10.11.1995

Die große Illusion vom demokratischen Internet

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Die große Illusion vom demokratischen Internet

■ Neue Kreuzzüge für eine neue Utopie: Internet und Kommunikationstechnologien lösen eine ideologische Euphorie aus, wie sie schon früher große Entdeckungen begleitet hat. Doch die gesellschaftlichen Probleme, die unsere Moderne prägen, werden durch Glasfaserkabel nicht gelöst.

Von ASDRAD TORRES *

FÜR einige ist das Internet ein Symbol der Hoffnung: Mit ihm soll der Macht des Geldes und der Firmen sowie der sozialen Kontrolle ein Schnippchen geschlagen werden. Gern wird seine Nutzung durch zahlreiche fortschrittliche Gruppen1 erwähnt. Wurde gegen die geplante Hinrichtung des amerikanischen Journalisten Mumia Abu-Jamal oder gegen die Ausschreitungen der mexikanischen Armee in Chiapas nicht vor allem im Internet protestiert?

Doch die großen Multimediakonzerne, die alle fortschrittlichen Inhalte von den Datenautobahnen zu verdrängen drohen, verschaffen sich bereits Zugang zum Netz. Zahlreiche andere Unternehmen warten noch darauf, daß der elektronische Zahlungsverkehr sicherer wird, ehe sie sich stärker engagieren. Die Mutigsten sind schon eifrig dabei. Dieser kommerzielle Sektor, der die Furcht vor einer „Zweckentfremdung“ des Internet nährt, wächst mittlerweile schneller als der ursprüngliche Kern.

Das Internet als neuer Kommunikationsstandard wird wegen seiner demokratischen und egalitären Ausrichtung gepriesen. Zwischen dem „Server“, der die Informationen liefert, und dem „Terminal“, an dem ein Benutzer sie empfängt, gibt es im Prinzip keinen Unterschied, ganz im Gegensatz zum Bildschirmtext. Im Internet ist jeder Konsument potentiell ein Produzent. Doch die Neutralität der Norm stiftet nicht wirkliche soziale Gleichheit im Kommunikationsbereich.

John Barlow, ein erfahrener „Internaut“, verweist auf die Statistiken: „Im Cyberspace gibt es keine große menschliche Vielfalt. Er wird von Leuten unter fünfzig bewohnt, die viel Zeit am Rechner zubringen können, sehr geschickt auf der Tastatur spielen, eher starre Ansichten haben und im wirklichen Leben schrecklich schüchtern sind, besonders gegenüber Personen des anderen Geschlechts.“2 Nimmt außerdem die soziale Ungleichheit weiter zu, wird sich der Zugang zum Internet auf einen Kreis von Privilegierten beschränken. Weil die nötige Hardware einige tausend Francs kostet, sind in einem Land wie Frankreich Millionen von Menschen immer noch ausgeschlossen.

Dieses Problem wird sich auch nicht durch den gern zitierten Preisverfall lösen, denn durch geschickte Verkaufsstrategien der Hersteller und Händler bleibt der Endpreis weiterhin hoch. „Um sich wirklich in interaktive Abenteuer zu stürzen, braucht man immer leistungsstärkere Geräte“, verkündete etwa ein für Unterhaltungselektronik zuständiger Marketingleiter der Handelskette Carrefour, als ein neuer Multimediacomputer „für jedermann“ zum Preis von 26000 Francs präsentiert wurde! Und ein Experte, der sich für die Verbreitung des Internet einsetzt, stellt fest: „Nicht jede Organisation, von Privatleuten ganz zu schweigen, kann mir nichts, dir nichts einen Internet-Service einrichten. Ein erstes großes Hindernis sind die nötigen Investitionen in die Hardware. Danach werden die Telekomgebühren für eine Standleitung sehr bald zu einem ernsthaften Problem, wenn das Budget knapp bemessen ist. Überdies sind, was immer man sagen mag, solide Spezialkenntnisse vonnöten. In der Welt der Netze müssen zunächst einmal Ausbilder ausgebildet werden.“

Ist diese Hürde genommen, nützen allerdings, wie überall, die schönsten Angebote nichts, wenn das Publikum ausbleibt. Unter den kommerziellen Anbietern hat daher die Schlacht um die Werbeflächen bereits begonnen. Die einen vereinbaren vertraglich, in ihren Diensten aufeinander hinzuweisen, andere, die bereits über einen gewissen Ruf verfügen, lassen sich für solche Hinweise, die auf ihren elektronischen Werbeplakaten erscheinen, bezahlen. Da es kein „offizielles“ Inhaltsverzeichnis gibt, wird die Kontrolle über die Führer durchs Internet (die Search- Engines) ungemein wichtig. Daß der Global Network Navigator, eines der berühmtesten Internet-Verzeichnisse, von American Online geschluckt wurde, einem florierenden, aber erst kürzlich im Netz erschienenen Anbieter von Telediensten, zeigt dies nur allzu deutlich. Diese Wirklichkeit steht im Widerspruch zu der hehren Idee eines demokratischen selbstverwalteten Internet, in dem nicht die Finanzkraft, sondern die Qualität der Dienste über den Erfolg entscheidet.

Die Überzeugung, das Internet sei von Grund auf egalitär, beruht auf einer Mischung geistiger Kurzsichtigkeit und dem Glauben an einen technologischen Determinismus (vgl. unten den Artikel von Armand Mattelart). Die Art, wie Personen miteinander kommunizieren, läßt sich niemals nur aus den technischen Eigenschaften der verwendeten Übertragungsmedien erklären. Und ebensowenig kann die egalitäre Konzeption des Internet verhindern, daß es „zweckwidrig“ asymmetrisch für den bloßen Konsum genutzt und damit zu einem ganz gewöhnlichen Medium gemacht wird.

Die informellen Diskussionsgruppen (oder Usenet news), die zu Hunderten im Internet entstanden sind, werden oft als ein Musterbeispiel praktizierter Demokratie gelobt. Es sind „Orte“, an denen sich jeder, der Zugang zum Netz hat, ohne weitere Formalitäten in die Debatte einschalten kann. Das weite Themenspektrum spiegelt die extreme Vielfalt der Interessen wider. Hier, so sagt man, sind die Voraussetzungen für Pluralismus und Meinungsfreiheit endlich erfüllt. Doch die News Groups sind keine öffentlichen Foren, wo jeder das Recht auf Einspruch hat, sondern eher Privaträume, in denen man sich aufhalten darf, sofern man die Regeln anerkennt, die sich die Gründungsgruppe gegeben hat. In einer Gruppe, die über Strafmaßnahmen gegen die Abtreibung diskutiert, wird jemand, der für das Recht auf Auftreibung eintritt, also kaum zu Wort kommen. Viele Diskussionsgruppen haben einen meist wohlgesinnten, aber allmächtigen „Moderator“, der „unpassende“ Beiträge beseitigt. Derartige Begrenzungen führen zu einer Vermehrung von abgeschotteten Räumen, was deutlich zeigt, daß bloße Vielfalt noch kein Pluralismus ist.3

Wenn sie schon kein Demokratiemodell abgeben, sollen die News Groups doch wenigstens neue Dimensionen der Kommunikation ausloten, durch die sich künftig die Freiheit des Worts auf „virtuelle Gemeinschaften“ ausdehnen ließe. Gewiß, Distanzen, die eine wirkliche Begegnung unwahrscheinlich machen, können von Gruppen mit gleichen Themen und Zielen dank Internet überwunden werden. Doch die Schaffung von Cyber- Gemeinschaften in einem von der realen Welt entkoppelten Raum bleibt illusorisch. John Barlow schreibt dazu: „1987 hörte ich von einem ,Ort', den ich besuchen könnte, ohne Wyoming zu verlassen. Im WELL [Whole Earth 'lectronic Link] schien es fast alles zu geben, was zu einer Kleinstadt gehört... Seit dieser Zeit hat mein Enthusiasmus für die Virtualität merklich nachgelassen. Abgesehen vom Austausch elektronischer Post widme ich den virtuellen Gemeinschaften kaum noch Zeit. Fast alle kurzfristigen Erfolge, die ich von ihnen erwartete, scheinen heute in ebenso ferner Zukunft zu liegen wie damals, als ich mich zum ersten Mal einklinkte.“ Noam Chomsky zufolge ist das Internet immer noch von seinen Ursprüngen geprägt: „Im Grunde gehört es einem privilegierten Kreis von Personen, die an Universitäten Zugang zu den Rechnern haben.“ Hierzu paßt, was Christian Huitema, Präsident des Internet Architecture Board (IAB), den „Internet-Geist“ nennt, „der auf die libertären Ideen von Forschern zurückgeht, die in den sechziger Jahren dieses Netz der Netze entwickelt haben“.4 Libertär? Wenn es diesen Geist gibt, scheint er so sehr in Selbstbetrachtung versunken zu sein, daß er die Bedingungen verdrängt, unter denen er entstand und sich entwickelte. Allem Anschein nach kann das „Internet-Denken“ sich nämlich nicht mit der Vorstellung anfreunden, daß das Netz ein Gemeingut der Gesellschaft ist, die es durch ihre Arbeit finanziert hat, und nicht das Privateigentum der Elite, die es geschaffen hat.

Ebensowenig kann sich das „Internet- Denken“ mit dem Gedanken anfreunden, daß „Neue“, die in Massen herbeiströmen, die Regeln modifizieren, die vom ursprünglichen Kern festgelegt wurden. „In den News Groups gibt es viele formelle und informelle Regeln des richtigen Benehmens. Ein Benutzer, der sich nicht an sie hält, riskiert, von Tausenden von Internauten, die ihn umerziehen wollen, mit Briefen überschüttet zu werden.“5 Einmal in die Gemeinschaft integriert, „haben alle Benutzer dieselben Rechte“, verkündet Christian Huitema. Doch wenn es um Entscheidungen geht, sind einige gleicher als andere. „Wie in jeder anarchistischen Gesellschaft hat sich im Internet eine Aristokratie gebildet, die aus denen besteht, die sich am meisten um das Netz verdient gemacht haben. Wir sind gegen Könige und Präsidenten, aber auch gegen Abstimmungen, denn sie könnten zu willkürlichen Entscheidungen führen.“ Dies sind Selbsterhaltungs- und Legitimationsprinzipien eines oligarchischen Systems.

Ideologische Zweideutigkeit herrscht aber nicht nur bei den offiziellen Instanzen. Im Dunstkreis des Internet hat die Electronic Frontier Foundation (EFF)6 nachhaltig dafür gekämpft, daß die Freiheit des Wortes, die das First Amendment der amerikanischen Verfassung garantiert, nicht nur für Druckwerke, sondern auch für die elektronischen Netze gelten müsse. Obwohl diese Vereinigung eher radikale Positionen vertritt, wird ihre Tätigkeit doch weitgehend von namhaften Unternehmen finanziert: von AT&T, MCI, Bell Atlantic, IBM, Sun Microsystems, Apple und Microsoft. Die übliche Erklärung betont die Übereinstimmung der Interessen: Jede Einschränkung der Kommunikationsfreiheit würde zugleich die Entwicklung der Märkte dieser Unternehmen hemmen. Daß Firmen, die nicht gerade im Ruf stehen, die Freiheit des Wortes zu verteidigen, den Kampf von EFF unterstützen, ist auch nur möglich, weil die „Kommunikationsfreiheit“, die diese Stiftung verteidigt, vor den eigenen Toren endet.

Die EFF verlangt von den G-7-Staaten den prinzipiellen Schutz des freien Informationsaustausches in den elektronischen Netzen und macht dabei keinen Unterschied zwischen Firmen und Einzelpersonen. Mangelnde Vorstellungskraft, Naivität oder Selbstzensur? Den Industrielobbies ist es egal. Die Erklärung, die drei von ihnen – von denen die EFF finanziell unterstützt wird – an die G7 gerichtet haben, kennt keine falsche Scham: „Die Datenschutzgesetze einiger Länder untersagen oder beschränken die grenzüberschreitende Übermittlung personenbezogener Informationen. Aber selbst wenn es geeignete Mechanismen geben sollte, um diese Übermittlung zu kontrollieren, dürfen die Restriktionen zum Schutz der Privatsphäre nicht dem legitimen Interesse widerstreben, sowohl national wie international Geschäfte auf elektronischem Wege zu tätigen.“7

Damit ist die Bahn frei für eine ideologische Offensive, die Unternehmen Bürgerrechte zuerkennen will, die bislang Personen vorbehalten waren. Aber haben denn Unternehmen und Bürger nicht gemeinsame Ziele gegenüber einem Staat, der sie ihrer Freiheit berauben will? Hier beginnt die Grauzone des anarcholiberalen Diskurses. Und viele der Ideen, die in den Gefilden des „Internet-Geistes“ zirkulieren, sind unklar genug, um sich ins Gegenteil verkehren zu lassen. Die amerikanische Rechte, die das nur zu gut begriffen hat, läßt es sich nicht nehmen, ihnen feste Konturen zu geben.

„Weniger Staat, mehr Freiheiten“ ist demnach eine der Losungen des Cato Institute, das zu den amerikanischen „Denkfabriken“ (Think Tanks) gehört.8 Indem es recht offene Haltungen zu gesellschaftlichen Fragen mit hemmungslosem Wirtschaftsliberalismus verbindet, bewegt sich dieses Forschungsinstitut im Internet-Denken wie der Fisch im Wasser. Es macht sich die Forderung der EFF zu eigen, das Recht auf Meinungsfreiheit nach dem First Amendment auf alle Kommunikationsmittel auszudehnen, denkt dabei aber bereits an die totale Deregulierung.

Auf das Problem, den „Zugang für alle“ zu garantieren, wird hier nicht mehr mit der Blauäugigkeit einiger „Internauten“ reagiert, sondern mit einer ganz hintersinnigen Argumentation. Der Clinton- Administration, die auf die Notwendigkeit einer Reglementierung pocht, um ein Minimum an Gleichheit zu gewährleisten, entgegnet das Cato Institute: „Vizepräsident Gore hat einen ,garantierten Zugang' zu den Diensten verlangt, was wohl die Anbieter demnächst verpflichten soll, gewisse Kunden umsonst zu bedienen. Denn tatsächlich haben die Individuen schon jetzt einen garantierten Zugang zu allen auf dem Markt vorhandenen Diensten, wenn sie nur dafür bezahlen...“9

Das Cato Institute plädiert dafür, alle Bestimmungen, die die Kommunikation reglementieren, durch das gewöhnliche Handelsrecht zu ersetzen. Die Idee wurde umgehend von einem anderen Think Tank aufgegriffen, von der Progress and Freedom Foundation (PFF), die Newt Gingrich, dem Sprecher des Repräsentantenhauses, nahesteht: Sie fordert konsequent die Auflösung der Federal Communications Commission (einer Art Rundfunkrat, der außerdem über Post und Telekommunikation wacht).

„Ein wenig Hardware und viel Deregulierung“ reichen völlig, wenn sich die künftigen Generationen von jenem Cyber- Westernhelden inspirieren lassen, der von den Theoretikern der PFF gefeiert wird: „Der Hacker widersetzte sich gesellschaftlichem Druck und mißachtete alle möglichen Vorschriften, um im Umgang mit billiger Computertechnologie seine Fähigkeiten zu schulen und zu erweitern.“10 Dieselben ultraliberalen Autoren nennen die Schulen obsolete „Masseninstitutionen“, die noch aus dem industriellen Zeitalter stammen. Die Glorifizierung des Hackers, „der immer wieder auch zum Schöpfer von neuem Wohlstand in Form neuer Unternehmen wurde“, ist also keineswegs ein allgemeiner Aufruf zur Insubordination, dahinter verbirgt sich vielmehr ein recht beunruhigendes bildungspolitisches Programm.

Also nieder mit dem Internet? Die Frage wird den Tausenden von Benutzern, die im Internet und anderswo Tag für Tag die demokratischen Freiheiten verteidigen, schlicht deplaziert vorkommen. Wie Professor Jon Wiener resümiert: „Das Internet erschließt in beispiellosem Umfang Informationsquellen. Es erleichtert die direkte Kommunikation, was der Demokratie förderlich sein könnte. Und es macht auch Spaß. Aber es ist keine neue Welt der Freiheit, die sich grundlegend von der unseren unterschiede, denn auch hier gibt es Zensur und Verleumdung, soziale und geschlechtliche Hierarchien, ganz zu schweigen von Werbung und Kommerz... Die Grenzen des wirklichen Lebens sind auch die Grenzen der virtuellen Realität.“11 Man mag bedauern, daß das Internet unsere nichtegalitären Gesellschaften widerspiegelt und daß es stärker von den aktuellen Debatten am Ende dieses Jahrhunderts geprägt ist als von seinen zukunftsweisenden Ideen. Aber man kann auch mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, daß die Gesellschaft das Netz noch im Griff hat.

dt. Andreas Knop

1 Carlos-Aberto Afonso, „Au service de la société civile“, und Roberto Bissio, „Cyberespace et démocratie“, Le Monde diplomatique, Juli 1994.

2 John Perry Barlow, „Howdy Neighbours“, The Guardian, 25. Juli 1995.

3 Vgl. Andrew L. Shapiro, „Street Corners in Cyberspace“, The Nation, New York, 3. Juli 1995.

4 Christian Huitema, „Un Français à la tête d'Internet“, Internet Reporter, Mai 1995.

5 Ebd.

6 Ins Leben gerufen von J. P. Barlow und Mitch Kapor, Multimillionär und einer der Gründer der Firma Lotus. Vgl. Yves Eudes, „Guerilleros im Dschungel des Internet“, Le Monde diplomatique (dt.), Juni 1995.

7 Eurobit-ITI-Jeida, Global Information Infrastructure. Tripartite Preparatory Meeting, 26./27. Januar 1995.

8 Vgl. Serge Halimi, „Die ,Think Tanks' der amerikanischen Rechten“, Le Monde diplomatique (dt.), Mai 1995.

9 The Cato Handbook for Congress, Washington (Cato Institute) 1995.

10 Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth und Alvin Toffler, „The Cyberspace and the American Dream: A Magna Charta for the Knowledge Age“, Progress for Freedom Foundation, Washington, 22. August 1994 (dt. Teilübersetzung in der FAZ vom 26. August 1994).

11 Jon Wiener, „Free Speech on the Internet“, The Nation, 13. Juni 1994.

Gastprofessor an der Fakultät für Informations- und Kommunikationswissenschaften in Rennes-II.

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Asdrad Torres