10.11.1995

Gelähmtes Spanien

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Gelähmtes Spanien

Von IGNACIO RAMONET

VOR zwanzig Jahren, am 20. November 1975, starb in Madrid General Franco. Die Diktatur faschistischer Prägung, die er nach seinem Sieg im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) errichtet hatte, blieb bis zu seinem Tod bestehen, nicht zuletzt dank des neuen globalen Gleichgewichts, das durch den Kalten Krieg entstanden war. Schon seit Mitte der sechziger Jahre hatte Spanien einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt; nach Francos Tod setzte eine Zeit des „demokratischen Übergangs“ ein, und die traditionellen Kräfte – Armee, Kirche und Großgrundbesitzer – gerieten in die Defensive.

Ohne jede gewaltsame Auseinandersetzung brach innerhalb weniger Wochen das politische Gebäude in sich zusammen, das der alte Diktator für ein Fortdauern nach seinem Tod errichtet hatte, ganz ähnlich wie fünfzehn Jahre später die osteuropäischen Regime. Und ebenso wie dort lebten auch in Spanien die regionalen Nationalismen (der katalanische, baskische, galicische, kanarische usw.) wieder auf, die im „einen und unteilbaren“ Großen Spanien lange Zeit unterdrückt worden waren.

Die neue Verfassung trug diesem Phänomen Rechnung, indem sie ein föderalistisch orientiertes „Spanien der Autonomien“ schuf und jeder Region die politischen Mittel zur Selbstverwaltung an die Hand gab. Diese „Rückkehr des Volkes“ erreichte 1982 mit dem Wahlsieg der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) und ihres Chefs, Felipe González, ihren Höhepunkt – das tragische Zwischenspiel des Franquismus schien beendet.

Die PSOE und ihre junge Führung waren die Hoffnungsträger eines ganzen Volkes. Angetreten mit der Parole „Hundert Jahre Ehrlichkeit“, versprachen sie, den Staat zu modernisieren, den Lebensstandard zu erhöhen, die Ungleichheiten abzubauen, den nationalen Zusammenhalt zu fördern und mit Korruption und Vetternwirtschaft aufzuräumen.

Eine Zeitlang schien ihnen alles zu gelingen. Um den Beitritt zur EG zu schaffen, setzten sie von Anfang an auf liberale Wirtschaftspolitik, hielten sich streng an orthodoxe finanzpolitische Vorgaben und akzeptierten die Marktzwänge. Spanien wurde zum Musterbeispiel des „Sozialliberalismus“. Nach seiner Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft 1986 erlebte das Land eine Art „glorreichen Jahrzehnts“.

Doch dann kam alles anders. 1994 verlor Felipe González bei der Europawahl und danach, im vergangenen Mai, auch bei den Kommunalwahlen. Seine Aura als charismatischer Führer ist dahin, und er steht im Kreuzfeuer der Kritik. Was war geschehen? Spanien hatte für den Anschluß an Europa einen hohen Preis gezahlt. Ganze Wirtschaftssektoren wie die Fischerei, die Viehzucht, die Milchwirtschaft, Werften, Stahlindustrie und Kohle gerieten in die Krise. Viele Multis investieren nicht mehr und planen eine Verlegung ihrer Fabriken ins Ausland.

Zwar haben sich die Abwertungen der Peseta (um 30 Prozent 1993 und 1994) auf die Exporte und den Tourismus positiv ausgewirkt, und man kann vielleicht davon ausgehen, daß die wirtschaftliche Erholung anhält (die Wirtschaftswachstumsrate wird dieses Jahr mehr als 3 Prozent betragen), aber die Krise ist noch immer deutlich spürbar. Etwa 22 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos, und acht Millionen Spanier leben unterhalb der Armutsgrenze.1

Hinzu kommt die Lawine von Korruptionsskandalen, in die bedeutende Führungsmitglieder der PSOE verwickelt sind. Nicht zu vergessen die Untersuchung der Vorgänge um die GAL, die „Antiterroristischen Befreiungsgruppen“, die in den achtziger Jahren in Frankreich etwa dreißig Mitglieder der baskischen Unabhängigkeitsbewegung umgebracht haben: Alles deutet darauf hin, daß diese Gruppen mit Zustimmung höchster sozialistischer Amtsträger aufgebaut wurden.2

Felipe González steht unter schwerem Beschuß durch die Medien3, seine katalanischen Verbündeten Convergència i Unió (rechte Mitte) haben ihn im Stich gelassen, und selbst in der eigenen Partei muß er immer heftigere Kritik hinnehmen. So regiert er nun in einem Klima der Unglaubwürdigkeit, der Verleumdung und des Durcheinanders. Den Zeitpunkt der allgemeinen Wahlen, die für 1997 vorgesehen waren, mußte er auf März 1996 vorverlegen, und alles deutet darauf hin, daß die rechte Volkspartei von José Maria Aznar als Sieger daraus hervorgehen wird.

In dieser Partei wurden einige Reformen durchgeführt, mit dem Ziel, sich vom traditionellen Bild der spanischen Rechten (klerikal, paternalistisch, zentralistisch und autoritär) zu lösen. Dennoch ist sie noch immer die politische Heimat für viele, die dem Franquismus nachtrauern. Vor allem im Baskenland und in Katalonien begegnet man der Partei mit tiefem Mißtrauen. Ihr Wirtschaftsprogramm – das ebenso gnadenlos neoliberal ist wie das der Sozialisten – läßt im übrigen nicht erkennen, daß die Konservativen Spanien aus seiner Lähmung befreien oder ihm etwa den nationalen Zusammenhalt zurückgeben könnten, der unter der GAL-Affäre stark gelitten hat. „Diese tragische Zeit des Staatsterrorismus“, schreibt Antonio Elorza, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Madrid, „hat einen Verfall des nationalen Zusammenhalts bewirkt. Einen solchen Schock hat das Land seit Inkrafttreten der Verfassung nicht erlebt.“4

Spanien, das zur Zeit den Vorsitz der Europäischen Union innehat, zahlt, wie andere Länder, den sozialen Preis für die allzu bereitwillige Unterwerfung unter die geheiligten „Konvergenzkriterien“, die im Vertrag von Maastricht festgeschrieben wurden. Es wirkt heute wie der „kranke Mann“ Europas, und man muß Schlimmes befürchten, falls erneut zwei nationalistische Lager – das zentralistische und das separatistische – an Einfluß gewinnen. Sie sind in den letzten Jahrhunderten schon mehrfach gegeneinander angetreten – zum Unglück Spaniens und seiner Bürger.

1 The Independent, London, 7.März 1995 und Le Monde, 26. Oktober 1994.

2 siehe Le Monde diplomatique, April 1995.

3 siehe das Dossier „El Padrino“, Cambio 16, Madrid, 2. Oktober 1995.

4 El Pais, 17. Oktober 1995.

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Von IGNACIO RAMONET