16.11.2001

Europas Laster

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Europas Laster

ÜBERLEGENE Rassen, minderwertige Rassen – das sagt sich leicht! Ich bin damit vorsichtig, seit ich erlebt habe, wie deutsche Gelehrte wissenschaftlich beweisen wollten, dass Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg unterliegen müsse, weil der Franzose einer minderen Rasse angehöre als der Deutsche. Ich gestehe, dass ich seit der Zeit zweimal hinschaue, bevor ich einen Menschen einen minderwertigen Menschen oder eine Kultur eine minderwertige Kultur nenne. Die Hindus eine minderwertige Rasse! Mit ihrer hohen und erlesenen Kultur, deren Anfänge sich im Dunkel der Zeiten verlieren! Mit ihrer großen buddhistischen Religion, die sich von Indien nach China ausgebreitet hat, mit ihrer künstlerischen Blüte, für die sich uns bis heute großartige Beispiele darbieten! Die Chinesen eine minderwertige Rasse! Mit ihrer Kultur, deren Ursprünge niemand kennt und die als Erste die Entwicklung zu diesem äußersten Höhepunkt genommen zu haben scheint. Konfuzius minderwertig! [. . .]

Ich will mich mit der These, die hier aufgestellt wurde und die nichts anderes ist als der erklärte Vorrang der Gewalt über das Recht, nicht näher befassen; die Geschichte Frankreichs seit der Revolution ist ein lebhafter Protest gegen dieses unrechtmäßige Ansinnen. [. . .]

Werfen Sie nur einen Blick auf die Geschichte der Eroberung derjenigen Völker, die Sie barbarisch nennen, und Sie werden Gewalt, zügellose Verbrechen aller Art, Unterdrückung, Ströme von Blut, den schwachen Unterdrückten und den tyrannischen Sieger sehen. Da haben Sie sie, die Geschichte unserer Kultur. Ganz gleich, welchen Ort und Zeitpunkt Sie herausgreifen: ob Mexiko unter Cortés, unter Pizarro, oder Indien. [. . .] Ich schweige lieber von den Lastern, die Europa im Gepäck führt wie den Alkohol oder das Opium, das es überall verbreitet, mit Gewalt, wenn es sein muss. Und ein solches System versuchen Sie in Frankreich zu rechtfertigen, wie Jules Maigne sagte, im Vaterland der Menschenrechte? [. . .] Nein, es gibt kein Recht der vermeintlich überlegenen gegenüber den vermeintlich minderwertigen Nationen; es gibt den Kampf ums Überleben – eine schicksalhafte Notwendigkeit, die wir in dem Maße, wie unsere Kultur voranschreitet, in den engen Grenzen von Recht und Gerechtigkeit halten müssen. Versuchen wir aber nicht, die Gewalt mit dem heuchlerischen Namen Zivilisation zu beschönigen; sprechen wir nicht von Recht oder Pflicht!“

Georges Clemenceau, Antwort auf Jules Ferry,Abgeordnetenhaus, 31. Juli 1885

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von Georges Clemenceau