10.11.1995

Kuba zur Stunde der großen Reform

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Kuba zur Stunde der großen Reform

Am 22. Oktober war Fidel Castro aus Anlaß des fünfzigsten Jahrestages der Vereinten Nationen nach 35 Jahren zum ersten Mal wieder in New York und forderte erneut die Aufhebung des ungerechten amerikanischen Embargos gegen Kuba. Einige Tage zuvor hatte der iberoamerikanische Gipfel in Bariloche (Argentinien) dieselbe Forderung gestellt, da „nur eine Geste der Vereinigten Staaten Fidel Castro erlauben kann, sein Land weiter zu öffnen“. Die bisherige Öffnung ist beachtlich, wenigstens auf wirtschaftlicem Geet. Das ausländische Kapital und das Geld der Exilkubaner sind willkommen. Das Investitionsgesetz vom 4. September 1995 gehört zu den liberalsten des Kontinents. Die politische Öffnung ist dagegen nach wie vor sehr begrenzt. Der soziale Zusammenhalt schwindet, und in Havanna findet eine zweite Revolution statt, die erneut das Leben der Kubaner aufwühlt.  ■ Von unserer Sonderkorrespondentin JANETTE HABEL *N*

FÜNF Jahre „Sonderperiode“, fünf Jahre extremen Mangels und absoluter Rationierung – das hat die gesamte kubanische Gesellschaft gezeichnet. Die Kubaner wirken müde und von den kafkaesken Schwierigkeiten des Alltags erschöpft. Dabei hat sich trotz der scheinbar unveränderten offiziellen Reden fast alles verändert.

Jetzt werden die sozialen Brüche sichtbar, die die wirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen ausgelöst haben. Die Reformen, die ausländische Beobachter als „zu zögerlich“ oder „zu begrenzt“ kritisieren, haben schon jetzt eine gewaltige Auswirkung auf die Bevölkerung. Die Integration des Landes in die Weltwirtschaft hat eine neue Dynamik in Gang gesetzt, die die Gesellschaft tiefgreifend verändert: Auf der Straße kann man jetzt die Reichen von den Armen unterscheiden. Auf den agromercados (den freien Bauernmärkten, die seit dem Sommer 1994 zugelassen sind) findet man fast alles, aber zu unerschwinglichen Preisen. Ein Pfund Fleisch kostet dort 35 Pesos (bei einem Durchschnittseinkommen von etwa 180 Pesos im Monat). Doch den Habaneros ist das noch lieber als die vorherige Nahrungsmittelknappheit. In einem Bericht1 informiert die Regierung über die Leiden, die durch die Mängel in der Lebensmittelversorgung und im Gesundheitsbereich verursacht wurden. Erstmals wird die „zentrale Rolle der mangelhaften und unausgewogenen Ernährung“ bei der Neuropathie-Epidemie, die 1993 die Insel erschütterte, zugegeben. Der Bericht weist auch darauf hin, daß seit 1992 wieder Kinder mit weniger als 2,5 Kilo Gewicht zur Welt kommen. Der katastrophale Zustand der Kanalisation hat zur Zunahme von Amöbenruhr und Typhus geführt.

Der Wohlstand der Neureichen stammte zunächst aus den erfolgreichen Spekulationen auf dem Schwarzmarkt vor den Reformen und dann aus den Gewinnen, die seit der Legalisierung der Privatinitiativen besonders auf dem Land erzielt worden sind. Die früher als „Kulaken“ beschimpften privaten Landbesitzer werden durch den Direktverkauf ihrer Ernten reich. Auch im informellen Wirtschaftssektor macht so mancher seinen Schnitt: Handwerker oder Besitzer von paladares, der jetzt legalen, zumeist in Privatwohnungen untergebrachten Restaurants. Die Steuern sind zwar sehr hoch, doch die Bauern liefern ihre Ware heimlich, unter Umgehung der agromercados, frei Haus und sparen sich so die Steuern. Und die mit der Kontrolle der Restaurants beauftragten Inspektoren lassen sich gern mit einigen Mahlzeiten korrumpieren...

Die spektakuläre Zunahme der Ungleichheiten als Folge des beispiellosen Aufschwungs der Privatinitiativen läßt sich an der Konzentration der Bankguthaben verdeutlichen: 3 Prozent der Kontoinhaber verfügen über ungefähr 85 Prozent der eingezahlten Gelder.2 Und dabei handelt es sich nur um die Peso-Konten. Darüber hinaus müßte man die in Strümpfen aufbewahrten Dollarsummen berücksichtigen.

Demokratisierung tut not

DIE Zunahme des sozialen Gefälles wird durch den Zusammenbruch der sozialen Errungenschaften noch verschärft und stellt für die Regierung zur Zeit ohne Zweifel die größte Herausforderung dar. Die Gesellschaftsstrukturen verändern sich rasant. Die Kubaner sprechen inzwischen von einer „Umkehrung der Pyramide“, weil die einst privilegierten Schichten wie Ärzte, Lehrer oder Ingenieure sich nun auf der unteren sozialen Stufe wiederfinden. Das Interesse an gesellschaftlich nützlicher Arbeit nimmt zugunsten besser bezahlter Tätigkeiten ab. Entsprechend groß ist die Unzufriedenheit etwa bei den Ärzten, denen es nicht erlaubt ist, privat zu praktizieren. Manche wandern aus, andere wechseln den Beruf oder üben ihn heimlich aus.

Bei den Arbeitern und Technikern sind die Veränderungen nicht geringer: Niemand weiß, wie man der Fluktuation der Arbeitskräfte Herr werden soll. „Jährlich werden zweitausend Angestellte und Techniker in den Zuckerzentralen eingestellt, doch am Ende der Ernte geben ebenso viele ihren Arbeitsplatz auf. Es ist ein Faß ohne Boden...“3

Das neue Investitionsgesetz vom 5. September wird diese Widersprüche ohne Zweifel noch verschärfen, obwohl es viel restriktiver ist, als es scheint. Zwar wird dadurch die Gründung von Unternehmen mit 100 Prozent ausländischem Kapital ebenso ermöglicht wie die Bildung von Freihandelszonen und die Investitionen von Exilkubanern über ausländische Partner. Die Investitionsentscheidungen müssen jedoch zuvor von einer zentralen Kommission bestätigt werden, die vom Ministerrat bestimmt wird, und die Bereiche Gesundheit, Bildung und Verteidigung sind vom Gesetz ohnehin ausgenommen. Auch kann das Personal nicht frei angeworben werden: die von den ausländischen Unternehmen eingestellten Arbeitskräfte verbleiben unter der Kontrolle eines Staatsunternehmens, das die Löhne und Gehälter in Devisen einnimmt und dann in Pesos auszahlt.

Bei der Diskussion über den Gesetzentwurf wurden zum ersten Mal öffentlich Meinungsverschiedenheiten in der Nationalversammlung ausgetragen. Wenn man den Exilkubanern die Erlaubnis zu Investitionen gibt – was nach Meinung des Abgeordneten Agustin Lage, dem Bruder des Vizeministerratsvorsitzenden Carlos Lage, „eine Belohnung der Konterrevolutionäre“ ist, die in den Vereinigten Staaten ein Vermögen gemacht haben –, wie kann man sie dann den Inselkubanern versagen? Denn diesen ist es nicht gestattet, Privatunternehmen zu gründen oder Leute einzustellen, mit Ausnahme von Familienmitgliedern.

Auch über eine Unternehmensreform und die Gesetzgebung für die kleineren und mittleren Unternehmen wird debattiert. Die Umstrukturierung der unrentablen Staatsbetriebe würde den Verlust mehrerer hunderttausend Arbeitsplätze bedeuten, und der kann durch das Wachstum des informellen Sektors nicht ausgeglichen werden. Zudem sind die ausländischen Investitionen nach wie vor ungenügend. „Nur die Entwicklung kleiner Unternehmen“ – anders gesagt, ein kubanischer Privatkapitalismus – „könnte das Ansteigen der Arbeitslosigkeit eindämmen“, meinen manche Verantwortliche.

Tatsächlich scheint der Konsens mehr von den Wirtschaftsreformen untergraben zu werden als von den dramatischen, jedoch egalitäreren Einschränkungen der ersten Jahre der „Sonderperiode“. Das ist das Paradoxe an der Situation, das von den westlichen Analytikern oft verkannt wird.

Während die Wirtschaft grundlegende Reformen erlebt, kommen die Veränderungen der politischen Institutionen, die übereinstimmend von Washington, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der Europäischen Union gefordert werden, nicht vom Fleck. Aber auch die traditionellen Kontrollmechanismen geraten ins Wanken. Der amerikanische Essayist Gillian Gunn stellt fest: „Die Wirtschaftsreformen führen allmählich zu einer Auflösung der Macht innerhalb der Gesellschaft.“4 Es wird immer deutlicher, wie wenig das alte politische System den neuen Realitäten noch gerecht wird.

Wie könnte man zugleich aus dem alten Trott des „realen Sozialismus“ herauskommen und die Klippen des in Lateinamerika herrschenden abhängigen und ultraliberalen Kapitalismus umschiffen? „Wir sind zu zwei Schlüssen gekommen“, erklären die Ökonomen Julio Carranza und Pedro Monreal. „Die Erfahrungen, die auf der Welt mit dem Sozialismus gemacht worden sind, lösen die Probleme Kubas nicht. Die in Lateinamerika herrschenden Systeme jedoch auch nicht. Deshalb sind wir zu der Überzeugung gelangt, daß wir etwas Neues erfinden müssen. Ob uns das gelingen wird, wissen wir nicht. Es ist eine Herausforderung.“

Einerseits kritisieren Carranza und Monreal die Schäden, die durch die staatliche Zentralisierung und das Scheitern der bürokratischen Planung angerichtet worden sind. Anderseits bemühen sie sich nun, die Rolle des Staates im Rahmen eines Systems neu zu definieren, in dem der Markt eine ungleich größere Rolle spielen würde. „Der Staat muß in der Lage sein, die grundlegenden Wirtschaftsmechanismen zu kontrollieren, insbesondere zwei wesentliche Bereiche: Er muß Eigentümer eines Teils der Produktionsmittel bleiben, wobei er dieses Eigentum mit ausländischen oder einheimischen privaten Partnern teilen kann. Und er muß sich die Möglichkeit bewahren, die Wirtschaft insgesamt durch die Einsetzung wirtschaftlicher Hebel wie Wechselkurse, Währungspolitik und Steuerpolitik zu lenken. Zweitens muß er weiterhin in der Lage sein, die Sozialausgaben zu finanzieren...: ein Bildungssystem für die gesamte Bevölkerung, ein Gesundheitssystem, das auch die Ärmsten oder zeitweilig Arbeitslosen schützt. Drittens muß der Staat unbedingt über die Mittel verfügen, die nationalen Interessen gegen das ausländische Kapital zu verteidigen.“ Nach Meinung der beiden Experten ist für diese Strategie eine reale Demokratisierung der Institutionen notwendig, damit die Bevölkerung erneut mobilisiert und ein neuer politischer Konsens hergestellt werden kann.

Carranza und Monreal befürworten eine umfassende Reform des Systems und werfen den Verantwortlichen Stückwerk vor. Julio Carranza kritisiert insbesondere die seit 1993 verfolgte Politik, „die vor allem die ausschließlich lohnabhängige Bevölkerung in Mitleidenschaft zog“5.

Die Strategie der Regierung ist eine Folge des Kompromisses zwischen den alten Führungskräften und den neuen Technokraten, die mit Joint-ventures und außenhandelsorientierten kubanischen Unternehmen einen prosperierenden Wirtschaftszweig aufbauen. Die ersteren interpretieren die Reformen als eingeschränkte Konzessionen und liebäugeln mit einer Vorgehensweise nach chinesischem oder vietnamesischem Vorbild. Letztere befinden sich dank ihrer Erfolge in einer Position der Stärke und fordern eine allgemeine Durchsetzung der Marktwirtschaft, doch brauchen sie die Stabilität, die ihnen Fidel Castro trotz seiner angeschlagenen Legitimität noch bieten kann.

Die Reformen haben Kräfte freigesetzt, die das Regime nicht mehr kontrollieren kann. Die traditionellen Organisationen sind geschwächt. Die Partei ist heterogen, man kann in ihr alles finden – „selbst Christdemokraten“, wie ein Funktionär sagt. Die Gewerkschaft sucht angesichts des brutalen Anstiegs der Arbeitslosigkeit nach einer Neubestimmung ihrer Rolle. Die Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR) werden mangels Aktivisten ihrer Überwachungsfunktion nicht mehr gerecht. Der Verband der Kubanischen Frauen (FMC) steckt in einer tiefen Krise. Und schließlich ist ein großer Teil der Jugend entpolitisiert. Nur die Streitkräfte, die in die Produktion einbezogen sind, scheinen stabil und homogen. Unter der Führung von Raúl Castro stehen sie an der Spitze der Wirtschaftsreformkräfte.

Die Suche der Intellektuellen nach Diskussionsforen hat eine kulturelle Debatte in Gang gesetzt, die früher undenkbar gewesen wäre, selbst einige sehr kritische Zeitschriften werden inzwischen herausgegeben. Die bemerkenswerteste, Temas, stellt eine polemische Bilanz der „orthodoxen“ historischen Schriften vor, die bis 1990 offiziellen Charakter hatten. Das Zentrum für Amerikastudien (CEA) hat unlängst ein Buch über „die Demokratie in Kuba“ veröffentlicht, in dem der Politologe Haraldo Dilla in besonders kritischem Ton für eine Neuorganisation der politischen Beziehungen in einem pluralistischen Sinne plädiert.6 Eine weitere Zeitschrift, Acuario7, wird von einer regierungsunabhängigen Organisation (dem Zentrum Felix Varela) herausgegeben.

Widersprüchliche Haltung der USA

DIE Kirche, deren neuer Kardinal, Jaime Ortega, beim Übergang eine entscheidende Rolle spielen will, veröffentlicht zahlreiche Publikationen. Neben Palabra Nueva, dem offiziellen Organ der Diözese Havanna, gibt ein katholisches Zentrum für staatsbürgerliche und religiöse Schulung in Pinar del Rio die Zeitschrift Vitral heraus, die einige sehr kritische Artikel über das Regime enthielt. Die bischöfliche Kommission „Gerechtigkeit und Frieden“ stellte vor kurzem Betrachtungen über „wirtschaftliche, soziale und politische Probleme der Gesellschaft“ an.

Die Hinterlassenschaft einer zu alldogmatischen Erziehung und die Notwendigkeit, der „revolutionären Ethik“ einen neuen Sinn zu verleihen, wird sogar in der Nationalversammlung debattiert, da man sich Sorgen über das Desinteresse der Jugend macht.

Kuba erlebt eine gewaltige Umwandlung in einem außerordentlich schwierigen außenpolitischen Kontext, zu einer Zeit, da die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten einem ständigen Wechselbad gleichen. Die Annahme des Gesetzes Burton-Helms durch das Repräsentantenhaus in Washington mit 294 gegen 130 Stimmen (eine gute Zweidrittelmehrheit, die trotz der europäischen und lateinamerikanischen Warnungen zustande kam) macht die Dinge nicht besser. Wie ein Leitartikel der Washington Post8 betonte, würde das neue Gesetz „das Elend des kubanischen Volkes verschlimmern und die Wahrscheinlichkeit von Unruhen und Gewalttätigkeiten vergrößern, die ein kubanoamerikanisches oder gar amerikanisches Engagement nach sich ziehen würden: ein Alptraumszenario“. Ein abgeänderter Entwurf dieses Gesetzes wurde Ende Oktober vom Senat angenommen und setzte der Obstruktionstaktik der demokratischen Senatoren vorläufig ein Ende. Der abgeänderte Wortlaut des Gesetzesvorschlags bedarf nun einer erneuten Bestätigung durch das Repräsentantenhaus. Außenminister Warren Christopher drohte für den Fall, daß der Text vom Kongreß angenommen würde, mit einem Veto des Präsidenten. Diese Drohung würde jedoch nur dann wirksam , wenn die Mehrheit der Abgeordneten nicht zwei Drittel der Stimmen erreichte...

Wie ist eine derartige Eskalation zu erklären? Zwei Taktiken stehen sich gegenüber: Die Fürsprecher einer Politik des Erstickens (squeeze advocates) sammeln sich bei den Republikanern und den konservativsten Demokraten und werden von den nach 1959 enteigneten kubanischen Großgrundbesitzern unterstützt. Ihr Ziel ist es, Fidel Castro zu stürzen. Nach Aussage von Gary Jarmin, dem (republikanischen) Präsidenten einer Stiftung, die den Handel mit Kuba fördern möchte, soll der Entwurf zum Gesetz Burton-Helms unter Mitarbeit von Nicolás Gutiérrez (einem ehemaligen Zuckerbaron) und der Familie Bacardi verfaßt worden sein; letztere sieht es gar nicht gern, wie Pernod-Ricard den Rum Havana Club vermarktet.9

Im Gegensatz zu den Fürsprechern der Burton-Helms-Bill empfiehlt der Inter- American Dialogue10, den Track Two des Gesetzes Torricelli von 1992 anzuwenden, also den zweiten Teil dieses Gesetzes, der das im ersten Teil formulierte Embargo „ergänzt“. Dabei geht es darum, Austausch und Kontakte zu fördern, um das Regime von innen her zu untergraben, ohne jedoch eine offene Konfrontation zu provozieren, die im Golf von Mexiko als zu riskant angesehen wird.

Auf diesen zweiten Aspekt des Torricelli-Gesetzes setzte auch der Sonderberater des Weißen Hauses für kubanische Angelegenheiten, Nuccio. Er regte eine stärkere Präsenz von amerikanischen Presseagenturen und NGOs in Kuba an und empfahl, universitäre und kulturelle Kontakte sowie Geldüberweisungen an Familien zu fördern. Diese Politik wurde am 6. Oktober dieses Jahres vom Präsidenten Bill Clinton bestätigt11, der gleichzeitig aber erneut seinen Willen bekundete, das Embargo zu verstärken. Der Präsident der kubanischen Nationalversammlung, Ricardo Alarcón, wies diese Politik zurück.

Laut einem im März 1995 veröffentlichten Bericht ist das Pentagon ebenfalls der Meinung, daß es im Interesse der USA sei, eine Liberalisierung der Beziehungen mit Kuba zu fördern – auch mit Fidel Castro –, um eine Krise mit ernsten regionalen Folgen zu vermeiden. Das Pentagon hält die Bildung einer „Exilregierung“ nicht für erstrebenswert – das ist das Ziel von Jorge Más Canosa, dem Führer der Miami-Kubaner, der im April 1992 die Wahlkampagne von Clinton mit 275000 Dollar unterstützt hatte. Eine solche Regierung, die in Kuba als „ausländische Kraft“ angesehen würde, könnte einen Bürgerkrieg auslösen und dadurch „eine amerikanische Intervention provozieren“12, die nicht mit den Forderungen nach Stabilität und der geltenden Verteidigungsdoktrin für die Hemisphäre vereinbar wäre.13

Interessen der Geschäftswelt und des Vatikans

DIE amerikanische Geschäftswelt steht dahinter nicht zurück. Unter dem Schirm des Kommunikationsriesen Time-Warner begaben sich rund fünfzig amerikanische Unternehmer, und nicht die kleinsten (General Motors, Hyatt Hotels, Sears, Harley Davidson...), im Oktober dieses Jahres nach Havanna, um Fidel Castro zu treffen, der in New York während seines Aufenthalts anläßlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der UNO Gast von David Rockefeller war.

Die neue amerikanische Taktik war während der Unterzeichnung der Einwanderungsverträge im September 1994 und Mai 1995 eingeleitet worden. Von der Europäischen Union und der Mehrheit der lateinamerikanischen Regierungen war sie seit langem angeregt worden und trifft nun auf die Unterstützung von César Gaviria, dem ehemaligen kolumbianischen Präsidenten und heutigen Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). An Vermittlungsversuchen fehlt es nicht. Jimmy Carter hat entsprechende Anstrengungen unternommen, wobei er von gemäßigten Exponenten der kubanischen Exilgemeinde in Miami unterstützt wurde, auf die Havanna hört.

Auch der Vatikan ist sehr aktiv. Die kubanische Kirche und die nordamerikanische Bischofskonferenz begrüßen den Dialog mit Fidel Castro, und eine Reise des Papstes nach Havanna wird erneut ins Auge gefaßt.14 Die Kontakte zwischen dem Heiligen Stuhl und Kuba sind intensiver geworden: Papst Johannes Paul II. hat sich für die Aufhebung des Embargos ausgesprochen, und die gemäßigten Worte des neuen Kardinals Ortega während seines Besuchs in Miami haben den Zorn der Castro-Gegner hervorgerufen. Die Strategie des Papstes könnte die kubanische Kirche zum ersten Mal in ihrer Geschichte in die Lage versetzen, eine zentrale Rolle zu spielen, ihren Einfluß und den des Katholizismus auf dem Kontinent zu stärken (und vielleicht die Nachfolge Johannes Pauls II. durch einen Kardinal der Dritten Welt vorzubereiten...).

Die Europäische Union ist ihrerseits dabei, über einen Kooperationsvertrag mit Havanna zu verhandeln: eine französisch- spanisch-italienische Troika soll sich in nächster Zukunft nach Kuba begeben, um die Vorverhandlungen zu führen. Washington steht dieser Initiative mißtrauisch gegenüber...

Steht eine Normalisierung der kubanisch-amerikanischen Beziehungen bevor? Die kommenden zwei Jahre werden entscheidend sein: In den Vereinigten Staaten würde der Sieg eines Republikaners bei den Präsidentschaftswahlen des kommenden Jahres die Situation verändern. In Kuba stehen wichtige Veränderungen bevor, und die Frage der Demokratisierung des Regimes steht auf der Tagesordnung. Doch das politische Szenario in Havanna ist weiterhin ungewiß. Welche institutionellen Veränderungen, welcher Pluralismus, welcher Platz für Fidel Castro werden sich durchsetzen? Die Bildung einer Art Regierung der nationalen Einheit und des Überganges kann nach Ansicht von Havanna nur gelingen, wenn die Souveränität und ein Teil der in der Revolution von 1959 erkämpften sozialen Errungenschaften bewahrt werden. Diese Forderung setzt voraus, daß die mit diesem Jahr einsetzende wirtschaftliche Erholung von Dauer ist.

JANETTE HABEL

dt. Vincent von Wroblewsky

1 Plan nacional de Acción para la nutrición, Republik Kuba 1994.

2 Pedro Monreal, „Workshop on the Future of Economic Reforms in Cuba“, Shaw, Pittman, Potts & Trowbridge, 1995.

3 Trabajadores, Havanna, 29. Mai 1995.

4 Cuba in Transition, Twentieth Century Fund Press, New York 1993.

5 Julio Carranza, „Cuadernos de Nuestra América“, 1994.

6 La Democracia en Cuba y el diferendo con los Estados Unidos, Havanna 1995.

7 Das Buch seines Direktors, José Antonio Blanco, „Tercer Milenio“, ist eine sehr kritische Bilanz des realen Sozialismus im Osten.

8 Vom 23. September 1995.

9 Washington Times vom 26. September 1995.

10 Einflußreiches Forschungszentrum für Angelegenheiten der Hemisphäre.

11 El Pais, Madrid, 7. Oktober 1995.

12 The Military and Transition in Cuba, Bericht des Pentagon unter der Leitung von Nestor Sánchez. Washington, März 1995.

13 „United States Security Strategy for the Americas“, Informe Latinoamericano, 21. September 1995.

14 Vgl. Gespräch mit Tad Szulc, El Pais, 30.9.95.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungszentrum für Lateinamerika und die Karibik (CREALC), Aix-en-Provence, Autorin von „Kuba – Die Revolution in Gefahr“, Frankfurt a.M. 1993 (ISP)

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Janette Habel