12.10.2001

Die Schulden des Südens

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Die Schulden des Südens

Von SASKIA SASSEN *

Die amerikanische Regierung hat sich dafür entschieden, in den Krieg zu ziehen. Darin zeigt sich, wie wenig unser politisches Führungspersonal begriffen hat, was die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon wirklich bedeuten. Diese Angriffe waren nur die Spitze eines riesigen Eisbergs, der aus Leid, Elend und Tod besteht. Sie verweisen auf die Kriege, die anderswo auf der Welt Millionen von Menschen das Leben kosten. Die mächtigsten Angehörigen unserer derzeitigen Regierung sind tief geprägt von der Ära des Kalten Krieges. Sie betrachten Ereignisse wie die jüngsten Anschläge ausschließlich aus dem Blickwinkel der militärischen Logik. Offensichtlich fällt es ihnen sehr schwer, zwischen der sozialen und wirtschaftlichen Verelendung der südlichen Hemisphäre und diesen kriegsähnlichen Taten einen Zusammenhang zu sehen. Und sie verstehen offensichtlich auch nicht, dass das Verhalten von Ländern wie den Vereinigten Staaten viel dazu beigetragen haben könnte, dass das Leiden und die Wut auf der Südhalbkugel im Laufe der Zeit neue Dimensionen angenommen haben.

Terrorismus ist ein außergewöhnliches und maßloses Unterfangen. Dass Menschen diesen Weg beschreiten, lässt sich allein mit sozialen und ökonomischen Elendsverhältnissen nicht erklären. Es muss noch etwas anderes, etwas sehr Spezifisches hinzukommen. Doch Elendsverhältnisse sind nun einmal der Wurzelgrund, aus dem so extreme Reaktionen erwachsen können wie der illegale Menschenhandel oder auch die Rekrutierung junger Leute für den Terrorismus. Heute gibt es Angehörige der muslimischen Welt, für die der überkommene Kampf gegen den Westen das entscheidende Motiv ist, das ihnen den letzten, spezifischen Anstoß zu terroristischen Aktionen gibt. Doch jene besondere Zutat, die zum Terror führt, kann auch anders aussehen. Im Übrigen ist Terrorismus auch nicht immer so zielgerichtet wie in den Fällen, die wir jetzt erlebt haben. So war zum Beispiel die Gewalt bewaffneter Gangs nach dem Ende des Krieges in Bosnien politisch richtungslos. Die jungen Männer, die sich diesen Banden anschlossen, hatten keine Jobs und keine Hoffnung. Die Fortsetzung des Krieges kam ihnen als die einzige – und daher aufregendste – Option vor, die sie besaßen. Ähnliches gilt für einige der Gangs in den zerrütteten Innenstädten der Vereinigten Staaten. Dass Armut und Ungleichheit stetig anwachsen, dass die Verschuldung der Staaten zunimmt, so dass sie immer weniger Mittel für Entwicklungsprogramme zur Verfügung haben – das alles schafft nach meiner Einschätzung die Bedingungen, unter denen Wut und Hoffnungslosigkeit gedeihen.

Die Attentate vom 11. September hätten ein Weckruf sein können. Sie hätten unsere Politiker und Wirtschaftsführer dazu veranlassen sollen, sich genauer zu überlegen, wie wir selbst dazu beitragen, dass sich auf der Südhalbkugel tiefe Resignation und wilder Zorn ausbreiten. Sie hätten uns verstehen helfen können, warum sich die Menschen in diesen Weltregionen als Opfer bitterer Ungerechtigkeit empfinden.

Die Angriffe auf New York und Washington bedeuten für die Weltmacht Amerika ein Ereignis von ungeheuer erschütternder Wirkung – sowohl hinsichtlich seiner „Unvergleichlichkeit“ wie auch im Hinblick auf das Ausmaß des Schadens, den die Anschläge angerichtet haben. Man hätte erwarten können, dass diese gewaltigen Explosionen zu einem gewissen Grade auch die führenden Politiker und Kommentatoren der Vereinigten Staaten erschüttern, ihre vertraute Sicht der Dinge ins Wanken bringen. Sie hätten ein wenig ins Grübeln kommen und sich fragen können, ob sich nicht da draußen in der weiten Welt Entwicklungen abspielen, über die sie einfach noch nicht nachgedacht haben.

Aber nichts davon ist geschehen. Im Gegenteil, der 11. September hat lediglich zu einer weiteren Verengung des amerikanischen Blickwinkels geführt. In den ersten Tagen nach den Attentaten war von nichts anderem die Rede als von einem „Angriff auf unseren Way of Life“ und von „Missgunst angesichts unseres Wohlstands und unseres Friedens“ – als ob es in den Vereinigten Staaten nicht 50 Millionen Arme gäbe, als hätten wir nicht eine der höchsten Mordraten der ganzen Welt. Das Problem sei der Neid des Südens auf unseren Lebensstil, so hören wir. Fast das gesamte Amerika schien sich in dieser Deutung der Ereignisse einig zu sein. Kein Mitglied unserer politischen Führungsriege erwähnte auch nur die Möglichkeit, dass viele Menschen auf der Südhalbkugel das tief sitzende Gefühl haben, unter ungerechten Verhältnissen zu leiden, und dass dieses Gefühl womöglich mit Neid überhaupt nichts zu tun hat. Niemand sagte, dass diese Sicht der Dinge in ihrer extremsten und bösartigsten Form zum Terrorismus führen kann – und dass man sie deshalb nicht einfach ignorieren darf.

Dass es gerade unser Way of Life ist, der auf der Südhalbkugel zu mehr Hunger führt, zu Entwaldung und Verschuldung beiträgt – dieser Gedanke kommt innerhalb des politischen Diskurses, wie ihn die US-Regierung anstößt, nicht einmal als entfernte Möglichkeit vor. Und erst recht nicht der Gedanke, dass sich die Erbitterung nicht gegen unseren Way of Life, sondern gegen die mächtigen Unternehmen und Regierungen des globalen Nordens richten könnte.

Die Folge der vielen gedanklichen Defizite unserer Regierung ist der Irrglaube, man müsse auf das Geschehene mit Krieg reagieren. Auch über diese verengte und gefährliche Gedankenführung kann man nur staunen. Man sollte meinen, Vietnam habe uns alle gelehrt, dass es Kriege gibt, die selbst die mächtigsten Staaten mit all ihren Kampfflugzeugen und Panzern nicht gewinnen können. Doch offensichtlich hat sich diese Einsicht nicht durchgesetzt. Dabei wird Krieg in der derzeitigen Situation überhaupt keine Lösungen bringen, sondern die explosive Lage nur weiter verschärfen.

Die Welt ist im Laufe der vergangenen Jahrzehnte in immer größere gegenseitige Abhängigkeit geraten – und zwar nicht zum geringsten Teil durch amerikanisches Zutun. Doch das hat eben auch dazu geführt, dass Bomben bastelnde Terroristen heute auf denselben Flugrouten reisen können wie die international tätige Business-Class. Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika Krieg führen, ob gegen Afghanistan oder wen auch immer, kann das zu noch sehr viel mehr terroristischen Anschlägen auf amerikanischem Boden führen.

Geld ist eine universelle Sprache

VERKEHRSFLUGZEUGE als Geschosse zu verwenden, das ist wahrlich Terrorismus in gigantischer Dimension. Aber es gibt auch noch all die Instrumente des Armeleuteterrorismus, von selbst gemachten biologischen Waffen bis zur im Heimwerkerstil zusammengebastelten Atombombe. Die Existenz dieser Gefahr wird dazu zwingen, das Ausmaß der Überwachungsmaßnahmen innerhalb der Vereinigten Staaten selbst zu erhöhen. Die amerikanische Bundespolizei FBI wird – zu Lasten der bürgerlichen Freiheitsrechte – größere Vollmachten erhalten. Bereits jetzt soll das Gesetz zur Regelung von Spionage, das der amerikanische Kongress eigentlich mildern wollte, weiter verschärft werden. Und schon liegt auch der Vorschlag auf dem Tisch, die Vorschrift aufzuheben, die es der CIA bislang verboten hat, ausländische Staatsmänner zu ermorden. All dies schafft einen fruchtbaren Boden für staatlichen Protofaschismus. Im schlimmsten denkbaren Fall werden wir also einerseits mehr Menschen innerhalb der Vereinigten Staaten zu terroristischen Handlungen mobilisieren, während sich andererseits das amerikanische Regierungssystem in Richtung Faschismus bewegt.

Gibt es Alternativen zum Krieg? Natürlich müssen wir die schrecklichen Terroranschläge auf New York und Washington sehr ernst nehmen. Aber das heißt nicht notwendigerweise, dass Krieg die effektivste Reaktion darstellt. Nicht nur Bomben, auch Geld ist eine universelle Sprache. Womöglich ließe sich der Terrorismus tatsächlich wirksamer bekämpfen, wenn wir Golddollarstücke über Afghanistan abwürfen.

Zunehmend missfällt jungen Leuten in den Vereinigten Staaten das Szenario eskalierender Gewalt innerhalb ihres eigenen Landes. Schon lassen sich winzige, vorläufig eher rudimentäre und unartikulierte Anzeichen dafür erkennen, dass sich eine Bewegung gegen den Krieg herausbilden könnte. In New York und in anderen Städten der USA haben bereits etliche Mahnwachen gegen den bevorstehenden Krieg stattgefunden. In Radiosendungen erklären junge Anrufer mit den verschiedensten politischen Orientierungen übereinstimmend, dass sie ein „gutes Leben“ führen wollen und Angst davor haben, dass Krieg nur mehr Terrorismus in den Vereinigten Staaten zur Folge haben könnte. Im öffentlichen Raum werden diese Stimmen derzeit zwar noch von den patriotischen Stimmen überdröhnt und von der offiziellen Bekundung: „Sie werden keinen Erfolg damit haben, unseren Way of Life anzugreifen.“ Doch die Stimmen gegen den Krieg könnten lauter werden. An den improvisierten Gedenkstätten für die Opfer des Terrorangriffs, die auf den Plätzen und vor den Feuerwachen von New York errichtet worden sind, haben die Menschen Blumen niedergelegt. Aber hier kann man auch tausende von kurzen Botschaften oder Graffiti lesen – und fast alle richten sich gegen den Krieg. Ohnehin ist die patriotische Phrasendrescherei oft nicht mehr als ein Ausdruck von Verwirrung und Hilflosigkeit. Viele reden nur deshalb so daher, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Solidarität mit all den unschuldig Ermordeten anders zum Ausdruck bringen könnten.

Es wird wichtig sein, die vorläufig noch fragilen Ansätze zu einer neuen Antikriegsbewegung zu stützen und zu stärken. Doch daneben stehen die Vereinigten Staaten und alle anderen reichen Länder vor einer weiteren großen Aufgabe. Denn langfristig werden wir die Lage überhaupt nur dann wieder in den Griff bekommen, wenn wir die großen Zusammenhänge der Ungerechtigkeit begreifen. Wir müssen verstehen lernen, was die Gefühle produziert, die in ihrer extremsten und verzerrtesten Form eine wachsende Zahl von Menschen dazu bringen, Terroristen zu werden.

Ein entscheidender Faktor ist hier die Tatsache, dass immer mehr Staaten in einer Schuldenfalle sitzen, die sie handlungsunfähig macht. Davon betroffen sind die ärmsten Länder, in zunehmendem Maße aber auch solche mit gehobenem Durchschnittseinkommen. Sie sitzen in einer Schuldenfalle, die ihre Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Das bedeutet unter anderem die Kürzung der Budgets für Entwicklung und für die Bedürfnisse der einfachen Leute: für Ernährung und Wohnungsbau, für Ausbildung und Krankenversorgung. Viele Länder sind seit langem verschuldet, und Staatsverschuldung ist auch in reichen Staaten kein unbekanntes Phänomen. Doch hat sie in den Neunzigerjahren des abgelaufenen Jahrhunderts eine ganz neue Qualität angenommen: Die Verschuldung hat sich zu einem Strukturproblem entwickelt. Die Wurzeln dieses Problems liegen nicht nur in der Korruption, die in den Ländern des Südens herrscht, und auch nicht allein in einer schlecht durchdachten Wirtschaftspolitik. Schuld an der Schuldenkrise ist vielmehr auch das globale Finanzsystem selbst, innerhalb dessen die Schulden heute zum größten Teil abgewickelt werden. Genau hier liegt eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass die Armut zunimmt und die Verschuldung vieler Länder steigt – und dass es ihnen strukturell unmöglich ist, aus der Schuldenfalle wieder herauszukommen. Aber an diesem Zustand können die Vereinigten Staaten und die anderen reichen Länder der Welt etwas ändern. Das Schuldenproblem ist viel dramatischer, als die meisten Menschen auf der Nordhalbkugel wahrhaben wollen. Denn wir starren immer nur auf die Höhe der Schulden, die in der Tat nur einen winzigen Bruchteil des globalen Kapitalmarktes ausmachen. Es gibt aber mindestens zwei ganz pragmatische, utilitaristische Gründe, weshalb man sich in den reichen Länder Gedanken machen sollte. Denn da es hier nicht bloß um irgendwelche verschuldete Unternehmen geht, sondern um ganze Staaten und Gesellschaften, sitzen die reichen Länder mit in der Falle, weil sie die indirekten Folgen zu spüren bekommen, als da sind: illegale Migration, Drogen- und Waffenhandel, die Rückkehr der Seuchen und die weitere Zerstörung ohnehin schon höchst fragiler Ökosysteme.

Heute gelten etwa fünfzig Staaten als überschuldet. Sie sind längst nicht mehr imstande, ihre Situation aus eigener Kraft zu verbessern. In diesen Ländern geht es heute nicht mehr lediglich um Schuldentilgung. Damit diese Länder wieder Tritt fassen können, müssen völlig neue strukturelle Bedingungen geschaffen werden. Das aber erfordert grundlegende Innovationen.

(Aber wir wissen heute, dass die bisher unternommenen Schritte zur Behebung der Schuldenkrise auf der Südhalbkugel das Problem nicht beheben werden. Selbst die vollständige Entschuldung würde die betroffenen Länder nicht auf einen erfolgreichen Entwicklungspfad setzen. Denn auch wenn der Feldzug für die Streichung aller Schulden der armen Länder Erfolg hätte – das Dilemma, das zu diesen Schulden geführt hat, wäre damit nicht gelöst. Mittlerweile liegen genug Beweise dafür vor, dass wir es mit einer strukturell neuen Lage zu tun haben, die ihre Ursache in einer Kombination von Faktoren hat. Zu ihnen gehören die dramatischen Veränderungen des weltweiten Kapitalmarktes und die so genannte Liberalisierung, die mit der Globalisierung einhergeht. In den Neunzigerjahren haben sich zahlreiche zuvor finanziell gesunde Länder tief verschuldet. Zudem haben sich die meisten der Staaten, die in den Achtzigerjahren riesige Schulden gemacht hatten, im gleichen Zeitraum nicht wieder erholt. Im Laufe dieser zwei Jahrzehnte sind viele innovative Maßnahmen ergriffen worden. Daran beteiligt waren vor allem der Internationale Währungsfonds und die Weltbank mit ihren Programmen und Krediten zur Strukturanpassung. Die Strukturanpassung wurde zum neuen Grundprinzip von IWF und Weltbank, weil sie als viel versprechendes Mittel galt, zugleich langfristiges Wachstum und Verantwortungsbewusstsein auf Seiten der Regierungen sicherzustellen. Das Ziel dieser Maßnahmen bestand und besteht vor allem darin, Staaten „wettbewerbsfähiger“ zu machen. Das klingt gut. Aber es bedeutet üblicherweise scharfe Einschnitte in sozialpolitische Programme aller Art – und das in Ländern, in denen Qualität und Umfang dieser Programme auch zuvor schon ungenügend waren.)

Die meisten dieser Länder werden ihre Schulden unter den derzeitigen Bedingungen nicht in vollem Umfang begleichen können. Dafür sprechen unter anderem die aktuelle Struktur dieser Schulden, die Schwierigkeit, sie zu bedienen, und die Belastung, die sie für die betroffenen Volkswirtschaften darstellen. Das Verhältnis von Schulden und Bruttosozialprodukt (BSP) in vielen der am höchsten verschuldeten Staaten ist so ungünstig, dass es einer nachhaltigen Entwicklung im Wege steht. Es ist eine wenig bekannte oder gern übersehene Tatsache, dass viele Länder heute viel extremer verschuldet sind als die lateinamerikanischen Staaten während der großen Schuldenkrise der Achtzigerjahre – und deren Schuldenlast galt damals allenthalben als untragbar. Besonders ungünstig ist die Relation zwischen Verschuldung und BSP in den Staaten Afrikas, wo die Schulden im Durchschnitt 123 Prozent des BSP ausmachen. Hingegen belaufen sie sich in Lateinamerika im Durchschnitt auf 42 und in Asien auf 28 Prozent. Der Internationale Währungsfonds verlangt von den am höchsten verschuldeten Ländern, dass sie bis zu einem Viertel ihrer Exporterlöse aufbringen, um ihre Schulden zu begleichen. Dazu ein historischer Vergleich: Bereits 1953 erließen die westlichen Allierten der Bundesrepublik Deutschland, also dem ehemaligen Gegner, 80 Prozent ihrer Kriegsschulden und begnügten sich mit einem Schuldendienst in Höhe von 3 bis 5 Prozent der deutschen Exporterlöse. Ähnliche Konditionen gelten heute für die ehemals kommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa.

Was können wir tun, um die hoch verschuldeten Länder aus der Schuldenfalle zu befreien? Arme Länder sind darauf angewiesen, Güter zu importieren. Und der Westen lässt sich dafür nur in Dollar oder in anderen harten Währungen bezahlen. Auf diese Weise reproduziert sich die Schuldenfalle geradezu zwangsläufig. Eine der wenigen Möglichkeiten, das Problem zu neutralisieren, könnte darin bestehen, die Schuldnerstaaten in ihren eigenen Währungen bezahlen zu lassen. Das würde sie in die Lage versetzen, Güter einzuführen, die sie für ihre Entwicklung benötigen, was wiederum – und das ist ganz wichtig – auch ihre Währungen stabilisieren könnte. Aber dies wäre eindeutig nur das Best-Case-Szenario.

Nur wenige arme Länder sind in der Lage, Handelsbilanzdefizite zu vermeiden. Unter 93 Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommensniveau wiesen im vergangenen Jahr nur 11 Handelsbilanzüberschüsse aus. Solche Länder würden gern mehr exportieren, wie etwa die jüngst erfolgte Gründung einer neuen afrikanischen Handelsversicherung beweist, die den Handel mit und innerhalb von Afrika fördern soll. Solche zielgerichteten Anstrengungen sind viel versprechend. Die meisten Länder auf der Südhalbkugel sind darauf angewiesen, Öl, Nahrungsmittel und Industrieprodukte zu importieren. Sie benötigen dafür Kredite, aber wenn sie erst einmal verschuldet sind, gehen die Belastungen für Zins und Tilgung rasant in die Höhe, was wahrscheinlich eine Abwertung ihrer nationalen Währung zur Folge hat. Da diese Länder ihre Kredite in den internationalen Leitwährungen aufnehmen müssen, werden sie mit Sicherheit in der Schuldenkrise landen. Sie sind in einer völlig anderen Position als die reichen Länder. Zwar weisen etwa auch die Vereinigten Staaten ein Handelsbilanzdefizit von 300 Milliarden Dollar auf, aber die USA haben keinerlei Mühe, Kredite zu günstigen Konditionen zu erhalten. Dagegen ist es für ausländische Verleiher ein riskantes Unterfangen, Kredite in den Landeswährungen wenig entwickelter Staaten zu gewähren. Deshalb verlangen diese Geldgeber von Entwicklungsländern viel höhere Zinsen. Für arme Staaten ist genau dies der Weg ins Desaster.

Nötig ist deshalb gerade kein globaler Geldverleiher als letzte Instanz, der reichen Investoren notfalls aus der Patsche hilft. Nötig ist vielmehr ein Kreditgeber der ersten Instanz, der den armen Ländern der Südhalbkugel hilft, in ihrer eigenen Landeswährung all die Güter einzuführen, die ihrer Entwicklung dienen. Der Sinn einer solchen Einrichtung bestünde darin, die Abhängigkeit der Regierungen armer Staaten von privaten Kreditgebern zu verringern, die nur harte Währungen akzeptieren und hohe Zinsen kassieren.

Die Welt rückt immer näher zusammen, ihre Teile sind heute enger miteinander verbunden als je zuvor. Das hat alten Missverhältnissen eine neue Bedeutung verliehen. Und es hat neue Asymmetrien geschaffen. Steigende Verschuldung, Armut und Seuchen auf der Südhalbkugel – das alles greift inzwischen auch auf die reichen Staaten des Nordens über. Heute können wir es uns nicht mehr leisten, wie in der Vergangenheit den vielfältigen Formen des Elends den Rücken zuzukehren. Es mag uns schwer fallen, diese Probleme aus humanitären Gründen ernst zu nehmen. Doch selbst wo es an Altruismus mangelt, müssten handfeste Eigeninteressen als Motivation ausreichen. Unsere Regierung hat die Botschaft der Armut und der Hoffnungslosigkeit bisher nicht verstanden. Doch jetzt wurden zwei unserer eigenen Zivilflugzeuge dazu benutzt, zwei hochkarätige Symbole unserer militärischen und wirtschaftlichen Macht zu zerstören und tausende von Menschen zu töten. Sollte dieses Ereignis nicht endlich den fälligen Erkenntnisprozess in Gang bringen?

aus dem Amerik. von Tobias Dürr

 * Soziologin an der Chicago University.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001, von SASKIA SASSEN