16.06.1995

Ein Land zwischen Computer und Balafon

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Ein Land zwischen Computer und Balafon

GUINEA ist die einzige französische Kolonie, die es 1958 abgelehnt hatte, sich in die französische Währungszone eingliedern zu lassen. Es hat sich bis heute weder vom Diktatorenregime des Präsidenten Sekou Touré noch von dessen Ableben erholt. Erst jetzt, zehn Jahre danach, haben Parlamentswahlen stattgefunden, die ersten Wahlen dieser Art in einem Land mit sechseinhalb Millionen Einwohnern, das weiterhin von der Welt abgeschnitten bleibt.

Von unserem Sonderkorrespondenten MICHEL GALY *

„Guinea? Ein ghettoisiertes Land“, gibt der starke Mann des Regimes, Innenminister Alseny René Gomez von vornherein zu. Inmitten seiner Freunde in einer Kneipe des Tawia-Viertels klagt der oppositionelle Schriftsteller Williams Sassine: „Es ist, als wären alle Flugzeuge bereits lange abgeflogen... Wir sind hier zurückgeblieben und verrotten!“1 Bei jedem Schritt in diesem „vergessenen Land“, so der Oppositionspolitiker Alpha Condé, der Parteichef des Rassemblement du peuple de Guinée (RPG)2, treffe man immer wieder auf jenes unbestimmte Gefühl der Ausgeschlossenheit und der Isolation oder auch der völligen Entmutigung, das Guinea zu einem der tristesten Länder im lebensfreudigen Westafrika macht.

Die 26 Jahre blutiger Diktatur unter Präsident Sekou Touré erklären nicht alles. Daß man die Verwaltung nicht gründlich gesäubert hat, dazu die jetzigen Schwächen des Staates und seiner führenden Köpfe tragen ein gerütteltes Maß Schuld am „verlorenen Jahrzehnt“, das auf den Tod jenes Mannes folgte, der es gewagt hatte, General de Gaulle sein Nein entgegenzusetzen. Bei der Ortsbesichtigung glaubt der Besucher zu ersticken: Conakry ist teilweise wieder zu Buschland zugewachsen. Es ist nicht länger jene „Stadt, die unter ihren Kokospalmen und Mangobäumen das altmodische Flair, den Moder bewahrt, die den alten Kolonialstädten ihr Prestige verliehen“3. „Die ganze Altstadt ist eine riesige Barackensiedlung“, bemerkt ein guineischer Beamter: Die Sussu, im Prinzip die privilegierten Söhne des Regimes, hausen, nur zwei Schritte von den wichtigsten Ministerien, in Elendsquartieren mit abblätternden Wänden und verrosteten Blechdächern. Das Straßennetz ist in einem katastrophalen Zustand, und bis in die Hauptstadt hinein mit Schlaglöchern übersät, die „Elefantennester“ genannt werden.

Die alles verwüstende Regenzeit gibt keine Entschuldigung her für ineffiziente Stadtplanung: beim kleinsten Regenguß verwandelt sich Conakry mangels eines Abflußsystems in eine Kloake. Schafe und Hühner laufen mitten im Stadtzentrum herum. Jede Fortbewegung wird in den vorsintflutlichen privaten Taxibussen zur Heldentat; von den Hunderten staatlichen Bussen, die aus Mangel an Ersatzteilen „kannibalisiert“ werden, zirkulieren nur ein halbes Dutzend. Doch Williams Sassine gibt zu bedenken: „Die Straßen sind zwar schlecht, aber die klimatisierten Vierradwagen kommen immerhin durch.“ Mit dem Dünkel der Neureichen und Regimevertreter kann sich nämlich nur noch der offen zur Schau getragene Konsumrausch mancher westlicher Experten messen. Was macht es denn, wenn die zahlreichen Entwicklungsprojekte, denen sie vorstehen, schnell mit schwindelerregenden Gehältern und Abgaben überlastet werden? Diese Leute leiden wenig unter den ständigen Unterbrechungen von Wasser- und Stromzufuhr – jede Villa hat ihren eigenen Generator –, während Kerzen oder Petroleumlampen die Armenviertel ab Einbruch der Nacht erhellen. Aber alle sind sich einig darüber, daß die Sicherheitslage schlecht ist: Sobald die Sonne untergeht, verschanzen sich die Europäer hinter beeindruckenden Gittertoren und bewaffneten Wächtern; die Guineer gehen so weit, die „Halskettenfolter“ mit brennenden Autoreifen für Diebe, die auf frischer Tat ertappt werden, zu rechtfertigen. „Es gibt ja keine Justiz“, entschuldigen sie sich. „Die Korruption ist wie eine richtige Gangsterorganisation“, versichert Abdoulaye Y., ein junger Finanzexperte: Vom Staatsbeamten bis zum Polizisten, vom Geschäftsmann bis zum Zöllner, jedes Stückchen Macht wird in Geld umgesetzt.

So sammeln von morgens bis abends in Conakry Hunderte von Soldaten und Polizeibeamten in Uniform, Erben des „bewaffneten Volkes“ der Diktatur, Schutz- und Bestechungsgelder ein. Nach vollbrachtem Tagewerk kehren sie nach Hause zurück – es stehen ihnen keine Kasernen zur Verfügung, da der mittellose Staat und die unwilligen Geldgeber die nicht finanzieren mögen.

Das ernüchterte Guinea ist keine Diktatur mehr, eher wirkt es wie ein in die Tropen verirrtes osteuropäisches Land. Vor einer erstarrten Kulisse scheint sich die von den politischen Umschwüngen wie gebrochene Bevölkerung um nichts anderes als das tägliche Überleben zu kümmern, der in Auflösung begriffene Staat bildet nur noch einen formalen Rahmen. Nach dem Tod des „Großen Sylly“ im März 1984 hat das politische Leben unsichere Wege genommen. Wie der Oppositionspolitiker Alpha Condé gestehen sich viele in der Erinnerung nur „ein Jahr wirkliche Demokratie“ zu, bevor der mißlungene Putsch des Obersten Diarra Traoré im Juli 1985 die Politik der Öffnung zum Stillstand brachte und mit ihm die Abrechnungen unter Machtpolitikern und die Verhärtung des Regimes begannen.4

Dritte Runde für die Demokratie

NACH Informationen von amnesty international wollte das Regime des Generals Lansana Conté bereits 1985 mit all seinen Widersachern abrechnen: mit den Anhängern und Verwandten Sekou Tourés, die Oberst Diarra nahestanden. Da alle diese Leute von den Malinké abstammten, wurden die Angehörigen dieser Ethnie in Conakry oft mißhandelt und bedroht, ihre Sprache wurde in der Öffentlichkeit verboten: Man drohte selbst mit der „Ausrottung“ dieser Gruppe „bis nach Mali hin“. Aber das freie Wort führt nicht mehr notgedrungen ins Gefängnis. Seit der stürmischen Rückkehr des RPG- Parteichefs Alpha Condé im Mai 1991 hat sich das Mehrparteiensystem tatsächlich durchgesetzt. Die verschiedenen Parteien sind trotz halbamtlicher Richtlinien und präfektoraler Verbote durch die Elendsviertel von Conakry, die Hochebenen der viehzüchtenden Peul und die entlegenen Dörfer der bewaldeten Region Haute-Guinée gezogen und haben sich so auf die Parlamentswahlen vorbereitet.

Die Präsidentschaftswahl vom 19. Dezember 1993, die Lansana Conté offiziell mit 51,7 Prozent der abgegebenen Stimmen gewann, wurde heftig kritisiert. Wäre nicht, so merken die internationalen Beobachter an, die umstrittene Annullierung der Stimmen aus den Oppositionshochburgen Siguiri und Kankan gewesen, das Ergebnis einer dann möglichen zweiten Runde zwischen Alpha Condé und General Lansana Conté hätte keineswegs festgestanden.5 Viele Guineer haben weiterhin das Gefühl, damals nur „sehr knapp am Bürgerkrieg“ vorbeigeschrammt zu sein“.

Die Parlamentswahlen, „dritte Runde“ im Demokratisierungsprozeß, sind bereits mehrmals verschoben worden, und ihre Durchführung am 11. Juni wurde von mehreren hochrangigen Instanzen kontrolliert: der nationalen Wahlkommission (Commission nationale électorale, CNE), die im Prinzip unabhängig ist, jedoch häufig dem Einfluß des Innenministeriums unterliegt; dazu Beobachter von außen, für die sich die USA und, weniger entschieden, Frankreich einsetzten.

In Conakry in der Opposition zu sein ist kein Honigschlecken. Die wichtigsten Oppositionspolitiker Alpha Condé (RPG) und Siradiou Diallo (Parti du renouveau et du progrès, PRP)6, haben oft die Einschüchterungsversuche der Machthaber angeprangert, die sich vor allem in den Provinzen abspielen: Berufsverbote, willkürliche Verhaftungen oder Annullierungen von Wahlversammlungen durch die Präfekte. „Die meisten Verantwortlichen benehmen sich noch, als lebten wir in einem Einparteienregime“, urteilt Siradiou Diallo, vormals Chefredakteur der Zeitschrift Jeune Afrique. Alpha Condé geht davon aus, „das Land (lebe) nur dem Namen nach in einem Mehrparteiensystem“.

Wenn nun aber die politische Struktur in Wirklichkeit eine „Ethnodemokratie“ wäre? Das Kräfteverhältnis zwischen den vier Bevölkerungsblöcken – Sussu an der Küste, Malinké, Peul und Bewohner der Haute-Guinée – bestimmt, so meint Ali Oularé, ein Soziologe der Universität von Conakry, das politische Leben Guineas. Da geht es um abgesteckte Territorien. So haben die Sussu zum Beispiel das „Ältestenrecht“ in Conakry , aber es teilt sich auch auf nach Gemeinschaften im Exil und Hauptstadtvierteln, oder nach traditionellen Berufen (die Peul sind Viehzüchter und Geschäftsleute). Ein hoher Beamter bittet darum, ungenannt zu bleiben, und verrät dann ein offenes Geheimnis: Hinter einer scheinbar ausgewogenen Regierung versteckt sich ein Ungleichgewicht. Zum Beispiel sind neunzehn von dreiundzwanzig Botschaftern Sussu, ebenso wie Kabinettsdirektoren, Ministerialberater, die Minister für Außenpolitik, Finanzen und Armee, dazu ein Großteil der Leiter der staatlichen Betriebe. Jede Oppositionspartei versucht, die Ursprungsethnie ihres Chefs und ihrer vorherrschenden Klientel durch ein möglichst vielfältiges Umfeld „auszugleichen“.7

Die Universität wird von Fraktionsstreitigkeiten lahmgelegt, die Gewerkschaften sind machtlos, die Diaspora ist diskreditiert: Den Mittelschichten fehlt es an Substanz. Klientelistische oder geschäftliche Netzwerke, regionale, ethnische oder religiöse Seilschaften bleiben die besten Eintrittskarten für staatliche Institutionen; gleichzeitig tragen sie zur völligen Dekonstruktion des Staates bei und lassen den Präsidenten samt Armee in gefährlicher Zweisamkeit mit einer zerstückelten Gesellschaft.

Trotz staatlicher Kontrolle von Rundfunk und Fernsehen kann sich Guinea einer neuen, sehr vielfältigen Presselandschaft rühmen: Außer Horoya (der regierungsabhängigen Tageszeitung) fühlen mehrere gut geführte Blätter den Puls der Gesellschaft, so zum Beispiel die Wochenzeitung L'Indépendant. Die jungen Journalisten des Lynx – für den auch Schriftsteller zur Feder greifen– veröffentlichen ohne Komplexe oder Tabus ein bissiges Satireblatt ähnlich dem Canard Enchaîné. Doch wer liest das alles? Jedenfalls nicht die 60 bis 70 Prozent Analphabeten, die laut dem Erzbischof von Conakry nur vom staatlichen Monopolrundfunk und aus der Gerüchteküche informiert werden. Dennoch sind einige Kommunikationszentren entstanden, die sich auf den Reichtum einer oralen Gesellschaft stützen. Das berühmte Café am Industrieministerium, wo informell Politik gemacht wird, erinnert eher an ein aus Blech und Brettern zusammengezimmertes Elendsquartier als an eine Agora. Doch genau dort wird Meinung gemacht, dort debattieren die Beamten von Conakry traurig – oder auch in kräftiger, tropisch-marxistischer Kadersprache – über Unterschlagungen, Skandale, Agitation der Gewerkschaften, Kritik der neoliberalen Politik oder über die Verkleinerung des aufgeblähten Beamtenapparats. Am Abend hallen die Innenhöfe, die Imbißstuben, die Studentenheime von quasi untergrundmäßigem politischem Aktivismus wider.

Von den Intellektuellen, die den unter Sekou Touré besonders radikalen Säuberungen zum Opfer fielen oder ins Exil gejagt wurden, haben sich nur äußerst wenige an eine Kritik der neuen Machthaber gewagt und sich dann auch noch getraut, sie in Conakry zu veröffentlichen. Viele sind aus der verwüsteten und abgewirtschafteten Universität geflüchtet, haben sich dem Journalismus, dem Geschäftsleben oder der allmächtigen Staatsbürokratie zugewandt, und so sind sie heute neutralisiert.

Eine von Sory Camara8 durchgeführte Forschung zu den Traditionen oder die folklorehafte Inszenierung der guineischen Balletttruppen streichen das Wissen der „Weisen des Wortes“ und der dörflichen Choreographien heraus. Es gibt nur einen einzigen unabhängigen Verlag: SAEC, er gehört dem Schriftsteller Tamsir Niane. Nur eine Handvoll von Intellektuellen wie der Soziologe Bangoura oder der dynamische „Kulturdirektor“ Bailo Telivel Diallo haben sich ihr unverblümtes Reden bewahrt. Letzterer wagt es, sich auf Louis Althusser zu berufen und versucht sich an der Analyse des alten und des neuen Regimes, des Triumphs der Staatsbourgeoisie und der jüngsten Revanche der Geschäftsleute; er sucht in der informellen Wirtschaft und in den Basisgemeinden eine Alternative zum neoliberalen Scheitern und wünscht das unauffindbare „entwickelte Dorf“ herbei, das er nicht ohne Humor als „die glückliche Ehe zwischen Computer und Balafon“ beschreibt9. Allein die Kraft und Zusammengehörigkeit der gut verankerten dörflichen Gemeinschaften haben dem Land, trotz der Verkümmerung des Staates, zum Überleben verholfen. Ein Indiz dafür ist die landwirtschaftliche Kreditbank, die mit Dorfkrediten auf der Grundlage kollektiver Verantwortung experimentiert hat und heute hervorragende Rückzahlungsraten aufweisen kann. In jeder ländlichen Entwicklungsgemeinschaft (Communauté rurale de développement, CRD), die jeweils zwei bis fünfzehn Dörfer umfaßt, läßt der Ältestenrat, ein offizielles Abbild der lokalen Hierarchien, Schulen, Gesundheitsstationen und Brunnen bauen, dies insbesondere im Futa-Djallon.

Wie in Benin oder Mali weigert sich dagegen die gesamte ländliche Bevölkerung, Geld an das Finanzamt abzuführen: Allen voran die Haute-Guinée, bezahlen ganze Regionen keine Steuern mehr. Selbst die Wirtschaft gehorcht dieser Parzellierungslogik: Es gibt ein ganzes Archipel von industriellen Enklaven wie die Aluminium- und Bauxitabbaustätten; an den Grenzen herrscht reger Schmuggel; an der Küste wird mit Zigaretten und Alkohol gehandelt; die privatisierten Staatsgesellschaften werden allenthalben auf die schnelle ausgeplündert. Allein die Zweigstellen ausländischer Unternehmen, die im Rahmen einer neoliberalen Rekolonisierung zurückgekehrt sind, beginnen wieder zu funktionieren.10

Die gigantischen Mineneinrichtungen von Fria, 80 Kilometer von Conakry entfernt, die lange die Grundlage eines Austauschs von Bauxit gegen Fertigprodukte mit der UdSSR waren, sind nicht lange gerostet. Die ausländischen Aktionäre – Pechiney sowie kanadische und norwegische Firmen – kontrollieren 51 Prozent des Joint-venture Friguia. Man findet auch Air France und Aéroports de Paris im Flugverkehr wieder, Bolloré im Transitgeschäft, France Télécom im Telefonverkehr, Accor im Hotelgewerbe, Bouygues in der Wasserversorgung und im öffentlichen Bausektor, Total und Elf im Erdölgeschäft. Das bestätigt den manchmal zweideutigen Kommentar der Guineer: „Die Weißen sind wieder da!“

Dennoch, die öffentliche Meinung ist sich der ungeheuren Verpulverung von Hilfsgeldern bewußt, die im übrigen auch von den westlichen Institutionen zugestanden wird. Einem europäischen Diplomaten in Conakry zufolge haben „die Geber seit 1984 in ein Faß ohne Boden investiert“. Allerdings war das Jahrzehnt nicht für alle ein Verlustgeschäft: die von Frankreich im Laufe von zehn Jahren gewährten 5,6 Milliarden Francs an Krediten sind teilweise mit französischen Firmen „verknüpfte“ Hilfe; andererseits haben die im Rahmen der Projekte und der „Hilfe für den Privatsektor“ unterschlagenen Gelder die persönliche Bereicherung der dem Regime Nahestehenden ermöglicht. Nachdem die Hälfte der zahllosen Staatsbeamten entlassen wurde, halten sich die entmutigten Botschaften und internationalen Organisationen bedeckt. Sie geben unter der Hand das Scheitern der Privatisierungen zu – vom Standpunkt der guineischen Investoren aus – und begnügen sich mit punktueller technischer Hilfe oder mit der Unterstützung von Großprojekten, wie zum Beispiel den Staudamm von Garafiri.

Eigentlich hat Guinea qualifiziertes Personal, Ingenieure, Professoren – doch sie halten sich im Ausland auf. Nach dem Regimewechsel wollten viele nach Hause zurückkehren und stießen, genau wie die Europäer, auf ein eingeigeltes Guinea. General Conté liebt es, jene zu rühmen, „die gemeinsam gelitten haben“, und verteufelt gerne die große Diaspora – ungefähr zwei Millionen Guineer leben im Ausland. Daß die drei wichtigsten Oppositionsführer aus dem Exil zurückgekehrt sind, um ihm das Leben zu erschweren, hat den Präsidenten nur in seiner Meinung bestärkt: Er hat die Diaspora von den Parlamentswahlen ausgeschlossen.

„Wenn Sekou nur noch da wäre!“ Auf einer Baustelle ruhen sich vier Hilfsarbeiter unter einem riesigen rotblütigen Flamboyant aus und unterhalten sich über das Elend der letzten paar Jahre. Sie geben jener neuen Nostalgie Ausdruck, die sich im Verkaufserfolg der Kassetten mit den Reden des verstorbenen Präsidenten auf dem großen Markt von Madina niederschlägt. Der siebenundzwanzigjährige Malinké Soumahoro, ein Taxifahrer, beschreibt auf seine Art das Fehlen jeglicher Perspektive: „Wir haben zu sehr gelitten, alles in diesem Land ist verdorben. Uallahi! Der Typ da oben, der versteht nichts! Für ihn gibt es nur die Felder ... er ist zu starrköpfig!“

Präsident Lansana Conté, der seit zehn Jahren die Macht ausübt, ist in der Tat das in Afrika seltene Beispiel eines Bauern und Generals, der sein blühendes ländliches Gehöft im Herzen der Sussuregion bei weitem dem politischen Mikrokosmos der Hauptstadt vorzieht. Er gibt seinen Gegnern im bäuerlichen Stil eines Houphouät-Boigny aus der Elfenbeinküste ihr eigenes Argument zurück, indem er den Schwerpunkt auf die Landwirtschaft legt und jenen einer Lüge unfähigen Boden fern vom Verschmelzungskessel Conakry lobt. Doch nur sehr wenige unter den fünfzigtausend „Abgespeckten“ des öffentlichen Dienstes sind bereit, „mit dem Ziel der Nahrungsmittelselbstversorgung aufs Land zurückzukehren“, wie es eine offizielle Parole empfiehlt. Genau wie die zahlreichen städtischen Arbeitslosen wissen sie, daß das „Durchwursteln“ auf allen Ebenen, der Handel mit Gold und Diamanten oder der Schmuggel weitaus einträglicher sind, auch wenn sie sich diesen Tätigkeiten meist nicht guten Gewissens hingeben. Viele träumen von einem Rechtsstaat, der Guinea aus dem Abseits herausholen könnte.

1 Williams Sassine: „Saint Monsieur Baly“ (1978) und „Le Zéhéros n'est pas n'importe qui“ (1985), Verlag Presence Africaine, Paris.

2 Das Rassemblement du peuple de Guinée ist die wichtigste Oppositionspartei und rekrutiert seine Anhänger vor allem unter den Malinké.

3 Siehe Georges Balandier, „Afrique ambigüe“, Paris 1957

4 Ein Teil der Armee unter Leitung vor allem von Malinké wie dem Premierminister Diarra Traoré versuchte vergeblich, das Regime zu stürzen. Sie wurden von Getreuen des Sekou-Touré-Clans unterstützt.

5 Offiziell hatte Lansana Conté 51,7 % der abgegebenen Stimmen erhalten gegenüber 19,55%für Alpha Condé (RPG), 13,37% für Mamadou BÛ und 11,86% für Siradiou Diallo (PRP).

6 Im Hinblick auf die Parlamentswahlen vom Juni 1995 ist die von Peul dominierte Parti du renouveau et du progrès (PRP) von Siradiou Diallo mit Alpha Condés RPG ein Wahlbündnis eingegangen, um die Regierungspartei Parti de l'unité et du peuple (PUP) möglichst zu schlagen.

7 Man schätzt, daß die Ethnie Sekou Tourés und Alpha Condés, die Malinké, 30% der guineischen Bevölkerung ausmacht, die von Siradiou Diallo vertretenen Peul ebenfalls 30%, die von Lansana Conté vertretenen Sussu 15% und die Bewohner der Waldregion ebenfalls 15%.

8 Sory Camara, „Gens de la parole“, Paris 1992.

9 Bailo Telivel Diallo, „Positions et propositions“, hektographierte Artikelsammlung, Conakry 1994.

10 Siehe dazu Achille Mbembe, „Afrique des comptoirs ou Afrique du developpement?“, Le Monde diplomatique, Januar 1992.

* Soziologe

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Michel Galy