13.09.1996

Abgesang auf die Wehrpflicht

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Abgesang auf die Wehrpflicht

Von JEAN PLANCHAIS *

SOOFT es in den zurückliegenden Jahren um die Verteidigung der allgemeinen Wehrpflicht in Frankreich ging, wurde von seiten des Generalstabs das finanzielle Argument ins Spiel gebracht.1 Das ist durchaus ernst zu nehmen, ebenso wie die Argumentation, die Wehrpflicht sei unverzichtbar für den nationalen Zusammenhalt und gewährleiste die Integration verschiedener sozialer Gruppen, da sie alle gleich behandle, was jedoch kaum noch zutrifft. Schließlich sei sie das Symbol für die Mitwirkung der (männlichen) Bürger am Überleben der Gemeinschaft.

Es bleibt allerdings festzuhalten, daß mit dem Verschwinden des eigentlichen Zwecks der Wehrpflicht, nämlich ihrer militärischen Notwendigkeit, alle anderen Vorteile, seien sie real oder angenommen, nichts weiter als Nebenprodukte sind.

Die Aufstellung einer Berufsarmee stößt in unterschiedlichsten Kreisen auf Ablehnung. Auf seiten der Linken fühlen sich die Befürworter einer „republikanischen Armee“ noch immer dem Vorwurf des mangelnden Patriotismus ausgesetzt, der ihnen in der Vichy-Zeit gemacht wurde. Sie verweisen auf das Verfassungsdekret vom 23. August 1793: „Von diesem Augenblick an bis zum Zeitpunkt, wo der letzte Feind vom Territorium der Republik vertrieben sein wird, unterstehen alle Franzosen permanent der Dienstpflicht für das Militär. Die jungen Männer werden in den Kampf ziehen, die verheirateten Männer die Waffen schmieden und sich um die Versorgung kümmern, die Frauen Zelte herstellen und in den Krankenhäusern dienen, die Kinder aus alter Wäsche kleine Fetzen reißen. Die alten Menschen werden sich auf die Plätze tragen lassen, um die Krieger zu ermutigen und den Haß auf die Könige sowie die Einheit der Republik zu predigen.“ Sie vergessen dabei jedoch, daß das „Volk in Waffen“ nur unverheiratete und verwitwete kinderlose Männer zwischen 18 und 25 Jahren umfaßte und daß es Freiwillige waren, die 1792 in Valmy kämpften.

Patriotismus allein genügt nicht

ES heißt, die Einberufenen stellten ein Bollwerk gegen diktatorische Anwandlungen des Militärs dar. Der Widerstand eines beträchtlichen Teils der Truppen gegen den Putsch im April 1961 in Algerien trug sicherlich wesentlich dazu bei, die Militärmaschinerie lahmzulegen. Für die jungen Soldaten aus der Hauptstadt spielte die Aussicht, auf unbestimmte Zeit von ihrem Land abgeschnitten zu sein, eine große Rolle. Die Einheiten, die sich den Aufständischen anschlossen, bestanden im übrigen nicht nur aus Berufssoldaten.

Für die Sicherheit der Republik ist nicht entscheidend, ob die Truppen aus Berufssoldaten oder Wehrpflichtigen bestehen, sondern ob ihre Offiziere zu loyalen Dienern der Demokratie ausgebildet werden.2

In der Armee selbst und in ihr nahestehenden Kreisen betrachtet man den nationalen Wehrdienst als einen Schmelztiegel, in dem sich das herausbildet, was in den fünfziger Jahren als „Wehrbereitschaft“ bezeichnet wurde. Um die Bürger so weit zu bringen, sich für ihr Land zu opfern, reiche ein einfacher Patriotismus nicht aus, vielmehr müsse er um dieses besondere Gefühl ergänzt werden. Meist wird die Wehrbereitschaft beschworen, wenn es darum geht, die Armee und ihr Militärbudget abzusichern oder Offiziersanwärter zu rekrutieren. Doch ist es immer schwerer, dem Begriff einen Inhalt zu geben.

In der Vergangenheit deckte er sich zum Teil mit dem Antikommunismus, in dessen Namen der Indochinakrieg „gerechtfertigt“ wurde (was im Falle des Algerienkriegs scheiterte) und der es ermöglichte, in Frankreich ohne parlamentarische Zustimmung die atomare Aufrüstung durchzusetzen. Mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 ging das zentrale Argument verloren: die Existenz eines klar identifizierbaren potentiellen „Gegners“. So bleibt die – berechtigte – Furcht vor einer instabilen Welt, in der sich von lokalen Kriegen bis zu terroristischen Angriffen alles ereignen könnte. Doch ohne äußeren Feind und in einem Europa fast ohne Grenzen würden die der allgemeinen Wehrpflicht ledigen Franzosen ihren „Verteidigungswillen“ einbüßen und wären nicht mehr bereit zu kämpfen.

Viele Berufsoffiziere gehen im übrigen davon aus, daß die Berufssoldaten dank der schützenden Präsenz der Wehrpflichtigen nicht für abenteuerliche Entscheidungen von Politikern geradestehen müssen. Beim Kolonialkonflikt in Indochina war das Expeditionskorps aus Berufsoffizieren davon überzeugt, vom Beginn der Kampagne bis zur vernichtenden Niederlage bei Dien Bien Phu am 12. Juni 1954 von den Politikern im Stich gelassen worden zu sein. 1100 junge Offiziere, die eben erst die Militärakademie in Saint-Cyr absolviert hatten, kamen damals ums Leben. Die Militärs konnten sich nur schwer damit abfinden, allein die Verantwortung für die Niederlage zu tragen. Doch das Argument, daß die Einberufenen für die Armee eine Art Schutz bedeuten könnten, erwies sich bereits in den folgenden Monaten als unhaltbar. In Algerien hinderte die Anwesenheit von Wehrpflichtigen und Wiedereinberufenen die letzten Regierungen der Vierten Republik und insbesondere Guy Mollet nicht daran, die politische und moralische Verantwortung für die Befriedung den Offizieren aufzubürden. Ein weiteres Argument für die Wehrpflicht ist, daß den Einberufenen eine Vermittlerrolle zukomme und sie die Meinung der Franzosen im Sinne der für die Armee Verantwortlichen positiv beeinflussen könnten. In der Vorkriegszeit schrieb der damalige Oberst Charles de Gaulle an Patrick de Ruffray: „Der gegenwärtige Aufruhr und der rasende Nivellierungsprozeß, der unsere ,bewaffnete Nation' erfaßt hat, machen die geistige und moralische Autorität, die unserem Beruf innewohnt, nur um so erforderlicher.“3 Diese Autorität sprach er allerdings den Berufssoldaten zu.

1958 erhob Paul Ely, der damalige Oberkommandierende des Generalstabs, die Armee zum „Vormund der Nation“. „Nach der gesellschaftlichen Funktion des Offiziers ist nun die Stunde seiner ideologischen Funktion gekommen“, schrieb ein paar Jahre zuvor General Lionel Chassin im offiziellen Armeeblatt Revue militaire d'information.4 In seinem Beitrag forderte er eine staatsbürgerliche Ausbildung, die ein „kritisches Studium des Marxismus-Leninismus und der kommunistischen Ausbeutung“ umfassen sollte sowie eine patriotische Erziehung, die „wesentlich auf der Geschichte Frankreichs aufbaut“. Maurice Bourgès-Maunoury, Verteidigungsminister der Radikalen Partei, schrieb 1957 in seiner „Provisorischen Anweisung über den Gebrauch der psychologischen Waffe“, daß diese sogenannte „siebte Waffe“ dazu diene, „einerseits den Zusammenhalt der gesamten Nation zu gewährleisten und andererseits die moralische Kraft des Gegners zu zersetzen und zu diesem Zweck direkt auf die Nation einzuwirken“.

Derlei Ansichten gehören nicht länger zum Glaubensbekenntnis des Generalstabs, oder zumindest doch nicht offen. Doch sobald die zivile Macht Schwäche zeigt oder sich die Gesellschaft beschleunigt in eine Richtung bewegt, die zu Unruhen führen könnte, taucht die alte Versuchung wieder auf. Die Vorstellung, was eine rechtsextremistische Regierung aus dem „Treffen der Bürger“ machen könnte – diese Art Kursus in Sachen Staatsbürgerkunde, der nun an die Stelle der Wehrpflicht treten soll – läßt einen erschauern.

Die verdrängte Erinnerung an die Résistance

IN Frankreich erhielten Angehörige der Berufsarmee erst 1944 das Wahlrecht. Manche sahen in dieser Maßnahme den Verlust einer gewissen Jungfräulichkeit, die die Armee als Gralshüterin des Patriotismus über alle politischen Verstrickungen erhaben sein ließ. Wie Paul-Marie de la Gorce feststellt, geht die Aufnahme vieler junger Männer aus der Landaristokratie oder der konservativen Bourgeoisie in das Offizierskorps auf die Anfänge der Dritten Republik zurück.5 Der Frontsoldat mit aufgepflanztem Bajonett, der die vielen Kriegerdenkmäler des Ersten Weltkriegs in ganz Frankreich ziert und über Zehntausende Gemeinden wacht, ist ein Infanterist, also ein Vertreter des ländlichen Frankreich. Er gehört zu den Bodentruppen, und gerade deren Schicksal steht auf dem Spiel.

Diese Armee hat das Erbe der Feudalarmeen mit ihren Adligen und ihrem „Fußvolk“ angetreten, das der revolutionären und der napoleonischen Armeen, und schließlich das Vermächtnis der erschöpften und dezimierten Sieger des Ersten Weltkriegs. Gleichzeitig hat sie in ihren Reihen die Erinnerung an die Résistance verdrängt – an diese Volksarmee, die auf französischem Boden teilweise an ihre Stelle getreten war. Nach einer Zeit der Verherrlichung des Verhältnisses von Armee und Nation und nach dem Versuch von General Jean de Lattre de Tassigny, innerhalb der Ersten Armee altgediente Soldaten und Abenteurer zusammenzuschweißen, hat die traditionsreiche Institution, in der die Vichy-Nostalgie noch einige Zeit nachwirkte, schließlich auch die unrühmliche Episode des Zweiten Weltkriegs „verdaut“.

Bei so manchem Offizier oder Reservisten und bei dem einen oder anderen kleinen Würdenträger mag die Armee die Erinnerung an eine untergegangene Hierarchie wachrufen, das Bild eines von der gesellschaftlichen „Elite“ geführten Landes und einer Institution, in der sich jeder Befehlshaber darauf verlassen kann, daß ihm ebenso gehorcht wird, wie er selbst sich unterordnet – kurz: das Gegenstück zur ermüdenden Demokratie. Es ist schon paradox, wenn gerade ein Präsident der Rechten, unter denen es nicht an Kommandierenden mangelt, den Seinen diese formelle Autorität über die Gesamheit der jungen Franzosen entzieht.

dt. Birgit Althaler

Journalist

1 Vgl. den Artikel von Jean-Louis Dufour, „Die teure Treue der Berufssoldaten“, Le Monde diplomatique, Juli 1996.

2 Vgl. Antoine Sanguinetti, „L'armée, un monde à part“, Le Monde diplomatique, Januar 1990.

3 Jean Lacouture, „Le Rebelle“, Paris (Seuil) 1990.

4 Revue militaire d'information, Oktober 1954.

5 Paul-Marie de la Gorce, „La République et son armée“, Paris (Fayard) 1963.

Le Monde diplomatique vom 13.09.1996, von Jean Planchais