13.08.1999

Verdrehen und verschweigen

zurück

Verdrehen und verschweigen

Von ROBERT FISK *

KURZ nachdem die Nato-Truppen im Juni in Pristina eingerückt waren, fuhr Cathy Sheridan, die Korrespondentin der Irish Times, im Auto nach Vucitrn. In der düsteren Kleinstadt, die sich noch in der Hand der serbischen Sicherheitskräfte befand, sah sie auf der Straße eine Leiche liegen. Außerdem sah sie viele Männer der Sonderpolizei des serbischen Innenministeriums, der Mup, wie sie nach ihrem Kürzel genannt wird.

Sheridan fuhr gleich wieder nach Pristina zurück. Dort erzählte sie einem Rundfunkreporter der BBC, sie habe in Vucitrn einen Toten gesehen, und die Stadt sei „voller Mup-Leute“. Minuten später setzte der BBC-Mann über seinen Sender einen Bericht ab, in dem es hieß, eine irische Reporterin sei in Vucitrn gewesen und habe dort gesehen, dass die Straßen „voller Leichen“ waren.

Eine Stunde war ich zufällig dabei, als Keith Graves von Sky TV vor dem Grand Hotel in Pristina von einem britischen Armeeoffizier wissen wollte, ob es vielleicht eine Chance gebe, ein TV-Kamerateam nach Vucitrn zu bringen, um all die Leichen zu filmen. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und Graves – ein patenter und nüchtern denkender Reporter – zog es vor, seine Abfahrt auf den nächsten Tag zu verschieben. Dann hörte er die Wahrheit: dass die BBC die Worte von Cathy Sheridan schlicht durcheinander gebracht hatte. Zwar hatte die BBC der irischen Kollegin unverzüglich einen Sendetermin angeboten, damit sie klarstellen könnte, was sie tatsächlich gesehen hatte. Aber dann wurde die Sendung – zu ihrem Erstaunen und ihrem Ärger – kurzerhand abgesagt. Später hörte man Graves zu einem Kollegen sagen: „Das eigentliche Problem ist, dass die Öffentlichkeit immer nur Gräuelgeschichten will.“

Genau die bekam sie dann auch mehrere Tage lang vorgesetzt. Es war nicht schwer, Massengräber zu finden. Noch bevor die Nato-Truppen die Dörfer nördlich von Pec erreicht hatten, wurde ich an der Hauptstraße nach Pristina – die gesäumt war von zerstörten Lastwagen, toten Tieren und brennenden Häusern – von Albanern angesprochen, die mir die Leichen von Angehörigen zeigen wollten. Ihr Dorf hieß Cosca, und als wir den zerstörten Ort erreichten, zuckten Blitze aus einem schwarzen Himmel. Sie sagten, hier seien mehr als dreißig Menschen von der serbischen Sonderpolizei hingerichtet worden. Sie zeigten mir Überreste von verkohlten Skeletten, Wirbelsäulen, Finger, auch einen mit Trauring. Wir fanden sogar die Witwe des Mannes mit dem Trauring. Die Serben hatten ihn und andere albanische Männer von ihren Frauen getrennt und erschossen und die Leichen in drei leeren Häusern verbrannt.

DAS KOSOVO UND DIE RECHTFERTIGUNG DER NEUEN WELTORDNUNG

Mir war sofort klar, wie die Medien die Geschichte aufmachen würden. Dass die Serben bei ihrer ruchlosen Verfolgung der Kosovo-Albaner schlimme Verbrechen verübt hatten, war ja die nackte Wahrheit. Und die Nato hatte ja die ganze Zeit gesagt, die Serben würden diese armen Menschen umbringen – und dies hier waren die Beweise, für alle sichtbar. Ich konnte also präzise voraussagen, was der nächste logische Schritt sein würde: Damit war offensichtlich die Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato gerechtfertigt, ja, der ganze grausame Krieg, den die Nato im März begonnen hatte. Die Nato hatte also einen „Krieg der Werte“ geführt (um mit Tony Blair zu sprechen) und war jetzt dabei, das Kosovo zu „befreien“. Und verflucht sei jeder, der noch zu äußern wagte, dieser ganze Konflikt sei vermeidbar gewesen.

Lebensrettende Verspätung

DIE meisten unserer Journalistenkollegen beschränkten sich bei den täglichen Nato-Pressekonferenzen von Anfang an auf die Rolle von tumben Zuhörern: Weder hinterfragten sie die Behauptung von Pressesprecher James Shea, die Nato habe die jugoslawische Dritte Armee vernichtet, noch verlangten sie von ihm eine Stellungnahme zu der Tatsache, dass die UCK als ihren neuen Oberkommandierenden einen Offizier der kroatischen Armee präsentierte, der sich in der Krajina als „ethnischer Säuberer“ betätigt hatte. Sie fragten auch nicht nach, warum am Ende des Krieges die Bedingungen der Nato für die Einstellung der Bombardierungen viel weniger streng ausfielen als die Friedensbedingungen, die sie Serbien in den Rambouillet-Verhandlungen hatte aufzwingen wollen. Und auch als sich herausstellte, dass die Behauptungen der Nato, sie habe das serbische Militär besiegt, ein Haufen Lügen waren (die Nato hatte im ganzen Kosovo nur dreizehn Panzer zerstört, und die jugoslawische Dritte Armee konnte mit ihrer gesamten intakten Ausrüstung abziehen), blieben die Journalisten im Nato-Hauptquartier lammfromm.

War das wirklich unvermeidlich? Mussten sich die Zeitungs- und Fernsehjournalisten wirklich als Sprachrohr der Nato-Generäle und der Außenministerien betätigen? Gegen Ende der Bombenangriffe (die meisten Reporter übernahmen übrigens die Nato-Bezeichnung air campaign, also „Luftschlacht“, als wären ständig serbische MIG-Jäger am jugoslawischen Himmel gewesen, um die Nato-Flugzeuge anzugreifen) konnte Shea noch verlautbaren, man habe das Krankenhaus von Sudurlica vorsätzlich bombardiert, denn das Krankenhaus sei in Wirklichkeit eine Kaserne gewesen. Seine Aussage war eindeutig falsch. Wir haben das Sanatorium besucht, haben die erbärmlichen Überreste der Toten gesehen, unter denen auch ein neunzehnjähriges Mädchen war. Aber kein einziger Journalist hat die Nato auf diese Lüge angesprochen.

Auch die ethische Rechtfertigung der Nato-Bomben auf den Sitz des serbischen Fernsehens in Belgrad wurde nur von ganz wenigen Kollegen in Frage gestellt. Etwa zwei Tage vor dem Angriff waren die CNN-Leute von ihrer Zentrale in Atlanta gewarnt worden, dass das Gebäude in Belgrad zerstört werde. Sie waren angewiesen worden, ihre Ausrüstung in Sicherheit zu bringen – was sie auch unverzüglich taten. Dann wurde der serbische Informationsminister Aleksander Vucic – ein Busenfreund von Milosevic und damit ein erklärtes Ziel für die Nato-Bomben – für die frühen Morgenstunden in die Livesendung des berühmten Moderators Larry King eingeladen. Wobei man ihm sagte, für das Make-up solle er eine Stunde früher da sein. Nach eigenen Aussagen hat sich der Minister dann verspätet. CNN behauptet, die Einladung zwölf Stunden vorher rückgängig gemacht zu haben. Wäre er pünktlich gewesen, wäre er genau rechtzeitig gekommen, als die Nato-Raketen in das Gebäude einschlugen. Eine junge Frau in der Maske wurde von ihnen getötet. CNN sagt, es habe sich um einen Zufall gehandelt. Wollen wir es hoffen.

Es war allerdings bestimmt kein Zufall, dass die Medien es versäumten, die ursprünglichen „Friedens“-Bedingungen der Nato unter die Lupe zu nehmen, die man den Serben Mitte März in Paris vorgelegt hatte. Laut diesem sogenannten Rambouillet-Abkommen sollten die Serben den Nato-Truppen in ganz Jugoslawien (einschließlich Belgrad) Bewegungsfreiheit gewähren und zulassen, dass die Bevölkerung des Kosovo (von der 90 Prozent Albaner sind) nach drei Jahren selbst über ihre Zukunft entscheiden würde.

Für die Serben bedeutete dieser „Frieden“ eine Art Kapitulation, die nicht nur die Souveränität Jugoslawiens zerstört, sondern auch die künftige Unabhängigkeit ihrer Provinz Kosovo herbeigeführt hätte. Also unterschrieben sie nicht. Und die Nato zog in den Krieg. Und die Serben begannen, mindestens die Hälfte der albanischen Bevölkerung „ethnisch hinauszusäubern“. Als sich dann die Bombenangriffe hinzogen – erst eine Woche, dann drei, dann sechs und sieben Wochen – begannen die Journalisten, die Nato-Sprache nachzuplappern: Die Nato kämpfe für das Ziel, „die Flüchtlinge in ihre Häuser zurückzubringen“. Nicht ein einziger Reporter wies darauf hin, dass die meisten dieser Flüchtlinge bei Kriegsbeginn noch in ihren Häusern gewesen waren. Und dass die Serben angekündigt hatten – und zwar explizit durch den Mund von General Nebojsa Pavkovic –, falls die Nato Jugoslawien angreife, würden sie es den Albanern „heimzahlen“. Auch der Nato-Oberkommandierende General Wesley Clark sagte später aus, die epische Tragödie der Flüchtlinge sei „völlig vorhersehbar“ gewesen. Aber nicht ein einziger Reporter stellte ihm die Frage, warum er uns diese Information zu Beginn des Krieges vorenthalten hatte.

Als die Nato, die Europäische Union, die Russen und die Serben dann schließlich den Waffenstillstand unterzeichneten, stellte es sich heraus, dass die Nato-Truppen nur im Kosovo stationiert sein würden – von Bewegungsfreiheit in ganz Serbien war nicht mehr die Rede. Und auch der „Mechanismus“, der den Albanern womöglich nach drei Jahren die Unabhängigkeit gebracht hätte, war auf unerklärliche Weise in der Versenkung verschwunden. Und auch dies wurde von den Presse- und den Fernsehleuten ignoriert.

„Die Patrioten haben immer Recht“

BEZEICHNEND war bei alledem, dass US-amerikanische und britische Journalisten weit weniger als ihre französischen Kollegen darauf aus waren, die Autoritäten in Frage zu stellen – was in einem demokratischen Staat, der sich im Krieg befindet, die Pflicht eines jeden Journalisten darstellt. Während etwa Jamie Shea in der satirischen Sendung „Les Guignols“ des französischen Fernsehsenders Canal plus erbarmungslos durch den Kakao gezogen wurde, indem die Puppe des Nato-Sprechers weitschweifige Ausflüchte über den Raketenangriff auf einen Bus wiedergab, um sich anschließend lang und breit für den Abschuss einer MIG-29 zu entschuldigen, wahrten die Briten und die US-Amerikaner bis zum Ende ihre staatsmännische Miene. Als ich in Brüssel bei einer der täglichen Nato-Pressekonferenzen eine Frage nach der Nato-Munition mit abgereichertem Uran stellte (die im Irak offenbar zu einem massiven Anstieg von Krebserkrankungen geführt hat), gab ein General zu, dass die Nato diese Munition tatsächlich eingesetzt hatte. Seine Antwort ging live über die Sender. Aber als CNN dann später einen Zusammenschnitt der Pressekonferenz brachte, waren meine Frage und die Antwort des Generals wie von Geisterhand herausgeschnitten.

Tony Blairs Pressechef Allistair Campbell hat Anfang Juli vor dem Royal United Services Institute in London der Presse in anklagendem Ton vorgehalten, sie habe sich von der „serbischen Lügenmaschine“ an der Nase herumführen lassen. Die folgsame Journalistenherde, die sich regelmäßig zu den Nato-Pressekonferenzen eingefunden hatte, ließ er natürlich unerwähnt. Stattdessen kam Campbell erneut auf das alte Argument zurück, das wir uns schon während des ganzen Krieges immer wieder hatten anhören müssen: Wenn die Nato unschuldige Menschen tötet, handelt es sich um ein Versehen; wenn die Serben unschuldige Menschen töten, handelt es sich um Vorsatz.

Diese infantile Argumentationsweise verweist auf zwei Probleme. Das erste betrifft die Angriffsziele der Nato in Jugoslawien. Die wurden am Ende so bar jeder Prinzipien getroffen – neben Kasernen und Ölraffinerien wurden immer wieder auch Krankenhäuser, Brücken, ein Eisenbahnzug, zwei Busse, eine Dorfbrücke an einem Markttag und zahlreiche Wohnsiedlungen bombardiert – dass man fast zwangsläufig zu dem Schluss kommen musste, diese Luftwaffe habe in ihrem verzweifelten Bemühen, den Krieg zu beenden, ganz bewusst zivile Ziele ins Visier genommen. Das zweite Problem liegt in der Lüge, die mutwilligen Gräueltaten der Serben hätten auch dann stattgefunden, wenn die Nato keinen Krieg geführt hätte. Bei den Journalisten wurde also das totale Engagement für den Krieg der Nato zu einer Art patriotischer Pflicht. Nun trifft es ja absolut zu, dass die Serben Verbrechen an den Kosovo-Albanern begangen haben: Vergewaltigungen, Exekutionen, Misshandlung unschuldiger Menschen. Doch die Bedingungen des Friedens, der die Kampfhandlungen beendet hat, legen den Schluss nahe, dass dieser Krieg keinesfalls unvermeidlich war. Diesen Krieg hätte man verhindern müssen. Aber selbst wenn die Opfer unter der serbischen Zivilbevölkerung „aus Versehen“ getötet wurden – ist ihr Tod deshalb weniger schmerzlich, leichter zu ertragen, eher hinnehmbar? Ob man von einer Clusterbombe oder von einer serbischen Granate enthauptet wird, macht keinen besonders großen Unterschied. Es stimmt natürlich, dass die Serben gemeine Verbrechen begangen haben – und es waren, nach allem was ich in dem Dorf Cosca gesehen habe, wirklich scheußliche Verbrechen –, während die Nato die serbischen Zivilisten nicht vorsätzlich umgebracht hat (wie wir zutiefst hoffen). Aber wenn dieser Krieg nicht zwingend nötig war, dann sind diese Toten, die die Nato zu verantworten hat, eine bedrückende Last. Und die Journalisten, die während des Krieges aus Jugoslawien berichtet haben, waren keineswegs Instrumente irgendeiner „Lügenmaschine“, vielmehr vermittelten sie uns ein schmerzliches, aber notwendiges Bild von dem, was wir – unsere Nato, unsere westliche Zivilistaion – den Serben angetan haben.

Die jüngste Attacke auf Journalisten kommt aus dem eigenen Lager. In der Irish Times hat mir eine Kollegin vorgeworfen, ich rede einer „Gleichheit der Opfer“ das Wort. Dieser Vorwurf, der so kindisch wie gefährlich ist, bezieht sich darauf, dass ich Anfang Juni vorausschauend geschrieben habe: „Zuerst wurden die Kosovo-Albaner von den Serben 'ethnisch hinausgesäubert‘. Und in ein paar Tagen – in höchstens zwei Wochen – werden die Serben von den albanischen Verbündeten der Nato 'ethnisch hinausgesäubert‘.“ Abgesehen davon, dass das Zitat aus dem Zusammenhang gerissen wurde, besteht meine Sünde im Grunde nur darin, Recht behalten zu haben.

Seit Ende des Krieges ist fast die gesamte serbische Bevölkerung aus dem Kosovo geflohen, und mit ihr mehr als die Hälfte der Roma. Die serbischen Zivilisten, die ich abziehen gesehen habe, in ihren Autos zusammengedrängt oder in Tränen aufgelöst auf ihren Bauernkarren hockend – sie waren genauso unschuldig wie die Albaner, die zwei Monate zuvor so brutal aus ihrem Land vertrieben worden waren. Aber allein die Tatsache, dass diese neuen Flüchtlinge Serben sind, ist Grund genug, ihre Opferrolle zu „degradieren“.

Ich musste an die Deutschen aus dem Sudetenland denken, und an die Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten am Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie waren uns damals gleichgültig. Wir sagten uns: Geschieht ihnen recht. Und heute sind wir eifrig dabei, mit den Serben ein ganzes Volk zu „bestialisieren“ – aufgrund der Verbrechen, die ihre Regierung und ihre bestialischen Paramilitärs begangen haben. Warum tun wir das? In ihrem berühmten Roman „Der Knüller“, den ich allen Journalisten als heilsame Lektüre empfehle, parodiert der britische Schriftsteller Evelyn Waugh auf wunderbare Weise die Auslandskorrespondenten. „Was unsere politische Linie betrifft“, sagte Lord Copper vom Daily Beast, „so erwartet die britische Öffentlichkeit zuerst, zuletzt und unablässig nichts als Nachrichten. Denken Sie immer daran, dass die Patrioten im Recht sind und siegen werden. Aber sie müssen rasch siegen. Das britische Publikum hat kein Verständnis für einen Krieg, der sich endlos hinzieht. Ein paar schneidige Siege, einige glänzende Heldentaten auf Seiten der Patrioten, und dann ein farbenprächtiger Einzug in die Hauptstadt. Das ist die politische Linie unserer Zeitung für den Krieg.“ Die britischen Truppen zogen am Samstag, den 12. Juni 1999, in Pristina ein. Der Roman „Der Knüller“ wurde im Jahre 1938 geschrieben.

aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Sonderkorrespondent von „The Independant“, London, im ehemaligen Jugoslawien.

Le Monde diplomatique vom 13.08.1999, von ROBERT FISK