15.09.1995

Eine französische Bilanz

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Eine französische Bilanz

Am 4. Juli 1994 übergab Simone Veil den Vereinten Nationen den Bericht, den Frankreich im Hinblick auf die vierte Weltfrauenkonferenz in Peking erstellt hatte.1 Auf Nachfrage der internationalen Organisation sollten darin die Fortschritte eingeschätzt werden, die seit der letzten Konferenz gemacht worden waren. Doch der Text zeichnet sich in erster Linie durch seinen diffusen Tonfall aus sowie durch das Anliegen, „diejenigen, die Ärger machen, nicht zu erwähnen“, wie die Soziologin Christine Delphy bemerkt.2 So zieht der Bericht – zur gleichen Zeit, da in Frankreich eine Kampagne gegen die Abtreibung ins Rollen kommt – auf dem Sektor der „Selbstbestimmung in Sachen Fruchtbarkeit“ eine überschwenglich positive Bilanz und unterläßt jeden Hinweis auf die Anti-Abtreibungs-Kommandos oder die zunehmenden Schwierigkeiten, die Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen wollen, überwinden müssen: fehlende Mittel der Abtreibungskliniken, Anwendung der Gewissensklausel durch die Ärzte usw. Fünftausend Französinnen reisen jedes Jahr in die Niederlande, um dort abzutreiben...

Die Bedeutung des Lohns für arbeitende Frauen wird heruntergespielt, indem man diesen in Zusammenhang stellt mit ihrem „erfreulichen Anteil am Haushaltsgeld, wodurch sie nach der Erledigung ihrer notwendigen Ausgaben finanziell unabhängiger sind“ – also eine Art Taschengeld. Ist es da noch verwunderlich, daß der Elternzuschuß zum Erziehungsgeld, der die Frauen in die Hausarbeit zurückdrängen soll, in dem Bericht als „eine Wertschätzung der Arbeiten, die die Frauen [im Haushalt] verrichten“, dargestellt wird?

Für Christine Delphy stellt der Bericht „ein regelrechtes Plädoyer für die Ungleichheit“ dar. „Er scheitert bei dem Versuch, die Ungleichheit vor dem Gesetz philosophisch zu begründen, doch rechtfertigt er die faktische Ungleichheit.“ Und sie fährt fort: „Frankreich ist der einzige große westliche Staat, der der UNO anstelle einer Antwort auf ihre Fragen eine arrogante Rechtfertigung seiner diskriminierenden Politik übergibt und sie noch durch die Ankündigung ergänzt, damit fortfahren zu wollen.“ Eine Selbstbeweihräucherung, die in scharfem Gegensatz zu der recht negativen Bilanz steht, die aus der französischen Politik der letzten zehn Jahre zu ziehen ist.3

dt. Sophie Mondésir

1 Les Femmes en France: 1985–1995, franz. Bericht zur vierten Weltfrauenkonferenz, Paris 1994

2 Nouvelles questions féministes, Paris, Februar 1995

3 Jane Jenson und Mariette Sineau: „Mitterrand et les Françaises, un rendez-vous manqué“, Presses de la Fondation nationale des sciences politiques, Paris 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995