11.08.1995

Herausforderung Chiapas

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Herausforderung Chiapas

IM südmexikanischen Chiapas haben die Maskierten die Macht demaskiert. Nicht nur die lokale Macht, die in den Händen der Waldzerstörer und Bauernschinder liegt. Die zapatistische Rebellion1 hat in den vergangenen eineinhalb Jahren nach und nach auch diejenige Macht bloßgestellt, die über ganz Mexiko herrscht. Eine Macht, deren armselige Überzeugung darin besteht, daß Wahlurnen und Frauen Gewalt anzutun ist und Politik zu machen nichts anderes heißt, als dem Pferd im vollen Galopp noch die Hufeisen zu klauen.

Aber das Echo von Chiapas ertönt weit über das Land und seinen Herrschaftsbereich hinaus. Der Subcomandante Marcos, Wortführer der Zapatisten, hat gesagt, er sei Zapatist in Mexiko, Schwuler in New York, Schwarzer in Südafrika, Muslim in Europa, Chicano in den USA, Palästinenser in Israel, Jude in Deutschland, Pazifist in Bosnien, eine Frau allein in irgendeiner U-Bahn um zehn Uhr abends, landloser Bauer in irgendeinem Land, arbeitsloser Arbeiter in irgendeiner Stadt. Und in einem wunderbaren Brief2 erinnert der Subcomandante an seinen toten Freund, den alten Antonio: Dieser habe die Meinung geäußert, daß ein jeder das Format des Feindes habe, den er sich aussucht.

Das ist, glaube ich, der Schlüssel, um die Größe dieser kleinen Bauernbewegung zu verstehen, die in einer Gegend entstand, die den Produzenten der öffentlichen Meinung nie eine Nachricht wert gewesen war. Ihr Aufschrei hallt überall wider, weil er einen leidenschaftlichen Wunsch nach Gerechtigkeit und Solidarität zum Ausdruck bringt und damit das allmächtige System herausfordert, das sich unbehelligt der ganzen Welt bemächtigt hat. Die Herausforderung äußert sich durch Kühnheit in den Taten und Humor in den Worten, durch Mut und Fröhlichkeit, Dinge also, über die wir wahrlich nicht im Überfluß verfügen.

Die Welt ist einer weithin wirkenden unsichtbaren Diktatur unterworfen3, in der es keine Ungerechtigkeit gibt. Die Armut zum Beispiel, die so viele Menschen quält und so schnell wächst, ist nicht etwa das Resultat von Ungerechtigkeit, sondern die gerechte Strafe für Ineffizienz. Und wo es keine Ungerechtigkeit gibt, wird das Sehnen nach Gerechtigkeit als Terrorismus diffamiert oder als Nostalgie belächelt. Und die Solidarität? Was keinen Preis hat, ist nichts wert. Niemals wurde die Solidarität auf den Weltmärkten so tief gehandelt. Die Wohltätigkeit wird etwas freundlicher bewertet, doch bis jetzt hat die Superregierung dieser Welt soviel ich weiß der Mutter Theresa in Kalkutta noch nie eines der Wirtschaftsministerien angeboten.

Die Superregierung: Die Regierungen werden von einer Handvoll Piraten beherrscht, die sich niemals in einer Wahl beworben haben.4 Sie entscheiden über die Geschicke der Menschheit und diktieren die moralischen Maßstäbe. Statt der Greifhaken haben sie in der Faust einen Computer, und auf der Schulter sitzt statt des Papageis ein Technokrat. Sie beherrschen die sieben Meere der Hochfinanz und des internationalen Handels, wo die Spekulanten segeln und die Produzenten untergehen. Von da aus verteilen sie weltweit den Hunger und die Übersättigung, manipulieren die Befehlsträger und kontrollieren die Befohlenen. Das Fernsehen, das ihre Anweisungen überträgt, nennt Weltfrieden oder internationales Gleichgewicht, was nur allgemeine Resignation ist.

DOCH der Mensch hat eine hartnäckige Tendenz zum schlechten Betragen. Wo man es am wenigsten erwartet hätte, bricht Rebellion aus, und die Würde tritt auf den Plan. In den Bergen von Chiapas zum Beispiel. Lange Zeit schwiegen die Maya-Indianer. Die Kultur der Maya ist eine Kultur der Geduld und versteht es, zu warten. Und jetzt: Wie viele Leute sprechen durch diese Münder? Die Zapatisten sind in Chiapas, aber sie sind auch an jedem anderen Ort. Sie sind wenige, aber sie haben viele spontane Botschafter. Da niemand diese Botschafter ernennt, kann auch niemand sie absetzen. Da niemand sie bezahlt, kann niemand sie zählen. Oder kaufen.

Eduardo Galeano

1 Siehe Maurice Lemoine, „Le Mexique en guerre en Chiapas“, Le Monde diplomatique, März 1995.

2 Vgl. den Brief des Subcomandante Marcos an Eduardo Galeano, erschienen in der Wochenzeitung Brecha, Montevideo, 25. Mai 1995.

3 Ignacio Ramonet, „La pensée unique“, Le Monde diplomatique, Januar 1995.

4 Dossier „Die neuen Herren der Welt“, Le Monde diplomatique (dt.), Mai 1995

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Eduardo Galeano