14.04.2000

Liebenswürdigkeiten

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Liebenswürdigkeiten

SO häufig die Presse der Entwicklungsländer vehemente Kritik am „Washington consensus“ veröffentlicht, so häufig dienen sich die amerikanischen und britischen Medien den wirtschaftswissenschaftlichen Wortführern dieses Konsenses als Plattform für gegenseitige Anwürfe an. Joseph Stiglitz etwa, bis vor kurzem Chefökonom der Weltbank (er verließ die Institution, um seine Meinung wieder frei kundtun zu können), übte wiederholt heftige Kritik an der Art und Weise, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) auf die asiatische Finanzkrise reagiert und den Übergangsprozess in Russland managt. Anders Aslund, Russland-Experte an der Carnegie Foundation for International Peace, erklärte daraufhin gegenüber The Economist: Stiglitz „hat von Tuten und Blasen keine Ahnung und posaunt jede Dummheit aus, die ihm in den Sinn kommt“.

Paul Krugman, Wirtschafts-Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), fragte sich ebenfalls in aller Öffentlichkeit, weshalb der IWF während der Krise in Asien „alle wirtschaftwissenschaftlichen Grundweisheiten über Bord warf“ und Sparmaßnahmen verordnete, die die Lage nur verschlimmern konnten. Der Chefökonom des IWF erwiderte, dass diejenigen, die glauben, eine nachgiebige Geldpolitik hätte die Leiden der betreffenden Länder gemildert, „wohl gerade eine nicht ganz legale Substanz rauchen“.

RUDIGER DORNBUSH vom MIT, dessen Büro gegenüber dem seines Kollegen Paul Krugman liegt, eröffnete von seinem Schreibtisch aus das Feuer auf Joseph Stiglitz und erklärte: „Wenn sich eine Institution schlechter Praktiken schuldig gemacht hat, dann die Weltbank.“ Dabei hatten Weltbank-Präsident James Wolfensohn und Joseph Stiglitz gerade einen „globalen Entwicklungsrahmen“ vorgestellt, der sich eines „ganzheitlichen“ Ansatzes befleißigte. Die Ankündigung dieses Projekts veranlasste den Wirtschaftswissenschaftler Jagdish Bhagwati von der Columbia University, in den Spalten der Financial Times der Frage auf den Grund zu gehen, weshalb Wolfensohn und Stiglitz bei der Fundierung ihrer Vorschläge von solch fehlerhaften Postulaten und groben Irrtümern ausgingen. Nach Meinung des Professors handelt es sich vielleicht lediglich um „krasse Ignoranz“. Tags darauf verkündete T. N. Srinivsan von der Yale University, die Ideen von Wolfensohn und Stiglitz seien „banal und strotzen vor Klischees“!

Wohlgemerkt: Die genannten Ökonomen gehören zu den einflussreichsten und geachtetsten Kapazitäten der Vereinigten Staaten und sind der Marktwirtschaft, dem Privatkapital und der Handels- und Investitionsfreiheit ausnahmslos wohlgesinnt.

M. N.

Le Monde diplomatique vom 14.04.2000, von M. N.