10.11.1995

Die Intellektuellen kehren nach Beirut zurück

zurück

Die Intellektuellen kehren nach Beirut zurück

Von

NADIA

KHOURI-DAGHER *

BEIRUT wird wieder aufgebaut, überall sind Baukräne und lärmende Förderbänder in Bewegung. Aber auch die Intellektuellen haben sich an den Wiederaufbau gemacht: in aller Stille, aber nicht weniger tatkräftig, arbeiten die Verlage und Buchhandlungen, die Universitäten und die Kunstgalerien, die Journalisten, Künstler, Schriftsteller und alle schöpferisch Tätigen an der kulturellen Erneuerung der Hauptstadt. Die Stadt soll wieder zu dem werden, was sie vor dem Krieg gewesen ist – das intellektuelle Zentrum der arabischen Welt.

Eigentlich war das kulturelle Leben nie ganz zum Stillstand gekommen. „Wir haben auch während des Krieges weitergemacht, es gab neue Bücher, Theaterstücke und Filme“, berichtet Elias Khoury. „Auch wenn wir uns kein Gehör verschaffen konnten – wir waren immer da!“ Elias Khoury ist Schriftsteller, Theaterregisseur und Bühnenautor, außerdem Chefredakteur der wöchentlichen Kulturbeilage von An Nahar, der größten Tageszeitung des Landes.

Nach wie vor erschienen im Libanon jährlich mehr Bücher als in jedem anderen arabischen Land, und auch die Internationale Arabische Buchmesse, die älteste ihrer Art (es gibt sie seit 1956), konnte sich halten, obwohl sie eine Weile lang von den ausländischen Verlagen gemieden wurde. Weiterhin hielten die renommierten Literaturzeitschriften Al Adab, Al Naqed und Al Tariq Ausschau nach jungen Talenten, boten Anregungen zum kritischen Denken – und fanden in den Nachbarländern rege Verbreitung.

Zwar mußten die Universitäten ihre wissenschaftlichen Kolloquien und Konferenzen reduzieren, aber ihre Professoren und Forscher waren nach wie vor weltweit unterwegs. Die sozialwissenschaftliche Forschung war nicht eingestellt worden, sondern sie orientierte sich an den neuen Gegebenheiten. So hat die Universität Saint-Joseph (USJ) mitten im Krieg eine ausführliche Erhebung zur Lage der Vertriebenen im Libanon durchgeführt, an der Soziologen, Anthropologen und Statistiker beteiligt waren.

Auch während des Krieges wurden libanesische Bühnenstücke auf den Theaterfestivals in der Region gezeigt und gewannen Preise. Regisseure wie Maroun Baghdadi oder Jocelyne Saab drehten Filme über Beirut, Abdel Hakim Caracallah organisierte Tanzaufführungen, und die Brüder Rahbani stellten Gesangsveranstaltungen auf die Beine.

Nach der israelischen Invasion von 1982 hatten sich viele der besten Köpfe aus Beirut abgesetzt, allerdings betraf das in erster Linie Künstler und Intellektuelle aus anderen arabischen Ländern. Man darf nicht vergessen, daß die rege Kulturszene nicht nur libanesisch geprägt war, sondern auch palästinensisch, irakisch, syrisch und jordanisch – eben arabisch. Beirut hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als die große Aufbruchbewegung „Nahda“ unter den arabischen Intellektuellen die Stadt zu ihrem Zentrum machte, immer wieder Denker und Schriftsteller aus der Region angezogen. Mahmud Darwisch (Palästina), Saad Youssef und Hadi Al Alawi (Irak), Adonis, Nizar Qabbani und Ghada Samman (Syrien), Ghaleb Halassa (Jordanien) – sie und viele andere haben früher oder später das Land verlassen. Viele von ihnen sind inzwischen zurückgekehrt.

Der bewaffnete Konflikt bedeutete jedoch nicht nur einen Einschnitt, er weckte auch schöpferische Kräfte. „Während des Krieges war das kulturelle Leben so eingeschränkt“, erklärt Maria Chaktoura, Feuilletonchefin bei der Tageszeitung L'Orient-Le Jour, „daß die Leute ganz verrückt waren nach Kultur. Sie brauchten Orte, wo sie sich treffen, Foren, wo sie sich austauschen konnten.“ Amal Traboulsi hat 1979 eine Galerie eröffnet; dreimal mußte sie wegen der Bombardierung umziehen – aber sie konnte ihren Besuchern eine neue Generation von Malern vorstellen. „Das war unsere Art, gegen den Krieg aufzubegehren“, sagt sie, „zu zeigen, daß die Kunst der Gewalt überlegen ist. Und auch eine Art, mit der Gewalt fertig zu werden. Heute sagen wir uns: Was für ein Wahnsinn! Aber das hat uns am Leben erhalten.“

Die Teilung Beiruts spielte ebenfalls eine wichtige Rolle. Während im Westteil der Stadt die Theater, Kinos, Galerien und andere Treffpunkte verlegt und zusammengeschlossen wurden, öffneten im Osten und überall an der Küste (dem christlichen Teil) zahlreiche neue Kultureinrichtungen ihre Tore. Zwar setzten die Theater in Djunieh eher auf Boulevardstücke als auf ambitionierte Produktionen, und die neuen Kunstgalerien an der Küste zeigten lieber gefällige Aquarelle als Arbeiten talentierter junger Künstler. Dennoch verdankt der Osten dieser Phase ein paar gute neue Adressen.

In allen Werken, die seither geschrieben, gemalt oder aufgeführt wurden, ist der Krieg gegenwärtig. Das gilt vor allem für die Romane, und manche betiteln die gegenwärtige literarische Strömung auch mit „Kriegsroman“1. Zu den größten Theatererfolgen der letzten Jahre gehört das Stück „Mémoires de Job“ von Elias Khoury, das in der Inszenierung von Roger Aassaf beim Theaterfestival von Karthago mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Es handelt vom Krieg, vom Erinnern und vom Vergessen...

Auch neue Verlage sind entstanden, Dar Al Jadid zum Beispiel, wo Arbeiten junger Autoren erscheinen. Und die intellektuelle Auseinandersetzung ist wieder in Gang gekommen: so heftig, daß sich manche schon über das „Versammlungsfieber“ beschweren, das die Stadt erfaßt habe. Jede Woche sind mehrere Veranstaltungen angesagt, ständig neue Podiumsdiskussionen und Gesprächsrunden – über den Frieden im Nahen Osten, über die Abschaffung der politisch-religiösen Ordnung im Libanon, über die Zukunft der Jugend... Der junge Maler Bassam Kahwaji formuliert es drastisch: „Die Älteren erzählen immer, der Libanon sei die Schweiz des Nahen Ostens gewesen. Er war wohl eher das Bordell des Nahen Ostens. Wir wollen diese Lügen nicht mehr, wir versuchen, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen.“

In den Buchhandlungen sind derzeit vor allem Bücher gefragt, die sich mit Politik oder Geschichte (was letztlich dasselbe ist) des Nahen Ostens und des Libanon auseinandersetzen. Zwei Arbeiten des Falangistenführers Karim Pakradouni („La Paix manquée“ und „Malédiction sur la nation“) haben sich sehr gut verkauft, nicht minder der Roman „Le Rocher de Tanios“ von Amin Maalouf (Prix Goncourt 1994), der die Geschichte eines libanesischen Dorfes literarisch verarbeitet. Wie groß der Wissensdurst und Bildungshunger ist, läßt sich daran ablesen, daß drei Buchmessen gleichzeitig stattfanden, die über zweihunderttausend Besucher anzogen.

Beirut wird wieder zu einem Ort, an dem jeder arabische Intellektuelle oder Künstler einmal gelebt haben muß. Hier beginnt man seine Karriere, versucht bekannt zu werden und sein Publikum zu finden. Und darum sind heute in dieser Stadt (als Neuankömmlinge oder Rückkehrer) eine Reihe bekannter Künstler anzutreffen: der syrische Dichter Adonis, die jordanische Bildhauerin Muna Saudi, der syrische Maler Youssef Abdelki, die irakischen Maler Ali Taleb und Dia El Azzawi, die tunesischen Regisseure und Bühnenautoren Tewfik Jebali und Fadhel Jaibi und die tunesische Choreographin Nawal Skandrani sowie eine Reihe junger Künstler, darunter etwa der irakische Bildhauer Halim Mehdi, der kürzlich auf der Herbstausstellung des Sursoc-Museums mit dem Ersten Preis ausgezeichnet wurde. „In meiner Heimat durfte ich mich überhaupt nicht äußern“, sagt er. „Aber ein Bildhauer muß die Möglichkeit haben, sich auch in Worten auszudrücken.“ Der jordanische Maler Rafik Majdoud ist erst kürzlich in die Hauptstadt gekommen und erklärt, warum: „Diese Stadt ist in Bewegung, man lebt intensiver und konzentrierter.“

Eine andere wichtige Folge des Krieges dürfte darin liegen, daß die Libanesen sich ihrer Identität als Araber stärker bewußt geworden sind – das gilt auch für die französischsprachige christliche Oberschicht. Die Sprache der Literatur und des Theaters war stets entweder Französisch oder Hocharabisch. Nun wendet man sich verstärkt den libanesischen Regionalsprachen zu. Und die Intellektuellen geben ihre Pressekonferenzen jetzt vorzugsweise auf arabisch, auch wenn sie perfekt französisch sprechen.

Dieser Aufbruchstimmung steht allerdings die Wirtschaftskrise entgegen, unter der vor allem der Mittelstand zu leiden hat. „Der Krieg hat die sozialen Unterschiede verringert“, meint Tony Naufal, der Leiter des gleichnamigen Verlags. „Aber es war eine Angleichung nach unten.“ Seltsamerweise liefen die Geschäfte im Bereich Kunst und Kultur während des Krieges besser – die Libanesen hatten damals einfach mehr Geld. Der Kunstmarkt florierte, und die Bücher fanden guten Absatz, weil es die Schicht der Neureichen und die Rückkehrer aus dem Exil gab – diese Leute brauchten Objekte, die ihre Wohnungen schmücken und ihre neuen Bücherregale zieren sollten.

Seither ist der Umsatz in den Buchhandlungen drastisch zurückgegangen. Bücher aus dem Ausland sind unerschwinglich geworden. Sie werden zum französischen oder englischen Originalpreis verkauft, aber ein kleiner Beamter verdient nicht mehr als umgerechnet 30 Mark im Monat und ein Ingenieur selten mehr als 100 Mark. „Als ich Student war“, erinnert sich Hamoud Adnan, der heute die Arabische Buchmesse organisiert, „habe ich in den Monaten vor der Buchmesse immer etwas zurückgelegt. Aber heute sieht man kaum jemanden, der mehr als ein oder zwei Bücher von der Messe mit nach Hause nimmt.“

Da es keine staatliche Aufsicht gibt, hat sich das Angebot im Bereich der audiovisuellen Medien vervielfacht. In Beirut senden rund sechzig Fernsehstationen und fast einhundertsechzig Radiostationen – die genaue Zahl weiß niemand –, und mit Ausnahme von zwei Fernsehkanälen und einem Radioprogramm sind es private und illegale Sender. Im Kampf um die Einschaltquoten und Werbeeinnahmen werden vorzugsweise Unterhaltungsprogramme gesendet, amerikanische B-Movies und lateinamerikanische Telenovelas. Das Publikum, das angesprochen werden soll, ist größer geworden. Jeder Dorfbewohner hat heute einen Fernsehapparat.

„Die Zukunft der Kultur im Libanon hängt von den Maßnahmen der Regierung ab“, meint Nabil Dajjani, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Amerikanischen Universität in Beirut. „Wenn man weiterhin den Dingen ihren Lauf läßt, wird es nur noch immer mehr Mittelmäßiges geben. Die Verschmutzung der Kultur ist dramatischer als die der Umwelt.“

Nach Meinung von Joseph Bahout, der am Institut für Mittel-Ost-Studien (CERMOC) forscht, findet derzeit „die zunehmende Verbreitung von immer mehr Dingen immer schlechterer Qualität“ statt. Denn abgesehen von der „Angleichung nach unten“, die bestimmten sozialen Schichten widerfährt, formieren sich die ethnisch-religiösen Gemeinschaften als neue Kulturkonsumenten. Das gilt vor allem für die Schiiten, deren sozioökonomischer Status sich deutlich verbessert hat und die zum Beispiel jetzt häufiger auf Buchmessen anzutreffen sind.

Die eigentliche Gefahr aber liegt in einer sich ausbreitenden Ideologie der Oberflächlichkeit, die mit der allgemeinen Jagd nach dem Geld und dem gestiegenen Ansehen der Geschäftemacherei einhergeht. „Die materiellen Interessen sind so stark in den Vordergrund getreten, daß Kultur erst an zweiter Stelle kommt“, meint Joseph Bahout.

So sieht es auch Fadia Jeha, die energische Leiterin der Buchhandlung Ras-Beyrouth: „Seit dem Krieg geht es an den Universitäten zu wie im Schnellimbiß – man kommt rein, holt sich sein Diplom und verschwindet wieder. Die Studenten lesen inzwischen nur noch das Allernötigste, mehr ist nicht drin... Zu meiner Zeit war das Universitätsstudium mehr wie ein gutes Menü: einige Apéritifs vorweg, dann Vorspeise, Hauptgericht, Nachtisch und zum Schluß etwas für die Verdauung... Bildung hatte einen ganz anderen Wert.“

Die Situation im Libanon der Nachkriegszeit ist widersprüchlich: die kulturelle Erneuerung wird von einem immer kleineren Publikum mitvollzogen, man beruft sich auf die arabische Identität, aber erlebt eine ausländische Invasion, allgemeine Einfuhrerlaubnis geht einher mit Zensur in Einzelfällen, es gibt die künstlerische Avantgarde neben dem kulturellen Amüsierbetrieb.

Und dennoch, auch wenn die Sängerinnen in den Nachtclubs von Djunieh nicht singen können, wenn immer mal wieder ein paar Seiten im Paris-Match fehlen, wenn Studenten nicht mal Zeitung lesen und die Zensur überall herumschnüffelt – das kulturelle Leben von Beirut bleibt aufregend. Die Menschen voller Vitalität und Energie, die sich mit Mut und Hoffnung an die großen Aufgaben machen, die auch vergessen können, ohne die Vergangenheit zu verschleiern, wirken ansteckend. Wenige Jahre nach dem Ende des Krieges versprüht die Stadt schon wieder eine unbändige Energie.

Der Dichter Nazih Khater, Kulturkritiker bei der Tageszeitung An Nahar, formuliert die Liebeserklärung an seine Stadt so: „Um Beirut zu begreifen, muß man wissen, daß diejenigen, die aus der Stadt geflohen sind, in keiner anderen arabischen Metropole heimisch geworden sind. Die Künstler und Intellektuellen, die ins Exil gehen mußten, sind nicht in ihre Heimatländer zurückgekehrt, sondern nach London oder Paris gegangen. Und sie sind wiedergekommen, als die Rückkehrbewegung einsetzte. Beirut bleibt der Ort, an dem die unterschiedlichsten Erfahrungen und Absichten zusammentreffen, wo sich die verschiedenen Formen des Denkens und der Kunst in der arabischen Welt verbinden können. Beirut ist weiterhin der Prüfstein für die arabische Moderne, hier ist die arabische Welt auf der Suche nach ihrer Identität im 21. Jahrhundert.“

dt. Edgar Peinelt

1 Siehe Luc Barbulseco, „Roman et guerre civile à Beyrouth“, Le Monde diplomatique, Juni 1992.

* Journalistin und Autorin

Le Monde diplomatique vom 10.11.1995, von Nadia Khouri-Dagher