15.06.2001

Auf der Suche nach Don Quixotes Grab

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Auf der Suche nach Don Quixotes Grab

NÄCHSTE Station: Hoffnung – so heißt das neue Album des Musikerrebells Manu Chao, dessen letzte CD „Clandestino“ mit drei Millionen verkauften Exemplaren zum Überraschungserfolg wurde. Sein munterer und filigraner Mix aus lässigen Latino-Schnipseln, Reggae, Raï und Independent Rock ist von bezaubernder Lässigkeit und voll subversiver Kraft. Der heute 40-Jährige ist zum wichtigen Exportprodukt der französischen Kulturindustrie geworden. Dabei singt er meist auf Spanisch. Der in Paris aufgewachsene Sohn von Exilspaniern ist immer unterwegs und überall zu Haus. Von den Globalisierungsgegnern will er sich nicht vereinnahmen lassen. Lieber setzt er sich für lokale politische Belange ein.  Von PAUL MOREIRA *

* Journalist bei Canal plus, Paris.

Der Raum im Jugend- und Kulturzentrum des Pariser Vorortes Palaiseau war eiskalt und viel zu groß für die wenigen Leute. Dort stand, an einem Aprilabend des Jahres 1986, Manu Chao mit der Band Los Carayos auf der Bühne. Es war ein politisches Konzert, ein unbezahlter Solidaritätsauftritt für jugendliche Strafgefangene. Die veraltete Verstärkeranlage hatte einen sonderbaren Defekt: Als Hintergrundgeräusch übertrug sie die Tonspur einer Fernsehserie, die gerade in den verschlafenen Einfamilienhäusern der Nachbarschaft lief. Los Carayos spielten trotzdem, und sie gaben ihr Bestes.

An jenem Abend sang Manu Chao vor sage und schreibe 43 Zuschauern. Schon damals war er von derselben geheimnisvollen Energie getrieben, mit der er heute noch hunderttausende Fans auf der ganzen Welt ansteckt. Die Medien zeigten damals wenig Interesse für diesen Hardliner des Alternativrocks. Als das Konzert vorbei war, stand er schüchtern und trotzig am Tresen, verzog keine Miene wegen des spärlichen Publikums und sagte, nein, er habe keine Sekunde daran gedacht, wegen der schlechten technischen Bedingungen lieber doch nicht zu spielen: „Na hör mal, die Leute hier sind seit zwei Monaten am Vorbereiten. Wir lassen sie doch nicht einfach hängen, bloß weil da Supercopter über unsere Boxen läuft! Es hat doch Spaß gemacht. Und wenn die Jungs dann auch noch was davon haben . . . Hoffentlich bleibt der Lieferwagen mit unserem ganzen Kram nicht irgendwo vor Paris auf der Straße liegen.“

So hatte ich Manu Chao im Kopf behalten: randständig und solidarisch, schlitzohrig und dennoch verantwortungsbewusst, großzügig, aber eigentlich abgebrannt.

Manu Chao ist in Sèvres aufgewachsen, in der Nachbarschaft der Renault-Werke. Seine Kumpels, fußballfanatische Hitzköpfe, kamen aus portugiesischen und armenischen Arbeiterfamilien. Der Vater war ein Linker, Journalist und Schriftsteller, Galicier und Musiker, und im Wohnzimmer hing über dem Klavier ein Che-Guevara-Porträt. Die Jungs von der Straße hatten Manu im Verdacht, ein Überläufer zu sein, weshalb er ständig Mutproben bestehen und bei allen möglichen krummen Dingern mitmachen musste. Seine Jugendzeit war dem Rock’n’Roll der Fünfzigerjahre gewidmet – Chuck Berry, Gene Vincent usw. Die Szene funktionierte damals wie eine Sekte: um dazuzugehören, musste man eingeschworener Kämpfer sein und immer bereit, die Nachbarclique zu bekämpfen.

Nach und nach entdeckte Manu seine iberischen Wurzeln und mischte ein paar Flamenco-Rhythmen ins Hillbilly-Repertoire. Zunächst gründete er die Hot Pants, dann Los Carayos und schließlich Mano Negra, jene legendäre französische Independent-Rockband, in deren Musik Latino, Rock, Reggae und Raï zusammenflossen. Die Band funktionierte wie eine anarchistische Kommune im Spanien des Jahres 1936, oder wie ein Kibbuz der ersten Stunde: Ein Experimentierlabor für gleichberechtigte Individualisten, wo alle Gemütslagen und Vorlieben zum Ausdruck gebracht werden sollten.

Dann kam der Erfolg und mit ihm das Geld – und die ersten Streitigkeiten. 1994, nach einem zauberischen, sechs Jahre währenden Erfolgskurs, brach Mano Negra auseinander. Manu Chao war am Ende. Er ging auf Reisen, um wieder zu sich zu kommen: Lateinamerika, Spanien, schließlich Afrika. Vier Trauerjahre war er unterwegs. Er zog mit einem Mini-Studio durch die Welt und spielte ein paar Titel ein. Das Album, das daraus entstand, wurde zu einer Art Resümee, intim und melancholisch. Es ist das Gegenteil eines genormten Marketingprodukts für den Dudelfunk. „Clandestino“ erschien 1998. Ganz ohne Werbung wurde die Platte langsam zu einem Riesenerfolg. Bis heute ist sie knapp drei Millionen Mal verkauft worden.

Ich bin in einem Café des Pariser Ostens mit Manu verabredet, in der Nähe der Place des Fêtes. Eine arme Gegend, ein „Problemviertel“, wie man im Fernsehen sagen würde. Hier wohnt er, wenn er nach Paris kommt, bei seinem Bruder. Ein ständiges Kommen und Gehen von Jugendlichen in Trainingsanzügen, die in den umliegenden Hochhäusern leben. Sie hängen mit konspirativem Gesichtsausdruck an ihren Handys und setzen sich an die hinteren Tische, wo sie lautstark Karten spielen. Ich warte auf einen Millionär. Einen Mann, der zehnmal so viele CDs verkauft hat wie die vom Marketing hochgepuschten Sternchen, die uns immer nur für die Dauer einer Saison in den Ohren liegen. Wie hat er wohl den Ruhm verkraftet? Ist er sich selbst treu geblieben? In Paris hält er sich auf, um letzte Hand an sein zweites Album zu legen, das im Juni herauskommen soll: „Próxima estación: esperanza“ (Nächste Station: Hoffnung).

Mit seinen vierzig Jahren sieht er immer noch wie ein Herumtreiber aus, bescheiden und aufrecht, mit jenem Feuer in den Augen, das seine unbeirrbare Haltung verrät. Vielleicht ist sein Lächeln ein wenig breiter geworden, vielleicht hat er etwas mehr Vertrauen gefasst. Er begrüßt die junge Barkeeperin mit einem Küsschen, und sie erzählt ihm von ihren Sorgen: Letzte Woche hat jemand durchs Kneipenfenster geschossen. Er hört ihr lange zu, mit ernstem Gesicht. „Das ist ja fast wie in Rio“, sagt er, „wir haben hier schon gespielt, vor dreißig oder vierzig Leuten, aber wegen der Bandenkriege in den umliegenden Vierteln wird der Laden wohl dichtmachen müssen. Eigentlich schade, dass Plätze wie dieser nicht überleben können.“

Manu redet wie einer aus dem Viertel. In zwei Tagen fährt er wieder nach Spanien, er ist eigentlich nie in Frankreich, aber zu Hause ist er überall. In jedem Land, durch das er kommt, scheint ihm ein kleines Kunststück zu gelingen: In nur wenigen Tagen hat er sich in einen Typen aus dem Viertel verwandelt. Seine Methode, auf der richtigen Seite zu bleiben. „Das ist ganz leicht. Es gibt in solchen Kneipen einfach mehr zu lachen als bei den Partys von den kaputten Typen in Beverly Hills. Jetzt, wo ich beides kenne, kann ich das beurteilen.“

Aus diesen zwielichtigen Orten, den einfachen Cafés und Spelunken, den Eckkneipen, wo Arbeitermilieu und kleinkriminelle Unterschicht aufeinander treffen und sich wohl fühlen, schöpft er seine Inspiration. Er macht es wie die einfachen Leute. Hier fällt er niemandem auf, er ist ein junger Mann wie alle anderen, der vor einem Glas Weißwein sitzt. „Manchmal spiele ich in Barcelona auf der Straße. Ich übe gern auf der Straße. Die Leute sagen: Du spielst gut, fast wie Manu Chao! Es ist wichtig, anonym zu bleiben. Einfach da zu sein, in einer Bar rumzuhängen, sich die Geschichten der Leute anzuhören. Wie viele Lieder sind mir in solchen Kneipen eingefallen. Ich habe den Leuten zugehört, die ein bisschen zu viel getrunken haben und ihr Herz ausschütten!“

Wie ein Schmetterlingsfänger ist er durch ganz Lateinamerika getourt und hat wunderbare Fundstücke, wahre Raritäten mitgebracht, die er zu seiner Musik gemacht hat. So ist dieser Nomade ohne Fahrtenbuch, dieser ewige Kiezmusiker, zum größten Troubadour einer anderen Globalisierung geworden. Eine Alternative zum Presslufthammertakt der Musik, die uns unaufhörlich aus den USA überschwemmt. Während der Prager Proteste gegen die Tagung des Internationalen Währungsfonds im September 2000 wurden seine Lieder zu den Hymnen der jungen Globalisierungsgegner. In Mexiko-Stadt lockte sein Gratiskonzert im letzten Jahr 150 000 Leute auf den Zócalo. In Argentinien hat seine außerordentliche Popularität auch für Verstimmungen gesorgt: „Für wen hält sich dieser Franzose mit dem Straßenjungsgehabe und seinen sechzehn Kreditkarten eigentlich, dass er herkommt und uns hier Moralpredigten hält?“, schimpfte der argentinische Sänger Fito Paez, der immerhin selbst zu den politisch engagierten Musikern gehört.

Doch Manu Chao taugt nicht als Anwärter auf das Reiterstandbild des Kommandanten. Für diejenigen, die ihm am liebsten die aufreibende Verantwortung auferlegen würden, ein musikalischer José Bové zu werden, ein vollzeitbeschäftigtes Sprachrohr der Bewegung, das über seinen Tagesablauf nicht mehr selbst bestimmen kann, hat er eine höflich reservierte, aber ausgesprochen deutliche Absage parat. Er beansprucht für sich das Recht auf Inkonsequenz: „Die Leute drängen ständig, dass ich politisch Position beziehe. Ich sage ihnen: Ich bin auch nicht anders als Ihr, verloren in diesem Jahrhundert und immer auf der Suche nach dem Grab von Don Quixote. Hier und da sehe ich ein kleines Licht, einen neuralgischen Punkt, Leute, die Widerstand leisten, wie in Chiapas. Ich spreche darüber, ich singe auch davon, das heißt aber noch lange nicht, dass ich mich völlig vereinnahmen lasse.“

Manu ist kein textlastiger Sänger, kein Mensch, der gern viele Worte macht. Deshalb ist es sinnlos, auf seiner neuen Platte nach einem politischen Manifest zu suchen. Sein Engagement drückt sich weniger in Worten als in Taten aus. „Wenn mich einer fragt, wie man eine Revolution macht, dann sage ich ihm: Bringe erst mal deine Angelegenheiten in Ordnung, Mann. Bist du sicher, dass du deine Frau gut behandelst? Spare dir die großen Reden, die gehen sowieso meistens schlecht aus, und fange lieber damit an, dein Viertel zu revolutionieren, mit ganz konkreten Projekten, die du auch umsetzen kannst.“

Auf seiner letzten Tournee durch Lateinamerika hat Manu Chao zu einer künstlerischen Agit-Prop-Methode gegriffen. In jeder Stadt, durch die er kam, hat er sich einem lokalen Konflikt, einer neuartigen Bewegung zugewandt. Dort hielt er dann seine Pressekonferenz ab.

„Die Journalisten kommen zwar, um mich zu interviewen, aber zuerst werden sie von den lokalen Aktivisten ein wenig eingestimmt. Und wie es der Zufall wollte, auf jeder Station meiner Reise gab es so einen Konflikt.“ Nach Bolivien kam er just während der Proteste gegen die Anhebung des Wasserpreises. Im ganzen Land standen Barrikaden. In Mexiko spielte er während der großen Studentenstreiks an der Staatlichen Universität UNAM. In Uruguay hielt er seine Pressekonferenz am Cabo Polonio ab, einem unberührten Fleckchen Natur, das einem großen Bauprojekt weichen soll und wo Ökofreaks sich in Hütten verschanzt hatten, um die Bulldozer aufzuhalten. In Chiapas trifft er in La Realidad auf Journalisten, denen Marcos soeben erzählt hat, dass er bis in die mexikanische Hauptstadt marschieren will.

„Es war seltsam“, erinnert er sich. „Wir saßen im Dunkeln, in einer Hütte, ein Mann kam herein, um uns mit Marcos zusammenzubringen. Er erwartete uns mit den anderen zapatistischen Kommandanten. Marcos sagte: Ich bin auf der Gitarre eine absolute Null, aber ihr könnt ja mit Tacho um die Wette spielen. Und dann haben wir uns die ganze Nacht über ein Liederduell nach dem anderen geliefert.“

Dieser schillernde und draufgängerische Rebell, der häufiger Spanisch als Französisch singt – seine neue Platte enthält neun Songs auf Spanisch, vier auf Englisch, drei auf Portugiesisch, einen auf Arabisch und einen auf Französisch – ist paradoxerweise auch eines der wichtigsten Exportprodukte der französischen Kulturindustrie. Ein Produkt, das von einem multinationalen Konzern vertrieben wird, einem Moloch mit eigenem Marketingapparat. Wie lebt es sich als Rebell in der Verpackung eines Produkts? „Du spürst sehr schnell, dass der Marketingtyp froh ist, wenn du ihm vorschlägst, statt Promotion Agitation zu machen. Er ist froh, aus seinem Werbekram rauszukommen und den Dingen, die er tut, einen anderen Sinn zu geben. In den Konzernen wimmelt es von normalen Leuten, die von etwas anderem träumen, als Seife zu verkaufen. In Spanien habe ich die Promotion für ,Clandestino‘ rund um eine Veranstaltung aufgezogen, die ich in Santiago de Compostela organisiert hatte: Der ‚Jahrmarkt der Lügen‘, ein Zusammentreffen zwischen Repentistas-Brasilianern und Regueifeiro-Galiciern, Improvisationspoeten, die über verbale Duelle Konflikte austragen. Das ist schön, kostet nichts und ist vergänglich, also das genaue Gegenteil von Kommerz. Ja, und der Typ von der Plattenfirma war glücklich, mir bei der Organisation helfen zu können. Es gibt also noch Hoffnung.“ Geht es nach Manu, gibt es sie gleich an der nächsten Station.

dt. Miriam Lang

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von PAUL MOREIRA