14.07.1995

Immer längere Haft in den USA und in Europa

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Immer längere Haft in den USA und in Europa

ALLE modernen Gesellschaften heute, besonders die Großstädte, haben mit den Problemen steigender Kriminalität und zunehmender Gewalt zu kämpfen. Als Antwort darauf greifen die amerikanischen Behörden immer häufiger auf die Inhaftierung zurück, die im Repressionsapparat einen zentralen Platz einnimmt. Die Zahl der in US-amerikanischen Gefängnissen Einsitzenden hat sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten verdreifacht. Wie alle Entwicklungen, die sich in den USA anbahnen, droht auch diese ein Vorzeichen für die künftige Entwicklung in Europa zu sein.

Von JEAN-PAUL JEAN *

Mehr als eineinhalb Millionen Menschen sitzen heute in den Gefängnissen der Vereinigten Staaten ein.1 Die symbolische Millionengrenze wurde im Juni 1994 allein für die Gefängnisse des Bundes und der Staaten überschritten. Genauer gesagt, saßen in diesem Land von insgesamt 260 Millionen Einwohnern 1 012 851 Personen (so viele wie die Einwohner von Dallas) hinter Gittern – einer von 260 Amerikanern, einer von 193 Erwachsenen: Das ist eine Quote, die viermal höher liegt als in Kanada und vierzehnmal höher als in Japan.2 Nach einer Studie des Justizministeriums betrug Ende 1993 die Zahl der Insassen amerikanischer Gefängnisse des Bundes und der Einzelstaaten 948 881 Personen gegen 329 821 am 31. Dezember 1980. Das bedeutet eine Zunahme von 188 Prozent – praktisch also eine Verdreifachung – innerhalb von dreizehn Jahren.3

Die Entwicklung ist um so beunruhigender, wenn man sich den Wachstumsrhythmus klarmacht: Ein Plus von 1 500 Personen pro Woche beziehungsweise 7,4 Prozent zwischen 1992 und 1993. Das sind von einem Jahr zum anderen 65 225 zusätzliche Häftlinge, weit mehr als die Gesamtzahl der Insassen in den französischen Gefängnissen mit 53 736 Personen am 1. Januar 1995.

Die zuletzt genannte Zunahme betrifft nicht alle Staaten gleichermaßen. Acht von ihnen, etwa Massachusetts (–3,6 Prozent), haben es dank einer Politik des sentencing (des kritischen Umgangs mit den Bedingungen der Urteilssprechung und der Anwendung von Strafmaßnahmen) in diesem Jahr sogar geschafft, den Rückgriff auf Gefängniseinweisungen leicht zu vermindern oder jedenfalls zu stabilisieren. Umgekehrt zeigen vier Staaten mit über 15 Prozent Zuwachs binnen Jahresfrist eine extrem gegenläufige Entwicklung: Mississippi, Minnesota, Texas und Connecticut.

Am repressivsten sind die Südstaaten. Die Steigerungsraten bei den Zahlen von 1993 gehen vor allem auf Kalifornien (+10 455), Texas (+9 925) und Florida (+4 746) zurück, wo im übrigen auch das stärkste demographische Wachstum des gesamten Landes zu verzeichnen ist. Neben den der Bundesgewalt unterstehenden Gefängnissen (+9 327) tragen diese drei Staaten, in denen gut ein Drittel aller Inhaftierten der USA einsitzen, über die Hälfte (52,8 Prozent) zum Gesamtanstieg der Gefangenenzahlen bei.

Die Durchschnittsrate der zu mehr als einem Jahr verurteilten Gefängnisinsassen, die sich 1980 auf 139 Strafgefangene pro 100 000 Einwohner belief, erreichte Ende 1993 den Rekord von 351, und damit fast fünfmal mehr als in Frankreich und achtmal mehr als in den Niederlanden. Den absoluten Spitzenwert liefert der District of Columbia (Verwaltungsbezirk der Bundeshauptstadt Washington), gefolgt von Texas, Oklahoma, Louisiana und South Carolina, die alle etwa 500 Gefangene mit Haftstrafen von über einem Jahr auf 100 000 Einwohner aufweisen.

1992 stellten die Schwarzen knapp 48 Prozent der zu solchen Strafen verurteilten Gefängnisinsassen, ein Anteil von 2 678 Personen auf 100 000 Einwohner und damit etwa achtmal so hoch wie bei den Weißen. Das Maximum von 6 301 zu 100 000 entfiel auf männliche Schwarze zwischen 25 und 29 Jahren. Anders gesagt: 6,3 Prozent der jungen amerikanischen Schwarzen verbringen mehr als zwölf Monate im Gefängnis. Der hohe Prozentsatz dieser Kategorie, die schon 1980 mit 3,5 Prozent höher lag als alle anderen, zeigt deutlich genug, gegen welche Bevölkerung die Repressionsmaßnahmen der amerikanischen Gesellschaft eingesetzt werden.

Das statistische Verfahren, das der Europarat 1983 für den Alten Kontinent eingeführt hat, ermöglicht uns, die Entwicklung der Gefängnispopulation über einen Zeitraum von zehn Jahren zu verfolgen.4 Zwischen dem 1. September 1983 und dem 1. September 1992 hat sich die Zahl der Gefangenen in Griechenland, Spanien, Portugal und den Niederlanden um gut die Hälfte erhöht, während sie in Frankreich, in der Schweiz, in Irland und Schweden nur um 20 bis 50 Prozent gestiegen ist. Die Ausnahmen sind Deutschland und Österreich, die aber dafür Anfang der achtziger Jahre die höchste Gefangenenquote von ganz Westeuropa aufwiesen.

Infolge des Ersatzes von Gefängnisstrafen durch andere und der Kontrollmaßnahmen im offenen Vollzug ist paradoxerweise eine Verringerung an Neuzugängen im geschlossenen Vollzug zu beobachten, gleichzeitig aber auch eine Verlängerung der durchschnittlichen Haftdauer, was mit einer längeren Dauer der Prozeßverfahren, mit der Verhängung höherer Strafen durch die Gerichte und mit geringerem Rückgriff auf Bewährungsstrafen erklärt werden könnte.5

Die Situation in Frankreich ist insofern symptomatisch. Jährlich kommen weniger Personen ins Gefängnis: 1993 waren es 83 000 gegen 97 000 im Jahr 1980, ein historischer Rekord! Besonders gilt das für Jugendliche unter 21. Doch die durchschnittliche Haftdauer hat sich in derselben Zeit von 4,6 auf 7,6 Monate verlängert. Die Zahl der auf Bewährung entlassenen Häftlinge verringert sich von Jahr zu Jahr, während in regelmäßigen Abständen kollektive Begnadigungen und Amnestien beschlossen werden, weil sie die einzigen Maßnahmen sind, um die Überfüllung der Strafvollzugsanstalten in „erträglichen“ Grenzen zu halten. Der Anteil der ausländischen Gefangenen ist zwischen 1974 und 1994 von 15 auf 30 Prozent gestiegen und hat damit doppelt so schnell zugenommen wie die Zahl der französischen Häftlinge. Der einzige Grund hierfür liegt in dem härteren Vorgehen gegen Personen, deren Status nicht legalisiert ist.6

Die Gründe für die Inhaftierung haben sich verändert. Die Zahl derer, die wegen Diebstahls einsitzen, ist beträchtlich gesunken (55 Prozent der Verurteilten im Jahr 1974 gegenüber 22 Prozent 1994); 21,5 Prozent sind – mit hohen Rückfallquoten – wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden (1987 waren es noch 14 Prozent). Die Zahl der wegen Sittlichkeitsdelikten (Vergewaltigung, sexuelle Nötigung) Verurteilten hat sich zwischen 1974 und 1994 um 4,9 vervielfacht.7

Daß immer härtere Strafen verhängt werden, ist keineswegs ein Mythos. Von einer laschen Rechtsprechung kann in Frankreich nicht die Rede sein. Die „Langzeitstrafen“ beispielsweise haben sich zwischen dem 1. Januar 1971 und dem 1. Januar 1991 mehr als verdoppelt. Die Zahl der Lebenslänglichen ist von 255 auf 457 gestiegen; bei denen, die zu zehn bis zwanzig Jahren Freiheitsstrafe verurteilt sind, ist ein Anstieg von 1 561 auf 3 177 zu verzeichnen, und bei denen, die fünf bis zehn Jahre zu verbüßen haben, ein Anstieg von 2 020 auf 5 021.8

Angesichts dieser Inflation an Haftstrafen haben die meisten westlichen Länder den Etat der Strafvollzugsbehörden erheblich aufgestockt. In den USA hat das 1994 auf Druck Clintons vom Kongreß verabschiedete Gesetz zur Verbrechensbekämpfung den Staaten einen Anspruch auf 7,9 Milliarden Dollar zugebilligt, um dem Anwachsen der Häftlingszahlen zu begegnen. In Großbritannien hat die Regierung 1992 ein Dreijahresprogramm mit einem Budget von 739 Millionen Pfund für die Errichtung neuer Strafvollzugsanstalten beschlossen. Zwölf Gefängnisse entstanden im Zeitraum 1985 bis 1992, und neun weitere, von denen sieben bereits genutzt werden, waren Ende 1992 im Bau. Um eine Teilprivatisierung einzuleiten, war an die Spitze der Strafvollzugsverwaltung ein neuer Generaldirektor berufen worden, der bis dahin einen Fernsehsender geleitet hatte und doppelt soviel Gehalt bezog wie sein Vorgänger.9

In Frankreich wurde 1987 auf Initiative des damaligen Justizministers Albin Chalandon ein Bauprogramm zur Schaffung von 13 000 Gefängnisplätzen entworfen und privaten Unternehmen anvertraut, denen somit die Aufgaben der öffentlichen Dienste anheimfielen. Soeben ist ein neues Fünfjahresprogramm verabschiedet worden, das 4 200 zusätzliche Plätze im geschlossenen Vollzug sowie 1 200 Plätze in halboffenen Einrichtungen vorsieht.

Werden sich die westlichen Nationen weiter in diese Spirale hineinziehen lassen? Ist eine andere Politik überhaupt möglich? Haftersetzende Maßnahmen wie eine gerichtliche Überwachung, Hausarrest, Polizeiaufsicht, Kautionen, Haftentlassung auf Bewährung, Betreuung in Gemeinschaften oder Ausführung gemeinnütziger Arbeiten sind im Bereich der leichten oder mittelschweren Kriminalität durchaus wirksam und entwickeln sich in ganz Europa.10 Diese Maßnahmen ermöglichen eine wirkliche soziale Mobilisierung unter Einschluß der Abgeordneten und der Vereine und sind obendrein unvergleichlich billiger als die Gefängnisstrafe. Warum sollte man sie also nicht entwickeln?

Sie haben jedoch kaum Einfluß auf die strukturellen Ursachen der Inflation an Haftstrafen, namentlich der immer länger werdenden Haftdauer. Unabhängig von der Logik der Justiz ist besonders in den benachteiligten Vierteln stark urbanisierter Gebiete eine Zerrüttung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse festzustellen, die zu einer Verwaltung der sozialen Schäden des Liberalismus durch die Instrumente der Strafverfolgung führt.11 Das Gefängnis ist für die Mehrheit der Inhaftierten nichts anderes als eine Maschine zum Ausschluß einer Bevölkerung mit niedrigem Bildungsstand und starken psychosozialen Problemen, bei denen Integrationsschwierigkeiten eine wesentliche Rolle spielen. Es sagt viel, daß die Hauptursache für die Inflation der Gefängnisstrafen offenbar in der Art liegt, wie unsere Gesellschaft auf Drogensucht und illegale Einwanderung antwortet. Die Gefängnismauern schützen uns vor allem gegen unsere Ängste.

dt. Grete Osterwald

1 Zu den rund 1 100 000 Häftlingen der Gefängnisse des Bundes und der Staaten kommen 500 000 Insassen von 3 304 lokalen Gefängnissen und Polizeizellen hinzu, die den Bezirken und Gemeinden unterstehen und in denen Untersuchungshäftlinge einsitzen oder Kurzstrafer, deren Zahl sich in zehn Jahren verdoppelt hat. Nach Angaben des Justizministeriums, zitiert von der Agentur Associated Press, 1. Mai 1995

2 Nach Angaben des Justizministeriums, zitiert von Le Monde, 31. Oktober 1994

3 Vgl. Darrel K. Gilliard/Allen J. Beck, „Prisonners in 1993“, in: BJS Statisticians, Bureau of Justice Statistics, US Department of Justice, Washington, Juni 1994

4 SPACE, letzte Erhebung bis 1. September 1992, unveröffentlicht. Die hier genannten Zahlen beruhen im wesentlichen auf dieser Untersuchung und auf dem Beitrag von Pierre Tournier (CNRS/ CES-DIP), „Le crime et la politique criminelle en Europe“, Colloquium von Romainmôtier (Schweiz), September 1994

5 Zusammenfassung der Analysen von Pierre Tournier

6 Nach dem Beitrag von Pierre Tournier

7 Vgl. Philippe Robert/Bruno Aubusson de Cavarlay/Marie-Lys Pottier/Pierre Tournier, „Les Comptes du crime: les délinquances et leurs mesures“, L'Harmattan, Paris 1994

8 Vgl. Annie Kensey/Odile Tunbart, Infostat Justice, Oktober 1991

9 Nach einem Bericht für das Justizministerium, „Rapport au garde des sceaux sur l'emprisonnement des détenus difficiles et dangéreux“, Generalinspektion der Gerichtsabteilungen und der Verwaltung, Paris, April 1993

10 Vgl. Claude Faugeron, „Les Politiques pénales. La Documentation française, Paris 1992

11 Siehe Jean-Paul Jean, „Le Libéralisme autoritaire“, in Le Monde diplomatique, Oktober 1987

* Justizbeamter am Cercle Condorcet, Paris

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Jean-Paul Jean