16.06.1995

Guerilleros im Dschungel des Internet

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Guerilleros im Dschungel des Internet

LIBERTÄR und freischärlerisch, halb Hai, halb Unternehmer – die Hacker im Internet bilden eine „virtuelle Gemeinschaft“. Diese Pioniere einer neuen Grenze, die die neuesten Instrumente der Informatik besser als das FBI beherrschen, haben sich als Lobby organisiert. Sie zeigen sich der völligen Meinungsfreiheit für jeden verbunden und legen eine auffällige Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums an den Tag – was sie natürlich mit der amerikanischen Regierung in Konflikt bringt.

Von YVES EUDES *N*

Je besser die großen amerikanischen Informationsnetze von der breiten Öffentlichkeit angenommen werden, desto erbitterter wird die Auseinandersetzung um ihre Kontrolle oder Nichtkontrolle. Da sind zunächst die Unternehmen, die sich ihr Reich im „Cyberspace“, dem vielversprechendsten Markt der nächsten Jahrzehnte, zurechtschneidern wollen. An zweiter Stelle mehrere Bundesbehörden, insbesondere das FBI, die sich eine neue Aufgabe gesucht haben: der Anarchie in den Netzen, insbesondere auf Internet, ein Ende setzen, „Recht und Ordnung“ herstellen, die Geschehnisse überwachen und jedweden Mißbrauch, von Pornographie bis zum illegalen Export wissenschaftlicher Daten, zu unterdrücken.

Und es gibt noch eine dritte Partei: all die Vereinigungen und informellen Gruppen, die in den Netzen selbst entstanden sind. Die Mehrzahl dieser „virtuellen Gemeinschaften“ führt einen Kreuzzug, um die Freiheit, Kreativität, Freiwilligkeit und Unordnung zu erhalten, die das Internet kennzeichnen. Ihre Handlungsmöglichkeiten sind beträchtlich. Ihre Mitglieder entwickeln einen überbordenden Aktivismus, der sich aus einer beinahe mystischen Liebe zur Welt der Netze nährt. Manche bedienen sich dabei der Ressourcen der Forschungszentren und Universitäten, an denen sie arbeiten.

Ihre Macht kommt vor allem aus der Beherrschung der Informatik, der Vertrautheit mit allem, was mit „the net“ zu tun hat. Ihre Elitetruppen sind die berühmten Hacker, Pioniere und Freischärler der Informationsnetze, die auf dem Internet ihre libertäre Ethik und ihre Kultur aus Surfen, Rock 'n' Roll und Science-fiction-Romanen durchgesetzt haben. Pirat, Erfinder, Idealist, Söldner, Firmenchef – der wahre Hacker hat von allem etwas, abwechselnd oder gleichzeitig. Die Techno-Hippies der sechziger Jahre, von denen manche reich und berühmt geworden sind, suchen heute die Verbindung zu den „Cyberpunks“, heranwachsenden Rebellen, für die Informatik zur zweiten Muttersprache geworden ist. Ob jung oder alt, seriös oder Phantast, die Hacker sind unschlagbar, sie halten eine Länge Vorsprung vor besten Forschungslaboratarien und zehn Längen vor denen, die beim FBI als Experten gelten.

Der im Cyberspace herrschende Geist ist der koordinierten Aktion nicht förderlich. Dennoch hat es eine Gruppe geschafft, sich ihren Platz als informeller Anführer und Fürsprecher der Ungreifbaren zu schaffen: die Electronic Frontier Foundation (EFF). Nach nur fünf Jahren des Bestehens zeigt sich diese originelle Organisation, die gleichzeitig als Lobby, Klub, kämpferischer Verein, Forschungszentrum und „virtuelle Gemeinschaft“ agiert, an allen Fronten präsent. Sie ist anerkannt, respektiert und gefürchtet.

Ihr Anfang war chaotisch. 1990, nach einer Serie von aufsehenerregenden Fällen von Datendiebstahl, hatte das FBI in den gesamten USA eine große Polizeiaktion namens „Sundevil“ eingeleitet. Die Bundesbeamten, in eine unbekannte Welt versetzt, erwiesen sich als unfähig, zwischen einem durchgedrehten, auf Kicks scharfen jungen Hacker, einem Betrüger und einem Spitzenforscher zu unterscheiden. Ihre Methoden – Beschlagnahme und Zerstörung von Ausrüstungen, verschärfte Verhöre, physische Bedrohung – führten nicht weiter. Das FBI verhaftete eine Handvoll junger Starhacker mit für den Staatsanwalt verlockenden Beinamen (The Leftist, Acid Phreak, Phiber Optic, Terminus, Scorpion, Necron 99, Prophet) genauso wie ungefährliche Amateure. Sehr schnell verlief die Operation „Sundevil“ mangels Beweisen im Sande.

Der Ex-Hippie und der Cowboy

ZUR selben Zeit beschloß das FBI, sich zwei Personen etwas genauer anzusehen, die verdächtigt wurden, mit den Hackern unter einer Decke zu stecken: Mitch Kapor und John Perry Barlow. Mitch Kapor, einst Hippie reinsten Wassers, dann Informatikprofessor in Harvard und am Massachusetts Institute of Technology (MIT), bewegt sich nunmehr im Privatjet fort, denn er ist der Autor des bekannten Buchführungsprogramms „Lotus“ und war lange Zeit Chef des gleichnamigen Unternehmens. Barlow ist glühender Anhänger des Internet, aber sein Geld und seine Bekanntheit kommen woanders her. Seit zwanzig Jahren schreibt er Texte für die Rockgruppe „Grateful Dead“. Er ist überdies ein authentischer Cowboy aus Wyoming, Ranchbesitzer und Viehhändler. Sein Leben teilt er zwischen den Herden und der Musik auf, in der großen Tradition des Far West.

In jenem Frühjahr 1990 hatten die Herren Kapor und Barlow sehr ähnliche Erlebnisse, der eine in Massachusetts, der andere in Wyoming. Sie traten aus FBI-Büros, in denen Bundespolizisten sie vernommen hatten, und waren ein wenig beunruhigt hinsichtlich ihres Schicksals, aber vor allem tief erschrocken über die Inkompetenz der FBI-Beamten, über ihr völliges Unverständnis für die Funktionsweise von Internet und ihre von Vorurteilen bestimmte Feindseligkeit gegenüber einer Welt, die ihre Begriffe überstieg. Die Gefahr war offenbar: „Sundevil“ würde eine Flut von Justizirrtümern auslösen, die Grundrechte von Millionen Nutzern verletzen und möglicherweise dazu führen, daß die Netze unter polizeiliche Aufsicht gestellt würden.

Kapor und Barlow reagierten zunächst beide gleich: Sie berichteten im Internet über ihre mißlichen Erfahrungen. Dann nahmen sie Kontakt miteinander auf und beschlossen, sich zu treffen. So erblickte die Electronic Frontier Foundation (EFF) auf der Ranch von Barlow, im Herzen Wyomings, das Licht der Welt. Der Name allein programmiert den Erfolg: er faßt Geist und Ehrgeiz seiner Erfinder zusammen, verankert ihr Abenteuer in der amerikanischen Tradition. Im kollektiven Unbewußten bleibt die Eroberung des Westens Gründungsakt des modernen Amerika. Der Begriff der Grenze (“Frontier“) beschwört unvermeidlich dieses Epos als Symbol des amerikanischen Geistes. Die Grenze ist am Ende dieses Jahrtausends elektronisch. Es ist die virtuelle Welt, entstanden durch die Vernetzung von Millionen Computern. Die Hacker erscheinen dabei als die furchtlosen Pioniere, die neue Gebiete erforschen, und die kleinen Nutzer sind die Bauern, die diese jungfräuliche Scholle kolonisieren. EFF verleiht sich selbst eine historische Mission: „den Cyberspace zu zivilisieren“, die beiden Klippen Chaos und Diktatur zu umschiffen und dafür zu sorgen, daß dort die großen Prinzipien der amerikanischen Verfassung verankert werden.

Die erste Aufgabe von Mitch Kapor und John Perry Barlow war es also, den Opfern von „Sundevil, tatsächlichen oder vermeintlichen Hackern ohne Privatflugzeug und einflußreiche Freunde, zu Hilfe zu kommen. Sie mußten geortet, gute Anwälte mußten gefunden und dafür Gelder gesammelt werden. Letzteres ging leichter als erwartet, denn EFF wurde sofort von einigen der Großen der Computerwelt unterstützt, von Unternehmenschefs, die privat gerne von ihren jugendlichen Heldentaten erzählen. Schließlich gibt es Hacker nicht erst seit gestern. Die Hilferufe kamen, und EFF machte sich an die Arbeit.

EFFs erster Sieg war der Freispruch für Graig Niedorf, alias Lightning Knight, dem sechzig Jahre Gefängnis drohten, weil er auf Internet bedeutungslose Verwaltungspapiere bekanntgemacht hatte, die er sich durch unbefugtes Eindringen in den Computer einer Telefongesellschaft verschafft hatte, die aber auf simple Anforderung hin auch zu haben waren. Der Freispruch konnte als erster Schritt hin zu einer Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Hackens interpretiert werden. Solch eine uneigennützige Tat konnte nicht auf dieselbe Ebene wie Vandalismus oder Betrug gestellt werden.

Aber Kapor und Barlow begriffen sehr schnell, daß ihr Kampf damit noch nicht gewonnen war. Es galt, über die Gerichte hinaus zu zielen. Die Reaktionen der Angst und Feindseligkeit gegenüber den Informationsnetzen hatten immer dieselbe Ursache: Unkenntnis. Die wahre Aufgabe von EFF war es, Amerika aufzuklären, die Entscheidungsträger und Eliten genauso wie das flache Land. Man mußte ihnen helfen, die unendlichen Möglichkeiten dieser neuen Welt zu entdecken. Auf jeden Fall sollten Gesetze verabschiedet werden, die den Schutz, den die Verfassung anderen Kommunikationsmitteln gewährte, auf die Informationsnetze ausdehnten. Schnell sammelten die beiden Gründer einen harten Kern von Experten und Aktivisten um sich, EFF wurde zur Institution.

Fünf Jahre später zählt die Stiftung 3.300 aktive Mitglieder und erhält, auf dem Weg über ihre Forschungszentren, finanzielle Unterstützung von den größten Elektronikunternehmen, einschließlich denen, die ihre Aktivitäten nicht einmal billigen. EFF will vor allem eine „virtuelle Gemeinschaft“ bleiben und tut alles, um in den Netzen gehört zu werden. Sie führt eine große Menge Datenbanken, die über Internet zugänglich sind, elektronische Foren, Hilfsdienste für Einsteiger sowie On-line-Publikationen und leitet Konferenzen auf allen großen kommerziellen Netzen, wie CompuServe oder America On-Line sowie mehreren spezialisierten Netzen.

EFF ist mittlerweile wohlhabend und eine veritable Pressure Group. Man sitzt in einem modernen Gebäude in Washington, den großen Verwaltungen nahe, und beschäftigt ein Dutzend Angestellte: Juristen, Techniker, dazu einige junge Systemanalytiker, die leicht als Hacker durchgehen könnten. An der Spitze steht ein zehnköpfiger Verwaltungsrat, der die verschiedenen Interessen widerspiegelt. Der neue Präsident ist Jurist, die Vizepräsidentin Geschäftsfrau, Wirtschaftswissenschaftlerin und Journalistin. Das Lobbying im Kongreß und bei den Bundesbehörden absorbiert einen Großteil der Energien. EFF unterhält kontinuierliche Kontakte zu Medien, Universitäten, Berufsvereinigungen, Unternehmen, Verbraucherschutzverbänden und Bürgerrechtlern. Mitch Kapor ist überall, er sitzt selbst in einer Beratungskommmission der hochoffiziellen Information Infrastructure Task Force (IITF), die beauftragt ist, das Projekt der Datenautobahnen in Gang zu bringen.

Aber EFF hat in seiner Leitung auch Persönlichkeiten wie John Gilmore, von Sun Microsystems, der sich für die unentgeltliche Weitergabe von Computerprogrammen einsetzt und Schöpfer des Unternetzes „alt.“ des Forums Usenet ist, einer der wichtigsten Orte für den freien Meinungsaustausch. Man findet hier auch Stuart Brand, Gründer des libertären Netzes The Well in San Francisco, der seit 1984 die jährliche Hackerkonferenz organisiert. John Barlow selbst hat sich etwas zurückgezogen; er schreibt, gibt Konferenzen. Er ist der Philosoph des Cyberspace und versteht sich mehr als „mystischer Hippie“.

Selbst wenn EFF versucht hätte, weniger auf Konfrontation und mehr auf Konsens zu setzen – die Ereignisse hätten dafür keine Zeit gelassen. Das FBI, die Geheimdienste, die National Security Agency (NSA) und das Justizministerium haben nicht nachgelassen, ihr Verständnis von Ordnung in den Netzen durchzusetzen. EFF kam also nie aus den Rechtsstreits heraus. Unter ihrer Einwirkung haben sich mittlerweile mehrere Anwaltskanzleien auf diesen Bereich spezialisiert. Die Stiftung eilt all denen zu Hilfe, die sie für zu Unrecht verfolgt hält, wegen auf Internet begangener Taten – vor allem wenn die Anklage mit der Verfassung kollidiert.

Ihr Hauptanliegen ist es, über die absolute Achtung des „First Amendment“ der amerikanischen Verfassung zu wachen: die Freiheit des Wortes in den Netzen zu verteidigen, wie auch immer diese genutzt wird, und gegen jegliche Zensur zu kämpfen, worauf auch immer diese sich gründet. Die Aufgabe ist bisweilen heikel, denn manche Schutzbefohlene haben keine gute Presse. So wurde im Januar 1995 Jake Baker, Student aus Michigan, ins Gefängnis gesteckt, weil er auf Internet Texte verfügbar gemacht hatte, in denen er seine sexuellen Phantasien beschrieb, eingebildete Szenen, in denen er eine ihm bekannte Studentin, namentlich gekennzeichnet, vergewaltigte, folterte und schließlich ermordete. Sogleich tat EFF seine Meinung kund: „Wir billigen in keiner Weise haßerfüllte Äußerungen. Dennoch glauben wir, daß auf eine unselige Äußerung mit besseren Äußerungen geantwortet werden muß und keine Zensur erfolgen sollte. Opfert man ein Recht, um ein anderes zu schützen, so verliert man alle beide.“1

Im Namen des ersten Verfassungszusatzes wurde Jake Baker von mehreren Studentenvereinigungen und der altehrwürdigen ACLU (Union für die Bürgerrechte) unterstützt. In Erwartung seines Prozesses wurde er gegen Kaution freigelassen. Ganz allgemein verdächtigt EFF einige Gesetzeshüter und konservative Politiker, den Kampf gegen die Pornographie als Vorwand zu nehmen, um auf Internet eine erste Zensur einzuführen und so einen Präzedenzfall zu schaffen, der auf andere Bereiche ausgedehnt werden könnte.

Was heißt hier „geistiges Eigentum“?

DIE Verantwortlichen der EFF sind überzeugt: Die Freiheit des Wortes duldet keine Ausnahme. Maßnahmen, die Fanatiker jeglicher Machart oder sexuell Perverse zum Schweigen bringen sollen, kehrten sich schließlich immer gegen die Demokratie. Es ist besser, ihre Exzesse zu ertragen, das ist der Preis für die Freiheit aller. Jedenfalls wird es mit dem Aufkommen der Informationsnetze immer schwieriger werden, ein menschliches Wesen, das Zugang zu einem Computer hat, zum Verstummen zu bringen. Das gilt für die ganze Welt. Wenn Staaten das ablehnen, was auf Internet zirkuliert, so verpflichtet sie niemand, sich anzuschließen. Sind sie aber angeschlossen, dann kann niemand verhindern, daß Bürger dieser Staaten Dinge sehen und lesen, die Regierungen verbieten wollen.

Aber auch solche Gruppen, die die Freiheit des Wortes auf Internet einschränken wollen, zeigen Phantasie. So hat Scientology kürzlich gegen mehrere Unternehmen, die Internetzugänge anbieten, geklagt. Formell ging es den Scientologen dabei um Verwertungsrechte, denn manche Diskussionsforen boten auf ihren Netzen Auszüge aus deren Werken an. Laut EFF wollen sie aber die Firmen nur dazu bringen, Diskussionsforen zu schließen, die dieser Sekte sehr kritisch gegenüberstehen oder in denen Atheisten ihre Meinung kundtun. In dieser Angelegenheit will EFF vor Gericht erreichen, daß eine Firma, die nur den Zugang zum Netz verschafft (provider), nicht für die übertragenen Inhalte verantwortlich gemacht werden kann – genauso wie eine Telefongesellschaft nicht für den Inhalt der Gespräche ihrer Kunden verantwortlich ist. Sich selbst treu bleibend, fordert EFF dennoch die Scientologen auf, sich an den elektronischen Diskussionen zu beteiligen und ihre eigenen Foren zu gründen.

Die Informationsfreiheit umfaßt auch das Recht der Bürger auf Zugang zu den zahllosen Datenbanken der Regierung, insbesondere denen, die Auskünfte über Privatleute enthalten. EFF hat also einen weiteren langfristigen Kampf gegen die meisten Bundesbehörden aufgenommen. Das Ziel ist eine Änderung des Gesetzes über die Informationsfreiheit, um dessen Geltungsbereich auf die elektronischen Akten des Staates auszudehnen.

EFF muß sich auch heikleren Fragen stellen und solchen, die sie nicht eindeutig beantworten kann. So stößt die Stiftung sich an der haarigen Frage des geistigen Eigentums an den Werken, die in den Netzen zirkulieren. In erster Linie geht es dem Internet darum, Texte, Laute, Bilder und Programme überall auf der Welt zu reproduzieren, zur Verfügung zu stellen und sofort zu verschicken. Kein Problem, solange die Nutzer nur ihre eigenen Werke ins Netz laden und sie der „virtuellen Gemeinschaft“ schenken. Aber wie verhält es sich bei den Werken dritter oder bei Urhebern, die für ihre Arbeit bezahlt werden wollen? Wie bringt man die notwendige gerechte Entlohnung der Autoren mit dem freien Informationsfluß in Einklang? Wie kann man die Plünderung geistigen Eigentums vermeiden, ohne Hindernisse, Beschränkungen und Überwachungssysteme zu errichten?

Die radikalsten Mitglieder der EFF treten dafür ein, das Copyright ganz einfach abzuschaffen. Einer der jungen Systemanalytiker versieht alle seine Nachrichten mit folgender Anmerkung: „Betrachten Sie alles, was ich denke, hervorbringe oder ausdrücke, als öffentlich verfügbar. Das intellektuelle Eigentum ist ein Anachronismus. Gezeichnet: Anonym.“2 Eine bewußt provozierende Einstellung, die bei den Verantwortlichen der EFF ein Lächeln hervorruft. Aber in einem Punkt stimmen sie mit ihrem jungen Kollegen überein: die gegenwärtige amerikanische Copyright-Gesetzgebung ist überholt, sie hinkt hinter dem technischen Fortschritt der Netzwerke hinterher. Wie kann man ein Gesetz rechtfertigen, das es jedermann erlaubt, eine Zeitschrift in einer Bibliothek umsonst zu lesen, den Fotokopierer in Reichweite, aber denjenigen hart bestraft, der einen einzigen Artikel aus dieser Zeitschrift auf einen Computer lädt, der mit einem Netz verbunden ist? Dennoch begnügt sich EFF in diesem hochsensiblen Bereich damit, Politiker und Öffentlichkeit auf die Dringlichkeit einer Reform derjenigen Gesetze hinzuweisen, die der Entwicklung der Netze im Wege stehen und die ein Einfallstor für polizeiliche und behördliche Einmischung bilden.

Das Problem stellt sich besonders akut für die Art von Werken, die den Internetfans am nächsten stehen: Computerprogramme. EFF gibt zu bedenken, daß Internet nicht bestehen würde, wenn nicht Tausende freiwilliger Forscher umsonst Protokolle und Programme erarbeitet und verbreitet hätten, mit deren Hilfe die Computer erst in Dialog treten können. Die Ethik von Internet gründet vor allem auf gegenseitiger Hilfe und der Teilhabe an wissenschaftlicher Information, einzig wahrer Motor des Fortschritts. Ein hermetisches Programm ist ein steriles Programm. Die Benutzer können ihre Kenntnisse nicht erweitern, indem sie dessen Funktionsweise studieren, sie können es nicht an ihre spezifischen Bedürfnisse anpassen und es nicht verbessern.

Das Fehlen einer einheitlichen Position hierzu hinderte EFF nicht daran, 1993 die Verteidigung von David La Macchia, Student am MIT, zu übernehmen, der sich unerlaubt noch nicht veröffentlichte Computerspiele und ein Programm für computergestützte Publikation (CAP, Computer Aided Publication) beschafft hatte. Im Namen des Prinzips „Programme sind frei“ lud er sie auf seinen Computer und bot an, daß jedermann sie über Internet bei ihm bekommen könne. Um die Spuren zu verwischen, inszenierte er ein kompliziertes Geflecht, das bis nach Finnland reichte.

Die Behörden wurden indessen aufmerksam, ein Bundesanwalt suchte nach einem Anklagegrund. Überraschenderweise hatte La Macchia zwar Copyrightgesetze verletzt, wofür Zivilgerichte zuständig sind, aber keine Straftat begangen, denn er hatte zu keinem Zeitpunkt versucht, sich zu bereichern. Neuerlich unterschied die Justiz de facto zwischen Piraten mit niederen Beweggründen und denjenigen, die aus Abenteuerlust oder Überzeugung handeln. Der Staat mußte sich auf eine Anklage wegen sogenannten Kabelbetrugs (wire fraud) beschränken, was für Delikte steht, die mit Hilfe eines Telefons begangen werden. Doch im Dezember 1994 wurde La Macchia freigesprochen: wenn es keine Straftat sei, Programme zugänglich zu machen, sei es der Umstand, daß Dritte die Netze benutzt haben, um sie aus der Ferne zu laden, noch weniger.

Das Urteil hat die Programmhändler schockiert, aber löst im Grunde nichts. Zumindest ist von nun an für alle Beteiligten klar, daß die Lösung nicht in Gesetzestexten gesucht werden kann, sondern in der Technik.

DIE großen Auseinandersetzungen, die EFF in den kommenden Jahren beschäftigen werden, betreffen die Technologien für die Sicherheit und Vertraulichkeit von Informationen. Dies ist das bei weitem komplexeste Thema, das Experten und Verantwortliche weltweit beunruhigt. Die politischen, technischen, kommerziellen und strategischen Implikationen sind unendlich. In gewissem Sinn ist hier die Lösung für alle anderen Probleme zu suchen.

Seit ihrer Gründung war die EFF mit dem klassischen Problem der Vertraulichkeit konfrontiert: dem Bruch des Briefgeheimnisses. In diesem Punkt hat sie nach dreijährigem Prozeß obsiegt, dank der „Affäre Steve Jackson“, benannt nach einem jungen Experten für Videospiele, der vom FBI verdächtigt wurde, ein „Handbuch für Hacker“ vertrieben zu haben. Bei seiner Verhaftung hatten die Bundesbeamten auch die Computer seines Unternehmens beschlagnahmt und seine elektronische Post gelesen. Auf Intervention der EFF hin befand ein Gericht, daß sie ihre Befugnisse überschritten hatten, denn ihr Durchsuchungsbefehl erwähnte nicht die Beschlagnahme von Korrespondenz. Nach diesem Urteilsspruch besteht für elektronische Post derselbe Status wie für solche auf Papier, sie ist als Teil des Privatlebens der Bürger geschützt.

Doch in diesem Bereich vertraut EFF am meisten auf den technischen Fortschritt, denn viele Experten glauben, daß die Verschlüsselung die ideale Lösung für das Problem des elektronischen Briefgeheimnisses bietet. Die Kryptographie hat in den letzten Jahren riesige Fortschritte erlebt. Es gibt bereits Verschlüsselungsmethoden, die sowohl für Laien leicht handhabbar als auch praktisch nicht zu knacken sind, selbst von den schnellsten Computern der National Security Agency nicht.

Verschlüsseln – mit und ohne FBI

JETZT plötzlich befanden sich die Bundesbehörden in der Defensive. Zwei Computer, irgendwo auf der Welt, kommunizieren miteinander, ohne daß jemand anderes die Nachricht entziffern könnte. Dies war in den Augen der Regierung eine Gefährdung der nationalen Sicherheit. Alle Mafiosi der Welt, alle Terroristengrupen, alle den USA feindlich gesinnten Länder – und dazu alle amerikanischen Bürger – sollten ihrer Kontrolle entzogen sein?

Die Regierung ist also zum Gegenangriff angetreten. Vor allem gegenüber der EFF will sie zwei Scharten auswetzen. Schon 1992 hatte das FBI versucht, der Informationsindustrie eine Verschlüsselungsnorm namens „Clipper“ aufzuerlegen, für die es selbst den Schlüssel besaß. Es plante, im Rahmen eines Gesetzentwurfes namens „Digital Telephony Bill“, den Einbau des „Clipperchip“, eines elektronischen Bausteins, der die Clippernorm enthält, in alle in den USA verkauften PCs und numerischen Telefone vorzuschreiben. Eine von diesen Geräten verschlüsselte Nachricht wäre dann nur für das FBI zu knacken gewesen. Aber nach zwei Jahren Auseinandersetzungen in den Kongreßausschüssen gelang es EFF, den Fall der Informationsnetze von dem des Telefons loszulösen. Der Einbau des „Clipperchip“ blieb freiwillig, dadurch wurde er kommerziell ein Reinfall.

Zum anderen versuchte die Regierung, die Verbreitung neuer Verschlüsselungsnormen zu verhindern und die unabhängige Forschung in diesem Bereich zu bremsen. Vergeblich. Das gegenwärtig am weitesten fortgeschrittene Programm, das einfach PGP (“Pretty Good Privacy“, also „ziemlich guter Schutz der Privatsphäre“) heißt, ist der Kontrolle entgangen. Der Erfinder, Philip Zimmermann, ein autodidaktischer Forscher und libertärer Aktivist, arbeitete schon daran, als er erfuhr, daß die Regierung ein Gesetz vorbereitete, das es illegal machen würde. Er legte sich also mächtig ins Zeug und lud, als er sein Werk vollendet hatte, PGP sofort auf das Internet. Mit durchschlagendem Erfolg.

Die überrumpelte Regierung konnte ihre Bürger nicht daran hindern, sich diese neue „Sprache“ anzueignen, die vom ersten Verfassungszusatz geschützt war. Dennoch fand sie einen Weg, um Philip Zimmermann und seine Nacheiferer zu beunruhigen: das Gesetz zur Kontrolle von Waffenexporten. Wegen ihres strategischen Wertes dürfen Verschlüsselungsnormen nur exportiert werden, wenn das State Department zuvor eine Genehmigung ausgestellt hat. Weil PGP kaum als Waffe bezeichnet werden konnte, machte die Regierung es per Erlaß zur „Munition“. Zimmermann hatte also illegal Munition exportiert, als er sein Programm über Internet verbreitete.

In einer Gesellschaft, die so offen ist wie die amerikanische, ist eine solch weite Auslegung von Gesetzen unrealistisch und gefährlich, da ausreichend vage, um unvorhersehbare Umstände zu produzieren. So fand sich der junge Mathematiker Daniel Bernstein in einer unglaublichen Situation wieder. Der Verschlüsselungsexperte an der Universität Berkeley wollte seine Ergebnisse mit amerikanischen Kollegen diskutieren, wie üblich über Internet. Er wurde von der NSA und dem State Department daran gehindert, die befanden, jede Debatte käme einem Export gleich. EFF ging in die Offensive und bezichtigte die Regierung vor Gericht des Bruchs der Bürgerrechte von Bernstein, dessen Freiheit des Wortes eingeschränkt worden sei. EFF beschuldigte die Regierung einer widersprüchlichen Politik, denn die Verschlüsselung würde alle Probleme ja gerade lösen. Das Programm PGP mache Betrug und Vandalismus viel schwieriger, weil es die Vertraulichkeit aller Nachrichten garantiere.3

In Verbindung mit anderen Techniken wie dem digitalen Geldüberweisungsprogramm „Digicash“, könnten finanzielle Transaktionen auf öffentlichen und offenen Netzen wie Internet anonym und völlig sicher vorgenommen werden. Das wäre der Beginn einer Lösung für die Frage des geistigen Eigentums. Einerseits könnte jede Datei, die einen Handelswert hat, markiert und gesichert auf dem „Net“ kursieren; andererseits besäße jeder Kunde eines Systems vom Typ „Digicash“ ein „virtuelles Konto“, das automatisch und anonym belastet würde, sobald eine dieser Dateien geladen wird. Große Testläufe mit fiktivem Geld werden bereits auf Internet durchgeführt.4 So kann EFF bei seiner Auseinandersetzung mit dem Staat auf die Unterstützung der großen Unternehmen rechnen, denn der Cyberspace wird möglicherweise ein weltweiter Markt.

Unterdessen wird das Programm PGP in den USA frei vertrieben, jeder Nutzer des Internet kann das Programm und das Handbuch überall umsonst und anonym laden. EFF nutzt PGP stetig und fordert seine Korrespondenten auf, dasselbe zu tun. Sie verlieh Zimmermann, der immer noch auf die offizielle Anklage wartet, ihren renommierten „Pionierpreis“.

Die Verantwortlichen von EFF wissen, daß sie sich in einen Kampf ohne Ende gestürzt haben, in dem jeder Sieg nur vorläufig sein kann – das ist die Spielregel in Demokratien. Gerade haben sie weitere Büros angemietet. Noch sagen sie nicht, wofür diese genutzt werden sollen, aber ohne Zweifel werden sie nicht lange leer stehen.

1 EFFector (on-line newsletter). Über e-mail: er6eff.org.

2 Siehe Selena 6eff.org.

3 Kürzlich wurde Tsutomu Shumomira, der dem FBI bei der Verhaftung des Hackers Kevin Mitnick geholfen hatte, gefragt, ob es ein Mittel gebe, solche Vergehen in Zukunft zu unterbinden. Er antwortete einfach: „Eine gute Verschlüsselung“. Newsweek, 24. April 1995.

4 Insbesondere auf World Wide Web, http:// www.digicash.com.

Journalist

Le Monde diplomatique vom 16.06.1995, von Yves Eudes