13.10.2000

Wege in die Privatisierung

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Wege in die Privatisierung

WAS Algerien fehlt, ist ein Wirtschaftskonzept, ein groß angelegtes Projekt, das Energien mobilisiert. Nach all den alptraumhaften Jahren brauchen wir wieder einen Traum.“ Aziz M., 45, ist Bauunternehmer, derzeit lebt er vom Zementimport. Der Regierung macht er den Vorwurf, nicht genug Initiative zu zeigen, nach seiner Meinung müssten angesichts der steigenden Rohölpreise jede Menge neuer Projekte möglich sein. „Es wäre zum Beispiel sinnvoll, bessere Eisenbahnverbindungen einzurichten. Warum baut man nicht eine Hochgeschwindigkeitsstrecke für einen TGV von Algier nach Oran oder Constantine?“ Und außerdem: „Die Islamisten sind ausgelacht worden, als sie erklärt haben, sie wollten die Sahara zum Blühen bringen – aber es gab viele, die bereit waren, an den Erfolg eines solchen Projektes zu glauben.“

Man kann aus solchen Äußerungen ablesen, auf welches Unverständnis, wenn nicht gar offene Ablehnung die Wirtschaftsplanungen der algerischen Regierung bei vielen Menschen stoßen. „Man tut so, als seien wir ein hoch entwickeltes Industrieland. Wachstumsraten, Haushaltsdefizit – das sind für mich abstrakte Begriffe. Was mich interessiert ist die Frage, ob ich einen Arbeitsplatz finde“, meint eine junge Studentin der École supérieure de banque, einer akademischen Bildungseinrichtung, die derzeit besonders hoch im Kurs steht.

In den vergangenen Jahren mussten die Algerier nicht nur lernen, mit der Gewalt zu leben, sie mussten sich auch an die Sprache der Technokraten gewöhnen. Ständig war von der Modernisierung der Wirtschaft die Rede, die sozialen Folgen wurden geflissentlich übergangen. Ohnehin wollte man sich nicht konkret festlegen. Es gibt zahlreiche Erklärungen zur Privatisierung, doch nirgendwo ist zu erfahren, wie sie im Einzelnen durchgeführt werden soll. Kaum hat ein Minister einen Zeitplan vorgestellt, melden sich andere Instanzen (der Staatspräsident, die staatliche Presseagentur) zu Wort, um die Festlegungen zu dementieren. Für viele Algerier ist das der Beweis, dass in der Führungsspitze ein Machtkampf stattfindet.

„So wie in Polen, wo die Staatsbetriebe in großem Stil und ohne jede Rücksichtnahme verkauft wurden, kann das hier nicht ablaufen“, meint ein Wirtschaftsexperte. „Das würde sofort zu sozialen Unruhen führen, zehn Mal schlimmer als am 5. Oktober 1988, als es tausend Tote gab. Wir haben hier hunderte von abgehalfterten Splittergrüppchen, die nur darauf warten, wieder aktiv zu werden und die Situation auf den Straßen anzuheizen. Und der Regierung bleibt nichts übrig, als immer weiter Geld in die Staatsbetriebe zu stecken, die im Wettbewerb gegen importierte Waren keine Chance haben.“ Einige Experten plädieren für ein Zehnjahresprogramm, in dem unterschiedliche Verfahren zur Anwendung kommen sollen.

„Es wäre vernünftig, einige der Privatisierungen über die Börse von Algier abzuwickeln, um auf diese Weise Sparguthaben zu mobilisieren und Gelder zu binden, die in der Schattenwirtschaft zirkulieren“, meint ein Bankier. „Das wäre auch das beste Mittel, den Ausverkauf der staatlichen Produktivvermögen zu verhindern.“ Nach seiner Meinung sollten diese Schritte in Zusammenarbeit mit den algerischen Banken unternommen werden, die dabei ja auch etwas lernen könnten, und außerdem würden dann „davon nicht nur die großen angelsächsischen Geschäftsbanken profitieren, deren Vertreter sich hier in Algier die Klinke in die Hand geben.“

BLEIBT die Frage, wie die Verhandlungen mit der Europäischen Union geführt werden sollen. Im Gegensatz zu den offiziellen Erklärungen hält es keiner der politischen Führer wirklich für wichtig, mit dem Europa der Fünfzehn ein Freihandelsabkommen zu schließen. Eine Position, die dadurch gestützt wird, dass Algerien der wichtigste Erdgaslieferant für das gesamte südliche Europa ist.

„Damit hat es keine Eile“ erklärt ein Hochschullehrer, der zum Beraterkreis von Präsident Bouteflika gehört. „Was hätten wir durch die Aufhebung der Zollschranken zu gewinnen? Wir sind hier weder in Marokko noch in Tunesien – Algerien kann sich Zeit lassen. Bevor wir uns auf den Freihandel einlassen und der Welthandelsorganisation beitreten, müssen wir auf jeden Fall die Privatisierungen abschließen.“

A. E.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2000, von A. E.