16.03.2001

Die kleinen Leute als Komparsen

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Die kleinen Leute als Komparsen

Von BARBARA EHRENREICH *

GEORGE W. BUSH startete seine Kampagne für eine Steuersenkung in Höhe von 1,6 Billionen Dollar mit einer kleinen, aber aufschlussreichen Medieninszenierung. Zu seiner ersten Pressekonferenz am 5. Februar hatte er drei Familien aus der Umgebung von Richmond/Virginia geladen, die hinter ihm stehend eine Art lebendes Bild abgaben: ein gezwungenes Lächeln auf dem Gesicht, ein Baby im Arm. Jede dieser Familien, erklärte der neue Präsident, stehe für eine der drei geplanten unteren Steuerklassen. Die ärmste von ihnen werde in Zukunft dank der vorgeschlagenen Steuerkürzungen 1 055 Dollar, die reichste 2 181 Dollar im Jahr zusätzlich haben. Ein Reporter stellte die Frage, warum kein Repräsentant der höchsten Steuerklasse vertreten sei. „Sie werden entschuldigen“, erwiderte der Präsident mit seinem Lausbubenlächeln, „ich repräsentiere . . . äh, mein Umzug nach Washington hat mir eine kleine Gehaltserhöhung eingebracht, und ich werde zur höchsten Steuerklasse gehören.“

Es war ein Moment von atemberaubender Ehrlichkeit, den die Zeitungen freilich nur als weiteren Beleg für den viel gerühmten „Charme“ des neuen Präsidenten registrierten. In diesem Fall jedoch sprach der Präsident einfach die Wahrheit aus: dass es in der US-amerikanischen Gesellschaft Klassen gibt und dass nunmehr unzweifelhaft die reichste am Ruder ist. Weg mit diesen Clintons, diesen Habenichtsen, die so skandalös verarmt sind, dass sie der Versuchung erliegen mussten, die Möbel aus dem Weißen Haus abzuschleppen! Jetzt haben die Reichen die Sache in der Hand, und ihre erste Amtshandlung wird sein, sich ein deftiges Zubrot zu bewilligen. Die in Washington ansässige Organisation Citizens for Tax Justice (Bürger für Steuergerechtigkeit) hat ausgerechnet, dass das Steuerprogramm der Familie Bush, die inclusive des Präsidentengehalts von 400 000 Dollar über ein Jahreseinkommen von ungefähr 2 Millionen Dollar verfügt, zusätzliche Einnahmen von 100 000 Dollar bescheren wird.

Kein Mitglied der drei Familien, die Bush als Kulisse dienten, hatte auch nur einen Satz zu sagen. Und auch künftig wird, wer nicht zu den Reichen und Mächtigen zählt, in der US-amerikanischen Inszenierung des Regierens kaum noch eine Sprechrolle zugewiesen bekommen. Solche Leute sind nach der neuesten politischen Terminologie die so genannten real people – und haben vornehmlich als feierliche Staffage zu dienen. Für manche Staatsrituale braucht man eine bewaffnete Ehrenformation, bei anderen reicht der Auftritt eines Pfarrers, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Soll eine Veranstaltung jedoch das Gefühl demokratischer Gemeinsamkeit vermitteln, dann sind ein paar kleine Leute als schmückendes Beiwerk unentbehrlich. Auch auf den Parteitagen treten immer wieder real people auf die Bühne, während hinter den Kulissen die eigentlichen Entscheidungen von Leuten getroffen werden, die gewissermaßen schon gespenstisch unreal sind.

Folglich ist es auch völlig egal, dass sich die Öffentlichkeit für Bushs Steuerkürzungen nur wenig begeistern konnte – so wenig, dass der Kandidat Bush das Thema in seinen Wahlkampfreden herunterspielen musste. Die real people sind ja lediglich für die symbolische Zustimmung zuständig. Und diese Aufgabe gewinnt in dem Maße an Bedeutung, in dem das politische Gewicht der mittleren und unteren Klassen immer weiter abnimmt. Ganz so, wie verschiedene einheimische Tierarten – der Grizzlybär, der Vielfraß oder die Klapperschlange – erst zu regionalen Symbolen gemacht werden, wenn sie vom Aussterben bedroht sind.

Wählen gehen können auch Menschen, die nicht reich sind, weshalb sie von Wahlwerbung gezielt angesprochen werden. Aber weil der einfache Bürger nicht maßgeblich zur Finanzierung der politischen Kampagnen beiträgt, interessieren sich die Parteiführer immer weniger für seine Meinungen. Die Meinungsforscherin Celinda Lake hat in einer Studie ermittelt, dass beide politischen Parteien ihre Programme heute stärker an den Ansichten ihrer reichen Wahlkampfsponsoren orientieren als an denen ihrer Wähler und einfachen Parteimitglieder. Hinzu kommt, dass die real people immer seltener zur Wahlurne gehen. Die Bevölkerung der USA besteht zu 80 Prozent aus Menschen, die weniger als 50 000 Dollar Jahreseinkommen haben, aber bei den Präsidentschaftswahlen im November 2000 kamen von dieser entschieden „realen“ Mehrheit erstmals weniger als die Hälfte der Stimmen.

Dass die real people bei politischen Diskussionen – und zunehmend auch bei der Minimalform politischer Partizipation, also beim Wählen – durch Abwesenheit glänzen, mag erklären, warum die Debatte über die Steuerpläne von George W. Bush so realitätsfern verläuft. Der Haupteinwand der Demokraten lautet, die Pläne zeugten von einer ungerechten Verteilung der Bundesmittel. So meinte etwa Tom Daschle, Vorsitzender der demokratischen Senatsminderheit: „Wenn du über 300 000 Dollar im Jahr verdienst, kannst du dir von der Steuerersparnis ein neues Luxusauto kaufen. Wenn du nur 50 000 Dollar im Jahr verdienst, reicht es nur für einen neuen Auspufftopf am Gebrauchtwagen.“ Anders gesagt: Grundsätzlich ist eine drastische Steuersenkung zu begrüßen, nur bekommen diejenigen, die noch nicht reich sind, nicht genug vom Kuchen ab.

Eine intelligente Antwort auf das Gerechtigkeitsargument der Demokraten bleiben die Republikaner schuldig. David Brooks zum Beispiel, der Herausgeber des rechten Weekly Standard, hält es für viel gerechter, das Geld „den Menschen“ zurückzugeben, als es von Washington „umverteilen“ zu lassen. „Die Menschen“, von denen Brooks hier spricht, sind freilich weder die kleinen Leute noch „das Volk“ revolutionären Angedenkens, sondern vielmehr die Minderheit der gut verdienenden, relativ viel Steuern zahlenden Individuen. Dasselbe gilt für den Satz, mit dem Bushs Wirtschaftsberater Lary Lindsey den Vorwurf der Demokraten kontert: „Ich glaube nicht, dass Neid für das amerikanische Volk große Bedeutung hat“ – als ginge es bei der Kritik an der Umverteilung zugunsten der oberen Zehntausend nur um unstatthafte Neidgefühle.

Was die Demokraten nicht sagen – und die Republikaner natürlich erst recht nicht: Es könnte ja auch einiges dafür sprechen, dass die Bürger Steuern zahlen und der Staat Steuern erhebt – die in den USA ohnehin vergleichsweise niedrig liegen. Nehmen wir einmal die 1 600 Dollar, die Bush der Normalfamilie als Steuerersparnis verspricht. Natürlich werden sie als Aufbesserung des Familieneinkommens willkommen sein, man wird damit das Kreditkartenkonto ausgleichen, vielleicht sogar einen älteren Gebrauchtwagen kaufen können. Aber eine zuverlässige Kinderbetreuung, anständige Schulen, eine gute Gesundheitsversorgung oder eine sichere und komfortable Wohnung ist weder für 1 600 Dollar noch für ein Mehrfaches dieser Summe zu haben. Genau diese Dinge aber können sich US-Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen nur mit Mühe leisten – falls sie nicht ganz auf sie verzichten müssen. Genau diese Leistungen würden in einem stärker sozialdemokratisch geprägten Gemeinwesen vom Staat erbracht oder wenigstens subventioniert. Nur die ganz Reichen – sagen wir die 5 bis 10 Prozent an der Spitze der Einkommenspyramide – können es sich leisten, Marktpreise für all diese Güter zu bezahlen. Alle anderen sind auf irgendeine Art gesellschaftlicher Leistungen angewiesen. Und die setzen voraus, dass individueller Reichtum mittels Besteuerung abgeschöpft und das Geld für die Befriedigung von Grundbedürfnissen ausgegeben wird.

Im Grunde ist es langweilig, dies eigens auszuführen, aber es ist offenbar nötig, denn mittlerweile haben beide großen politischen Parteien der USA das Konzept kollektiver Lösungen für individuelle Probleme längst über Bord geworfen. Nicht einer der führenden demokratischen Politiker hat sich zu Wort gemeldet und gesagt: „Behaltet den 1 600-Dollar-Scheck, den Menschen wird es letztlich viel besser gehen, wenn wir das Geld in öffentliche Dienstleistungen investieren!“

Als Alternative zu den geplanten Steuerkürzungen fällt den Demokraten nichts Überzeugenderes ein als die Forderung, der Staat solle die vorhandenen Überschüsse zurücklegen für eventuelle zukünftige Haushaltsdefizite. Da gehen die Republikaner viel weiter und argumentieren damit, dass die Steuersenkung das Geld „vom Tisch bringe“ und die Regierung dadurch erst gar nicht in Versuchung gerate, es auszugeben. Dabei vergessen sie geflissentlich, dass sie jetzt selber an der Regierung sind, aber die Demokraten vergessen etwas viel Wichtigeres: dass nämlich Regierungen durchaus eine positive und hilfreiche Rolle spielen können.

Wenn die Menschen aber spüren, dass eine Regierung ihnen wenig oder nichts zu bieten hat, verlieren sie natürlich das Interesse an der Politik und gehen nicht mehr zur Wahl, oder die Menschen stimmen ohne groß zu überlegen einfach für den Kandidaten, der ihnen am „nettesten“ erscheint oder von dem sie am wenigsten befürchten, dass er ihnen ihre Waffen wegnimmt. Letztes Jahr erschien das Buch „America’s Forgotten Majority“ (Amerikas vergessene Mehrheit) von Ruy Tuxiera und Joel Rogers, das in den führenden Kreisen der Demokraten viel gelesen wurde. Den Autoren zufolge werden die Demokraten, wenn sie sich in ihren traditionellen Wählerschichten, also vor allem bei den weißen Arbeitern behaupten wollen, ihnen etwas Handfestes wie etwa eine allgemeine Krankenversicherung anbieten müssen. Al Gore hat diesen Rat ignoriert, entsprechend sind weite Teile der Arbeiterklasse ins Bush-Lager abgewandert (und manche zu Ralph Nader) oder gar nicht mehr zur Wahl gegangen. Es ist eine Art Teufelskreis entstanden: Je weniger die Regierung den real people zu bieten hat, desto eher bekommen sie eine Regierung, die nur die Einkommenselite repräsentiert und bedient.

Doch ein Trost bleibt: Eine zeremonielle Rolle werden die real people immer spielen dürfen. Was auch passieren mag – ein winziges Stück politischen Einflusses wird ihnen erhalten bleiben. Selbst wenn Präsident Bush oder ein weniger „mitfühlender“ Konservativer, der nach ihm kommt, den Reichen alle Steuern erlassen oder das Wahlrecht für die Armen abschaffen sollte, eines ist sicher: Er wird ein Dutzend einfacher Menschen auftreiben müssen, die bereit sind, hinter ihm zu stehen und sich stumm grinsend anzuhören, wie er seine schöne neue Politik verkündet.

aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Amerikanische Soziologin, Autorin von „Die Angst vor dem Absturz“, München (Antje Kunstmann) 1993. Dieser Beitrag erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe.

Le Monde diplomatique vom 16.03.2001, von BARBARA EHRENREICH