15.11.1996

Islands eigene Wege

zurück

Islands eigene Wege

FÜR Island ist es kein Widerspruch, wild entschlossen seine Identität zu wahren und sich gleichzeitig selbstbewußt nach außen hin zu öffnen. Diese Vulkaninsel zwischen Amerika und dem eurasischen Kontinent, auf der nur wenig mehr als eine viertel Million Einwohner leben, ist für die Medien nur berichtenswert, wenn sich dort spektakuläre Naturereignisse abspielen. Und doch ist sie ein herausragendes Beispiel für nationales Gemeinschaftsgefühl und eine selbstbewußte Teilnahme an der internationalen Gemeinschaft. Island hat, wie auch Norwegen, mit seiner EWR-Mitgliedschaft für die Europäische Union optiert, ohne ihr deswegen beizutreten. Und ist mit dieser Wahl gut gefahren.

Von unserem Korrespondenten PHILIPPE BOVET *

Reykjaviks große Tageszeitung Morgunbladid, die fast von der gesamten Bevölkerung gelesen wird (die Auflage von 52000 Ausgaben wird zu mehr als 90 Prozent verkauft), veröffentlicht auf der Titelseite stets internationale Meldungen. „Seit dem Zweiten Weltkrieg ist das Tradition“, erläutert Chefredakteur Styrmir Gunnarson. „Wir sind internationaler als manche große englische Tageszeitung. Es ist unsere Pflicht, Island das Tor zur Welt zu öffnen; es wäre ein Fehler, wenn wir uns nur mit uns selbst beschäftigen würden. Nationale Meldungen veröffentlichen wir nur dann auf der ersten Seite, wenn es sich um einen Vulkanausbruch handelt.“ Was bekanntlich recht häufig vorkommt: Der letzte Ausbruch geschah vor wenigen Wochen unter dem Gletscher Vatnajöküll im Süden der Insel.

Als Dänemark im April 1940 von deutschen Truppen besetzt wurde, sah sich Island ohne Schutzmacht und ohne eigene Armee seinem Schicksal überlassen. Da Churchill diesbezügliche Begehrlichkeiten des Deutschen Reiches befürchtete, landeten am 10. Mai 1940 überraschend britische Truppen auf Island. Ein Jahr später wurden sie nach Afrika verlegt; ihren Platz nahmen 50000 US-amerikanische Soldaten ein. Island zählte damals nur 126000 Einwohner, plötzlich war also jeder dritte Inselbewohner Ausländer. „Von heute auf morgen“, erklärt Sverrir Haukur Gunnlaugsson, isländischer Botschafter in Paris, „sah sich diese technologisch zurückgebliebene Gesellschaft mit der modernen Welt konfrontiert.“ Diese Meinung teilt auch die Pastorin und frühere Beamtin im Europarat Yrsa Pordardottir: „Damals sind wir erst aus unseren Erdlöchern gekrochen“, eine Anspielung auf die traditionell in die Erde eingelassenen Häuser mit ihren grasbewachsenen Dächern.

Die massive amerikanische Präsenz veränderte den Charakter des Landes; die Bevölkerung zog es nach Reykjavik, und die Wirtschaft stellte sich auf die Erfordernisse des Krieges ein. „Erst die Ausländer haben aus Island das gemacht, was es heute ist“, gibt Torben Rasmussen zu, der Direktor des 1968 in Reykjavik eröffneten Nordisches Hauses. Die Wurzeln dieses Kulturzentrums reichen in die fünfziger Jahre zurück, als zahlreiche Skandinavier dem kulturellen Einfluß der USA etwas entgegensetzen wollten. „Island hat zwei Mal Unheil erfahren: mit der protestantischen Reformation und mit dem Einzug des amerikanischen Fernsehens“, versichert Gudrun Finnbogadottir, eine isländische Korrespondentin in Paris. „Wir hatten kein landesweites Fernsehen1, und der amerikanische Militärsender vermittelte uns ein sehr primitives Bild von unserem Land und beklagte das Schicksal der armen boys, die es in diese schreckliche Gegend verschlagen hatte.“

Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit Washington im Jahre 1994 sind von den gigantischen Einrichtungen aus dem Zweiten Weltkrieg nur der Stützpunkt in Keflavik und 2800 amerikanische Soldaten zur Verteidigung der Insel sowie für Missionen im Rahmen der Nato übriggeblieben. „Island hat keine eigenen Streitkräfte“2, erläutert der Botschafter in Paris, „sondern lediglich eine Flotte von 200 Küstenwachbooten zur Kontrolle unserer Hoheitsgewässer. Die Stationierung der amerikanischen Truppen stößt inzwischen auf einhellige Zustimmung.“ Mit Ausnahme einiger linker Gruppierungen allerdings, von denen die Sozialistische Volksallianz die bedeutendste ist. Gudrun Helgadottir, von 1988 bis 1991 Präsidentin des Althing, Islands Parlament3, und gegenwärtig eine der neun Abgeordneten dieser Partei, erläutert: „Innerhalb meiner Partei herrschte eine sehr starke antiamerikanische Stimmung. Das ist nun vorbei, wir fordern jedoch weiterhin die Schließung des Stützpunktes in Keflavik und den Austritt Islands aus der Nato.“

Die Wirtschaft hängt hauptsächlich vom Fischfang ab: Er bindet 10,6 Prozent der Arbeitsplätze4 und 75,5 Prozent der Exporte5. Anders als etwa Kanada hat Island sehr früh die Bedeutung eines verantwortungsvollen Umgangs mit den Fischbeständen erkannt. So setzte es 1972 seine Alleinnutzungsrechte auf eine Zone von 50 Meilen fest und erweiterte das Gebiet 1975 auf 200 Seemeilen. Der starke Rückgang der Heringfänge löste einen regelrechten Schock aus. Um so heftiger leistete Island Widerstand in mehreren Kabeljaukriegen, die von britischen und westdeutschen Fangschiffen ausgelöst wurden, die die Seegrenzen nicht anerkennen wollten. Bis 1967 hatte der Hering mit 700000 Tonnen pro Jahr den größten Anteil am Fischfang; heute werden in der gesamten 200-Seemeilen-Zone nur noch 120000 Tonnen gefangen, nachdem die Heringfischerei zwischen 1972 und 1975 völlig untersagt war.

Seit damals hat sich das isländische Fischereiwesen wieder erholt. Die fischverarbeitende Industrie paßt ihre Produkte heute den Markterfordernissen besser an; die Verpackung von Exporterzeugnissen trägt Angaben in der Sprache des Abnehmerlandes. Icelandair liefert mit seinen sieben großen Transportflugzeugen Frischfisch in alle großen Hauptstädte. Drei Unternehmen (Icelandic Freezing Plant, Iceland Seafood International und Iceland Fish Producers) agieren weltweit.

Mit seinem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum im Januar 19946 kam Island in den Genuß erheblicher Zollsenkungen für seine Fischexporte, insbesondere für Tiefkühlprodukte.

Desweiteren bringt der Export von Fischfangtechnologie, wie der Journalist Hjörtur Gislason vom Morgunbladid mitteilt, jährlich 20 Millionen Dollar ein, trotz der Überkapazität aller Fangflotten, denen die schrumpfenden Fischbestände zu schaffen machen: „Wir haben erst kürzlich Netze entwickelt, die man bei jedem Seegang einsetzen kann; sie behalten auch bei Schlagseite des Schiffes und hohem Seegang ihre Position bei.“ Auf der Kommandobrücke eines isländischen Trawlers sind ganze Batterien von Computern installiert. Durch die Datenverarbeitung verfügen die Fischer über alle notwendigen Instrumente, um die vorgeschriebenen Zonen und Fangquoten einzuhalten und alle Meere der Welt zu befahren. Unternehmen aus Reykjavik unterhalten Niederlassungen in Chile und Namibia. Ihre Fänge verkaufen sie vorwiegend nach Europa. Über 10 Prozent des isländischen Fischexports kommen alleine auf den französischen Markt. „Die Fischfangpolitik der EU“, meint der isländische Botschafter in Frankreich, „macht uns einen Beitritt unmöglich. Es wäre für uns reiner Selbstmord, Spanien, Portugal und Frankreich zu gestatten, ihre Netze in unseren Gewässern auszuwerfen. Es sei denn, man gewährte uns einen Sonderstatus.“

Nur 21 Prozent der Fläche Islands sind bewohnbar. Das zwingt die Bevölkerung, ihre Ressourcen so gut wie möglich zu nutzen. Als Energiequelle dient neben der Wasserkraft die Erdwärme, die im Bäderwesen, bei der Fischzucht, als Fernwärme (für 85 Prozent aller Wohnungen) und in Gewächshäusern – insbesondere der Blumenzucht – eingesetzt wird; ursprünglich militärisch genutzt, wurde sie später vom heimischen Markt entdeckt. „Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation wie Kolumbien oder Israel können billiger produzieren als wir, die Transportkosten eingeschlossen“, bemerkt ein Produzent in dem 100 Kilometer östlich der Hauptstadt gelegenen Reykholt ohne allzugroße Bitterkeit. „In ein paar Monaten werde ich entweder Kaffee oder biologische Kulturen anbauen.“

Reykholt zählt normalerweise etwa hundert Einwohner, aber von Anfang Juni bis Ende August verdreifacht sich diese Zahl. Da der Beginn der Touristensaison mit dem Schulschluß zusammenfällt, ist der Aufbau einer eigenen Infrastruktur nicht notwendig. Wie bei den fast achtzig anderen Schulen des Landes auch, wird das Schulgebäude zum Hotel und die Kantine zum Restaurant umfunktioniert. Nicht benötigte Tische und Stühle werden in einem Klassenzimmer abgestellt; in die übrigen Räume, auch den des Direktors, werden Betten gestellt. Etwa 3000 Übernachtungen zum Preis von 30 Mark pro Person und Nacht lassen jeden Sommer Extraeinkünfte in Höhe von rund 90000 Mark in die Gemeindekasse fließen und tragen zum Erhalt des Schulgebäudes und der Bibliothek bei.

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung reist jedes Jahr ins Ausland, aus touristischen oder aus beruflichen Gründen. Läßt dies auf ein hohes Lebensniveau oder auf ein reges Interesse an der Außenwelt schließen? Möglicherweise trifft beides zu, nicht zuletzt dank eines bemerkenswerten Bildungssystems.7 Gudrun Elgadottir, die selbst Kinderbücher verfaßt, erinnert sich: „Wenn früher ein junger Mensch nicht lesen oder schreiben konnte, wurde dies als schwere Krankheit angesehen. Wenn ein Bauer seine Kinder zu hart arbeiten ließ, ohne sich um ihre Bildung zu kümmern, zeigten die Leute mit dem Finger auf ihn.“ Die Insel hält den Weltrekord bei der Zahl der verkauften Bücher pro Einwohner. Das Schulwesen ist von der Volksschule bis zur Universität gratis, und im Alter zwischen 13 und 15 Jahren haben die Jugendlichen die Möglichkeit, während der Ferien bei der Gemeinde zu arbeiten und so erste Erfahrungen mit dem Berufsleben zu machen. Jeder kann für sein Studium ein Stipendium bekommen, auch fürs Ausland. Dorthin gehen pro Jahr etwa dreitausend Studenten, ohne daß es zu einem „Braindrain“ käme: Fast alle kehren wieder in die Heimat zurück.8

Isländisch wird von nur 260000 Menschen gesprochen; um so mehr wird die Sprache gepflegt. Einwanderer aus Westnorwegen hatten sie im neunten Jahrhundert mitgebracht. Das Isländische hat sich – im Gegensatz zum Norwegischen – nur sehr wenig weiterentwickelt; die Isländer sind noch heute imstande, die Sagas des Mittelalters zu lesen, die übrigens in der Schule ausgiebig behandelt werden. Alle ausländischen Filme werden untertitelt.

Obwohl Englisch seit 1946 Pflichtfach ist, befaßt sich eine von sogenannten „Weisen“ geführte Terminologie-Kommission damit, zur Vermeidung von Anglizismen Begriffe aus dem eigenen Wortschatz zu entwickeln. Das alte Wort „simi“ (Verbindung), das die Kommission ausgrub, ist inzwischen der allgemein gebrauchte Begriff für „Telefon“. Sie verknüpfte „völva“ (gute Zauberin) und das Präfix „t“ (das mit Rechnen assoziiert wird) und schuf daraus den Begriff „tölva“ (Computer).

Die Sparmaßnahmen für das Staatsbudget ändern nichts am landesweiten Einvernehmen über die Notwendigkeit der Ausgaben für das Bildungswesen und für die Infrastruktur des spärlich bevölkerten Hinterlandes (58,4 Prozent der Bevölkerung leben in Reykjavik und dessen Einzugsgebiet): den Betrieb von Post und Telefon und die Instandhaltung der Küstenstraßen, die dem rauhen Klima ausgesetzt sind. Die Landwirte, die noch immer mehr als 5 Prozent der berufstätigen Bevölkerung ausmachen, stehen Veränderungen aufgeschlossen gegenüber. In den letzten zehn Jahren ist der Schafbestand von 1 Million auf unter 500000 gesunken und wird sich voraussichtlich bei 300000 Tieren einpendeln; manche Bauern satteln auf Forstwirtschaft und sanften Tourismus um. Gudrun Elgadottir bringt eine weitverbreitete Überzeugung zum Ausdruck: „Eine Nation ist mehr als die Summe lukrativer Geschäfte.“

Auf der Weltkarte liegt Island am Rande des Polarkreises zwischen zwei Kontinenten, am 65. nördlichen Breitengrad und am 18. westlichen Längengrad; geologisch stellt die Insel ein Stück des mittelatlantischen Rückens dar, der die nordamerikanische Kontinentalplatte von der eurasischen trennt. Diese Lage zwischen zwei Welten spiegelt sich auch im Alltag an vielen Punkten symbolisch wider. Unter den Fahrzeugen sind ebenso viele Geländewagen aus amerikanischer Produktion wie Ladas aus der ehemaligen Sowjetunion zu finden. 1972 wurde in Reykjavik die Schachweltmeisterschaft zwischen dem Russen Boris Spassky und dem Amerikaner Bobby Fischer ausgetragen. Am 31. Mai 1973 fand hier ein Treffen zwischen Georges Pompidou und Richard Nixon statt und dreizehn Jahre später zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow. Und als erste europäische Fluggesellschaft hat Icelandair die amerikanische Initiative von internationalen Nichtraucher-Flügen aufgegriffen.

dt. Andrea Marenzeller

1 1967 gründete die isländische Regierung ein nationales Fernsehprogramm und schränkte dafür den Sendebereich des US-Militärprogrammes ein. Das erste isländische Programm stellte immer donnerstags und im Monat Juli die Sendungen ein. Heute gibt es zwei isländische Programme.

2 Island stand jahrhundertelang unter dänischer Herrschaft; erst 1918 erlangte es die Anerkennung als eigener Staat, blieb allerdings weiterhin dem dänischen Monarchen unterstellt. Seit 1918 ist Island neutral, es gibt keinen Wehrdienst. 1944 erlangte es die vollständige Unabhängigkeit von Dänemark, 1946 trat es der UNO bei, 1947 der OECD, 1949 der Nato und 1950 dem Europarat. Vgl. Jacques Mer, „L'Islande. Une ouverture obligée mais prudente“, Paris (La Documentation française) 1994.

3 Unter den 63 Parlamentsabgeordneten sind 17 Frauen, also etwas mehr als ein Viertel.

4 Diese Angabe stammt aus dem Jahr 1992. Neun Jahre zuvor betrug die Zahl 14 Prozent. Quelle: Iceland Business, Februar 1995.

5 Der durchschnittliche Gesamtertrag im Fischfang beträgt 1,5 Millionen Tonnen pro Jahr. In Norwegen (4,3 Millionen Einwohner) beträgt er etwas über 2 Millionen Tonnen.

6 Dem EWR gehören die Länder der Europäischen Union, die Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island an.

7 Etwa 15 Prozent des Staatsbudgets werden für Bildung aufgewendet, davon entfallen wiederum 17 Prozent auf Stipendien. (Quelle: „Science, Technology and Innovation Policies. Iceland“, OECD, Paris 1993).

8 Der Inselcharakter verstärkt die Heimatbindung. Alle Zeitungen widmen dem Andenken verstorbener Personen im Chronikteil große Rubriken. Genealogische Nachschlagewerke über isländische Familien werden verlegt, und man versucht, die 40000 bis 50000 Amerikaner isländischer Herkunft zu erfassen. Ob es sich nun um Fischer handelt, die in den siebziger Jahren aus wirtschaftlichen Gründen nach Schweden oder Australien ausgewandert sind, oder um Isländerinnen, die Amerikaner geheiratet haben – bei allen Isländern ist eine deutliche Tendenz festzustellen, irgendwann wieder in ihre Heimat zurückzukehren.

Dieses Phänomen ist hier wesentlich ausgeprägter als in den anderen Ländern Skandinaviens. Bei internationalen Flügen begrüßt die Stewardeß der Icelandair die Gäste nach der Landung nicht mit „Willkommen in Island“, sondern sinngemäß mit „Willkommen zu Hause“.

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von Philippe Bovet