14.07.1995

Gegen den Eisernen Vorhang in Nahost

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Gegen den Eisernen Vorhang in Nahost

VEREINZELTEN Stimmen zum Trotz hat sich in der westlichen Welt eine grundsätzliche Auseinandersetzung über Sinn und Zweck der zionistischen Bewegung, die sich im israelischen Staat verkörpert, nie durchsetzen können; dafür gibt es mehrere Gründe: die Bereitschaft führender jüdischer Organisationen, jede israelische Politik zu verteidigen, was immer diese auch beinhalten möge – gewissermaßen „als Entschädigung dafür“, wie Elie Wiesel einmal sagte, „sich nicht selbst dort niedergelassen zu haben“; die Furcht, antisemitischen Strömungen – und sei es auch nur indirekt – neuen Auftrieb zu geben; und vor allem ein lähmendes Schuldgefühl bei vielen Politikern, Journalisten und Intellektuellen hinsichtlich der für den Holocaust verantwortlichen jüngsten Vergangenheit des europäischen Kontinents.

In der israelischen Gesellschaft dagegen ist eine Diskussion über diese heikle Angelegenheit – mit einiger Zurückhaltung zwar – im Gange, insbesondere seit der Besetzung des Westjordanlands und des Gaza-Streifens im Jahr 1967. Galionsfigur in dieser Debatte ist der am 18. August 1994 im Alter von 91 Jahren verstorbene Professor Yeshayahu Leibowitz, seines Zeichens Doktor der Biochemie und Medizin, Philosoph und Theologe. Er gilt nach Aussage der Übersetzer des dritten von ihm in französischer Sprache erschienenen Werkes als „die herausragendste Persönlichkeit der intellektuellen israelischen und jüdischen Welt der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts“.1 Als überzeugter Zionist und tiefgläubiger Jude mit modernen Auffassungen und einer umfassenden Bildung könnte er wie kaum eine andere Persönlichkeit eine Umorientierung innerhalb der zionistischen Bewegung mit herbeiführen.

Leibowitz tut dies durch einen Frontalangriff auf die Begriffe Volk, Staat und Land – jene Trias, die die zionistische Ideologie begründet und sich gleichermaßen als moralischer Imperativ wie als Tabu dem jüdischen und westlichen Gewissen auferlegt. Dies führt zu einer Klärung darüber, was einerseits die israelische Identität, andererseits und unabhängig von ihr das spezifisch Jüdische ausmacht, und schafft einen moralischen Freiraum, wie er dem Frieden und Dialog zwischen Menschen und Religionen förderlich ist.

„Was ist das jüdische Volk?“ Auf diese Frage antwortet Leibowitz zunächst ex negativo. Das Judentum sei nicht an ein bestimmtes Land gebunden: „Die Idee, das Volk Israel sei auf diesem Boden entstanden, ist eine Erfindung der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung..., die Identität des jüdischen Volkes ist nicht an das Gebiet gebunden, aus dem es vertrieben worden ist... Von Anbeginn war das jüdische Volk ein Volk des Exils.“

Genauso wenig sei das Judentum an den Staat gebunden: „Das geschichtliche Volk der Juden hat allen inneren Gegensätzen und Spaltungen zum Trotz niemals die Staatsform ... als konstitutives Moment seines nationalen Wesens betrachtet.“ Und auch die – im Zusammenhang mit Fragen der Identität des jüdischen Volkes oft angeführte – Sprache sei kein bindendes Element, denn schließlich hätten sich die Juden des Aramäischen, Arabischen, Jiddischen und zahlreicher anderer Sprachen bedient.

Was also ist dieses Volk? Es ist, antwortet der Philosoph, das Volk des „in der Thora und seinen Gesetzen verankerten Judentums. Ein Volk, das sowohl auf geistigem wie auf praktischem Gebiet einer besonderen Lebensweise anhängt, die zum Ausdruck bringt, daß man das Joch des Himmlischen Reiches, das der Thora und seiner Gesetze anerkennt. Auf diesem Bewußtsein beruht sein nationales Wesen.“

Aber „die im 19. Jahrhundert einsetzende Krise ist die schwerste in der ganzen Geschichte des jüdischen Volkes, viel schwerer als seinerzeit die Zerstörung des Tempels“. Denn dieses Judentum, mit dem sich kaum 10 Prozent der Israelis identifizieren, wird überlagert von einer Judizität – einem vagen Zugehörigkeitsgefühl zum Judentum, zu dem sich all die vielen bekennen, ohne daß sie bereit wären, die Lebensweise und die Werte des Judentums zu teilen. Daher rührt das Problem einer jüdischen Identität – und die Unfähigkeit des israelischen Staates, sagen zu können, wer oder was jüdisch ist.

Was aber macht Israel dann noch aus, wenn man es von der symbolischen Last seiner drei Grundpfeiler befreit – der Bindung an das Land Israel, dem Bezug auf ein spezifisch jüdisches Staatsgebilde und dem Anspruch auf eine klar definierte Identität? Israel, meint Leibowitz, ist eine jener „staatlichen Kristallisationen“, die den Verlauf der jüdischen Geschichte immer wieder markiert haben. Es hat seine Wurzeln in dem aufschäumenden Nationalgefühl jüdischer Gemeinden in einem Osteuropa, das nicht in der Lage war, ihnen einen angemessenen Platz einzuräumen, und wurde durch den nationalsozialistischen Völkermord in der Mitte dieses Jahrhunderts unwiderruflich gemacht.

Israel darf sich also weder als staatliches Refugium betrachten (die Mehrheit der Juden fühlt sich in Europa oder Amerika bedeutend sicherer) noch sich trügerische Argumente aus der Bibel zunutze machen: „Es bedeutet eine gleichermaßen religiöse wie moralische Disqualifizierung, eine geistige Verderbtheit durch eine an Blasphemie grenzende Verlogenheit und Heuchelei, wenn ein Volk sich der Verheißungen der Thora bedient, um seine nationalen Ansprüche zu untermauern. Und das, obwohl die Mehrheit seiner Angehörigen sowie das politische und soziale System, das es sich gegeben hat, nicht die geringsten Verbindungen zum religiösen Glauben haben.“

Was bleibt also? Erst wenn die Phantasmen und Tabus vom Tisch sind, kann ein echter politischer Denkprozeß in Gang kommen. Eine erste Forderung, der sich Israel stellen muß, wäre der Verzicht, ein anderes Volk zu beherrschen. „Der Staat Israel wird im Lande Israel als Rahmen einer politischen und nationalen Unabhängigkeit des jüdischen Volkes dann eine Überlebenschance haben, wenn er es sich versagt, das andere in diesem Land beheimatete Volk zu unterjochen.“

Selbst wenn Leibowitz nicht ausdrücklich auf den ungeheuren Schaden eingeht, der dem palästinensischen Volk aus der Vereinnahmung seines Landes und der ganzen Region aus der dauerhaften Störung ihrer normalen Entwicklung entstanden ist – das Eingeständnis steht im Raum.

Eine zweite Forderung betrifft die Weigerung Israels, die „historischen“ Grenzen wiederherzustellen, indem man die Geschicke des palästinensischen Volkes bestimmt und die gesamte Region zu dominieren sucht.

Dies klingt wie ein Nachruf auf die Politik der Regierung Jitzhak Rabins, die dadurch, daß sie ihre Kolonien ausbaut, sich gegen die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat sperrt und auf eine ökonomische Durchsetzung der eigenen Ziele setzt, die Errichtung eines „eisernen Vorhangs“ um israelisches Gebiet betreibt. Tatsächlich bedürfte es einer Ablösung der gesamten politischen Führungsriege, bevor ein Frieden Wirklichkeit werden könnte, wie Leibowitz ihn sich gewünscht hätte.

Die Rede des Philosophen ist „prophetisch“ im umfassenden Sinne des Wortes. Er bewahrt die Größe der geistigen Botschaft des Judentums und weist dem Frieden den Weg. Wenn demgegenüber aufgeschlossene Menschen in Israel nicht Mittel und Wege finden, sich in der Region auf andere Weise als durch Ausgrenzung oder Beherrschung anderer einzugliedern; wenn die arabische Welt nicht die schwierige Aufgabe zu lösen vermag (der der Westen sich nie ernsthaft gestellt hat), die jüdische Realität als solche anzuerkennen und ihre Eingliederung zu erleichtern, ohne dabei auf die nationale Aufgabe einer eigenen kulturellen, sozialen und politischen Erneuerung zu verzichten; dann bliebe das Schlimmste zu befürchten, und die Barbarei hätte über Leibowitz' Verheißung obsiegt.

BUTROS HALLAQ

dt. Christian Hansen

1 Yeshayahu Leibowitz, „Peuple, Terre, État“, übersetzt von Gérard Haddad und C. Neuve-Eglise, mit einem Vorwort von G. Haddad, Paris 1995.

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Butros Hallaq