einer ernsten Bedrohung für Präsident Burhanuddin Rabbani geworden. Diese fundamentalistischen Studenten kommen aus den Medresen, den theologischen Hochschulen in der Gegend um Quetta, und setzen ihr orthodoxes Sunnitentum in den Gebieten, die ihnen in die Hände fallen, rigoros durch. Zu der geographischen Nähe kommt eine politische. So sympathisiert ihre Bewegung mit der Dschamiat-e-Ulama Eslami (DUE) in Pakistan. Als einstige Verbündete von Ali Bhutto, den der Diktator Zia ul-Haq 1979 hinrichten ließ, votierte die DUE 1993 für die Tochter des Ermordeten, die heutige Ministerpräsidentin Benazir Bhutto. Der Parteivorsitzende Faz ul-Rahman ist wiederum eng befreundet mit dem Innenminister, General Nasr Ullah Babar, der als „Kopf“ der „Operation Taliban“ gilt.

Innerhalb des pakistanischen Geheimdienstes, dem gefürchteten Interservices Intelligence (ISI), hat sich viel verändert. An der Ablösung von General Javeed Aschraf, der zweieinhalb Jahre im Amt war, durch seinen Stellvertreter General Nasim Rana zeigt sich, welch harte Kämpfe im verborgenen ausgefochten werden. Mit Hilfe der Dschamiat-e-Eslami will der ISI ein Netzwerk schaffen, das für seine politischen Vorhaben nützlich ist. Die einen unterstützen Benazir Bhutto, die anderen die Opposition und... ein stärkeres Eingreifen Pakistans in Afghanistan.

Eins ist jedenfalls gewiß: Die pakistanische Politik gegenüber Afghanistan hat sich verändert. Sowohl im Krieg gegen die Sowjetunion (1979–1988) als auch bei den folgenden fast ununterbrochenen Konfrontationen setzte Islamabad stets auf die Hesb-e-Eslami, eine extrem fundamentalistische Organisation unter der Führung von Gulbuddin Hekmatjar. Das Ziel war stets dasselbe: Man wollte verhindern, daß sich in Kabul eine Regierung etabliert, die den irredentistischen Bestrebungen der pakistanischen Paschtunen Vorschub leisten oder gar durch ein Bündnis mit Indien Pakistan in den Rücken fallen könnte.

Doch die massive Unterstützung Hekmatjars zeigte kein überzeugendes Ergebnis: trotz wiederholter Angriffe gelang es dem Führer der Hesb-e-Eslami nicht, Ahmed Schah Massud und seinen mehrheitlich tadschikischen Truppen die afghanische Hauptstadt zu entreißen. Während der endlosen militärischen Auseinandersetzungen, die hohe Verluste unter der Bevölkerung forderten (30000 Tote, 100000 Verletzte, Abertausende von Flüchtlingen), hat Gulbuddin Hekmatjar viel an Popularität verloren. Im eigenen Volk (den Paschtunen) umstritten, von den Amerikanern beschuldigt, den internationalen Terrorismus zu finanzieren, und als Terroristenfreund bezeichnet – 10000 islamische Fundamentalisten sollen ihre militärische Ausbildung in Afghanistan erhalten haben –, wurde der altgediente Verbündete zunehmend untragbar. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, mußte man auf eine neue Karte setzen. Als sunnitische panislamische Fundamentalisten, die von Saudi-Arabien gern gesehen waren, kamen die Taliban da gerade recht.

Die Machthaber in Kabul stellen diese erneute Einmischung häufig als das Haupthindernis dar, ihre mörderischen Konflikte zu überwinden. So spricht der Premierminister Ahmad Schah Ahmad Sai von einer „Fernsteuerung durch Islamabad“. Zwar steckt ein Körnchen Wahrheit in diesen Klagen. Wahr ist aber auch, daß Ismal Khan, der Held des heiligen Krieges und im Westen Afghanistans als Führungsfigur bewundert, die strategisch wichtige Stadt Herat, die im September dieses Jahres in die Hände der Taliban gefallen ist, regelrecht verkauft hat. Nachdem er seine Familie in Frankreich in Sicherheit gebracht hatte, soll er die lokalen Kassen seiner Partei (der Dschamiat-e-Eslami, die zur Machtablösung in Kabul vorgesehen war) geplündert haben, dann floh er nach Meschhed im Iran.

Natürlich geht es beim Spielball Afghanistan um mehr als nur diese finsteren Machenschaften. Zusätzlich zu seinen schon traditionellen Interessen ist das Land für Islamabad nun auch aus neuen, bedeutenderen Gründen wichtig. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR hat Mittelasien seine einstige strategische und wirtschaftliche Bedeutung wiedererlangt. Für Pakistan und alle anderen Staaten – angefangen beim Rußland von Boris Jelzin bis hin zu den Ländern des Westens – eröffnen sich hier hervorragende Absatzmärkte. Hinzu kommen reiche Vorkommen an Erdgas, Erdöl und Mineralien, die zu den wichtigsten der Welt zählen. Der pakistanische Handel ist angewiesen auf die Route nach Zentralasien, dieselbe, der schon Jahrhunderte zuvor die Karawanen folgten, als das steinreiche mongolische Reich Handel mit Samarkand, Buchara und Chiwa trieb. Seit 1989 stand Islamabad in Kontakt zur prosowjetischen Regierung von Nadschibullah. Doch die politischen Verhältnisse waren zu instabil, so daß nichts zustande kam. Also wird Pakistan weiterhin vergeblich auf Gulbuddin Hekmatjar setzen.

Während in Afghanistan der Bürgerkrieg weitergeht, steht Islamabad im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. 1993 wäre Pakistan beinahe auf die Liste der terroristischen Staaten gesetzt worden. Ramsi Ahmad Jussef, der angeklagt ist, die Bombe im New Yorker World Trade Center deponiert zu haben, stammt aus Peschawar. Daher greifen die USA wieder auf das 1985 eingeführte Pressler Amendment zurück, das eine drastische Verringerung der amerikanischen Hilfe vorsieht, vor allem im Bereich der nuklearen Rüstung – für die Pakistanis ein Tabu. Der westliche Druck wird um so stärker, als in der Presse immer häufiger vom Goldenen Halbmond die Rede ist (Pakistan, Afghanistan und Iran), dem Zentrum der Opiumherstellung auf der Welt. Die Weiterverarbeitung von Opium zu Heroin findet in Laboratorien an der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan statt. Die Einnahmen daraus werden auf mehr als 2 Milliarden Dollar jährlich geschätzt, wobei fast zwei Drittel des Heroins (insgesamt sind es mindestens 3500 Tonnen) auf dem europäischen Markt verkauft werden. Nach einem vertraulichen Bericht der Dublin- Gruppe verbieten die Taliban den Anbau und die Nutzung von Cannabis, jedoch nicht die Gewinnung und den Handel mit Opium. Der Genuß von Opium ist in Afghanistan traditionell weit verbreitet. Beunruhigender ist da schon der stetig wachsende Heroinverbrauch, besonders unter den Vertriebenen und den ins Land zurückgekehrten Flüchtlingen.

Islamabad mußte also dringend seine Glaubwürdigkeit wiederherstellen, sowohl durch wirtschaftliche Leistungen als auch durch die Rolle als Friedenstifter, die es in Afghanistan gespielt hat. Die neue Politik setzte ein, als Pakistan mit der Unterzeichnung der Erklärung von Quetta am 7. Februar 1993 die Economic Cooperation Organization (ECO) wieder aktivierte.3 Islamabad wollte sich als neuer „Drachen“ Südwestasiens etablieren und spann durch Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den zentralasiatischen Republiken seine Fäden. Im April 1995 wurde ein Memorandum mit Turkmenistan über die Einfuhr von Erdgas unterzeichnet, wobei es sich voraussichtlich um eine Investition von 3 Milliarden Dollar handelte. Dieser Vertrag wurde bei einem Staatsbesuch des pakistanischen Präsidenten Faruk Ahmad Khan Leghari beim turkmenischen Präsidenten Saparmurad Nijazov von 6. bis 9. September 1995 unterzeichnet.4 Nach Angaben des Bundesministers für Erdöl und natürliche Bodenschätze, Anwar Saifullah Khan, soll die Gasleitung parallel zur Straße von Herat nach Quetta verlaufen. Im Rahmen des ECO-Projekts wird Pakistan auch sein Telefonnetz durch Glasfaserkabel über Afghanistan nach Turkmenistan erweitern.

Solche strategischen Achsen entstehen keineswegs zufällig. Nördlich von Afghanistan, in Usbekistan, liegt die reichste Goldmine der Welt, deren Jahresproduktion auf etwa 50 Tonnen geschätzt wird. Der Nordosten, Tadschikistan, birgt das größte Silbervorkommen der Erde. Und noch weiter nördlich, unter der Erde von Kasachstan, liegt – soweit bekannt – über ein Viertel des globalen Ölvorrats. Seit 1990 führen die großen westlichen Ölgesellschaften darum einen „gnadenlosen Kampf“.5 So hat Chevron bereits 10 Milliarden Dollar im Land investiert, während AGIP und British Gas sich mit einem russischen Konsortium um die Vorherrschaft über eine riesige Quelle kasachischen Erdgases streiten. Gerüchten zufolge gibt es in Gomo-Badachschan (Tadschikistan) und in Kirgistan auch Uran. Um einen Vertrag für die Nutzung zu bekommen, sind alle Mittel erlaubt.6

Für Islamabad besteht die Aufgabe der Taliban darin, diese strategische Route zu den Bodenschätzen Zentralasiens, nach Rußland und Europa offenzuhalten. Um im großen regionalen Puzzle das Mittelstück Afghanistan zu kontrollieren, mußte man dort allerdings eine Bewegung schaffen, die weder den in den Augen der Bevölkerung diskreditierten Mudschaheddin glich noch einer weiteren politischen Partei. Die Taliban mußten Befreier im Namen einer islamischen Sammlungsbewegung sein, sie mußten das Gefühl einer nationalen Zusammengehörigkeit wiedererwecken und vor allem die berechtigte Forderung nach einer starken afghanischen Identität so ausrichten, daß die verschiedenen einander bekämpfenden Parteien zu Friedensverhandlungen bereit wären: das hat die Regierung von Frau Bhutto genau erfaßt.

Im Februar 1995 standen die Taliban vor den Toren Kabuls, nachdem sie die Kontrolle der südlichen Provinzen übernommen hatten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. In der Woche von 6. bis 11. März mußten sie eine Reihe Niederlagen durch die „Regierungstruppen“ von Ahmed Schah Massud (Dschamiat- e-Eslami), dem „Löwen von Pandschab“, einstecken. Die schiitischen Wahdat-Milizen versuchten zunächst zu widerstehen, doch nach der Erschießung ihres Führers durch die Taliban zogen sie sich schließlich zurück. Vorangegangen war der stärkste Raketenbeschuß und Bombenhagel, den die Hauptstadt je erlebt hatte.

Tatsächlich besteht der südwestliche Teil der Stadt nur noch aus einer langen, traurigen Reihe von Ruinen. Die große Allee, die zum Königspalast und zum Museum von Kabul führt, ist mit immer noch verminten Schutthaufen bedeckt. In der Mitte der Straße, der Panzer und Raketen riesige Schlaglöcher gerissen haben, holpern ein paar Radfahrer vorbei. Khaled, Sohn des bedeutendsten afghanischen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts, führt uns durch die Universität, die nach Aussagen ihres Rektors Hassanjar „nur zu 20 Prozent unserer ohnehin bescheidenen Ansprüche“ repariert worden ist. „Von diesem Fenster aus sieht man die Hügel, auf denen die Hasara lagen“, sagt unser Führer. Mit der Hand weist er in die Ferne: „Die Front verläuft dort, ganz nah.“ Zur Zeit ist es ruhig in Kabul. Nach Angaben des IKRK kehren täglich über tausend Flüchtlinge in die Stadt zurück. Die Kämpfe finden jetzt im Westen des Landes statt, wo die Taliban im Sommer die Provinzen Farah und Nimrus erobert hatten, bevor sie Herat einnahmen.

Die Front zwischen Mudschaheddin und Taliban ist ständig in Bewegung, doch sie nähert sich Kabul bedrohlich. Der Süden und der Westen, das ist über die Hälfte Afghanistans, befinden sich bereits in den Händen der Taliban, während der Norden durch ihren Verbündeten, den Usbekenführer Raschid Dostam, kontrolliert wird. Der „Regierung“, das heißt Massud, bleibt nur noch die Hauptstadt, die von verschiedenen rivalisierenden Gruppen fast umzingelt ist. So haben die Taliban ihre eigentliche Aufgabe erfüllt: Sie haben das Land genügend befriedet, um die großen Handelsstrategien greifen zu lassen. Die eiserne Hand, die die globale Ausbeutung der Rohstoffe lenkt, braucht Afghanistan als Staat ohne Krieg. Die Krümel am Tisch der multinationalen Konzerne werden bei ganzen Völkern die Illusion von fortschreitender Entwicklung und Zivilisation erwecken. Mit ihrem Glauben, allein für den Ruhm Allahs zu kämpfen, arbeiten die Taliban denen in die Hände, die sie freitags in der Moschee mit flammenden Reden verurteilen.

„Das sind doch Ignoranten. Sie kennen nichts als den Koran. Was kennen sie schon außer seiner religiösen Lehre? Und wo haben sie es gelernt, einen Guerillakrieg zu führen und Jagdbomber zu fliegen? Bestimmt nicht im Koran.“ Herr A. regt sich auf. Taliban? Nein danke, „nie“! Er redet frei heraus, allerdings in seinem Taxi und im Schutze der Anonymität...

dt. Marianne Karbe

1 Siehe dazu Olivier Roy, „La crise afghane au miroir des ambitions étrangères“, Le Monde diplomatique, Juli 1993; Ahmed Raschid, „L'Afghanistan l'heure des ,Taliban‘, Le Monde diplomatique, April 1995.

2 The News, Islamabad.

3 Zur ECO – mit Sitz in Teheran – gehören der Iran, Pakistan und die Türkei, die sie 1985 gegründet haben; Afghanistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Aserbaidschan sind 1992 beigetreten.

4 The Pakistan Times, 1. September 1995.

5 Newsweek, 17. April 1995.

6 Ebd.

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Alfonso Artico