14.12.2001

Russland und seine sowjetische Vergangenheit

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Russland und seine sowjetische Vergangenheit

AM 25. Dezember 1991 trat Michail Gorbatschow zurück. Auf dem Kreml wurde die rote Fahne mit goldenem Stern, Hammer und Sichel eingezogen, seither weht dort das weißblaurote Banner Russlands. Das Sowjetsystem, das im letzten Kriegsjahr 1917 begonnen hatte, war damit am Ende. Doch was war das eigentlich für ein Regime? Etwa Sozialismus? Und wie ist in diesem Zusammenhang der Stalinismus einzuordnen? Welche Verbindungslinien lassen sich zwischen Stalinismus und Zarismus ziehen? Im heutigen Russland sind solche Fragen – zwischen Nostalgie und Verdrängung der Vergangenheit – nach wie vor aktuell.

Von MOSHE LEWIN *

Vorab möchte ich zwei Irrtümer ausräumen, die seit langem die Debatten über die Sowjetunion verdunkeln. Der erste Irrtum besteht darin, den Antikommunismus mit einer Analyse der UdSSR zu verwechseln, und der zweite darin, die gesamte sowjetische Ära zu „stalinisieren“, als wäre sie von Anfang bis Ende ein einziger GULag gewesen. Der Antikommunismus ist nicht Ergebnis einer Forschung, sondern eine pseudowissenschaftliche Ideologie. Er setzt sich über die Wirklichkeit hinweg und nutzt die Kritik am diktatorischen Regime des Gegners für die eigenen konservativen Interessen. In solcher Absicht operierte zum Beispiel die Repression in der McCarthy-Ära mit dem Schreckgespenst des Kommunismus. Die krampfhaften Versuche einiger deutscher Intellektueller, die Gräueltaten Stalins in den Vordergrund zu rücken, um Hitler zu exkulpieren, gingen in dieselbe Richtung. Und auch dass der Westen den Verstoß gegen Menschenrechte je nach politischem System mit Nachsicht oder mit Strenge beurteilt, hat zu einem besseren Verständnis der sowjetischen Welt nicht beigetragen.

Aber wohin gehört das Sowjetsystem im großen Buch der Geschichte? Die Frage ist auch deshalb so kompliziert, weil dieses System – abgesehen von der Zeit des Bürgerkriegs, in der es ein einziges Feldlager war – in zwei oder drei verschiedenen Versionen existiert hat.

An der Geschichte Russlands lassen sich wunderbar die Spielarten autoritärer Systeme studieren, mit allen ihren Krisen und bis in die heutige Zeit. Was war das Sowjetsystem nach Stalins Tod im Jahr 1953? Sozialismus? In keiner Weise. Sozialismus bedeutet, dass der ökonomische Reichtum dem socium gehören, nicht einer Bürokratie. Auch ist im Sozialismus die politischen Demokratie nicht abzuschaffen, sondern zu vertiefen. Sozialismus setzt die Sozialisierung der Wirtschaft und die Demokratisierung des politischen Systems voraus. In der UdSSR dagegen erfolgte die Verstaatlichung der Wirtschaft und die Bürokratisierung des Politischen.

Wenn die Debatte über die Sowjetunion lange in derartigen Begriffen geführt worden ist, stellt sich die Frage: Würde man einem Menschen, der beim Anblick eines Nilpferds erklärt, er sehe eine Giraffe, einen Lehrstuhl für Zoologie andienen? Sind die Sozialwissenschaften weniger anspruchsvoll als die Zoologie?

Die ganze Verwirrung rührt daher, dass die UdSSR kein kapitalistisches Land war, da der ökonomische Reichtum des Landes dem Staat und der hohen Bürokratie gehörte. Deshalb wird das Sowjetsystem weithin in die Kategorie der traditionellen Regime gesteckt, deren Macht über den Staat auf großen territorialen Besitztümern beruhte. So war schon das autokratische „Moskowien“ entstanden, in dem bereits eine einflussreiche Bürokratie existierte, obwohl der Herrscher die absolute Macht innehatte. Auch in der Sowjetunion erlangte die Bürokratie eine unangefochtene Macht. Dieser „bürokratische Absolutismus“, ein Abkömmling des alten „Agrardespotismus“, war viel moderner als der Zarismus oder der Stalinismus, gehörte aber offenbar in dieselbe Kategorie.

Der bürokratische Sowjetstaat rekrutierte sein Personal zwar aus den unteren Klassen, trat ansonsten aber mit vielen seiner Institutionen das Erbe des Zarismus an. Lenin beklagte, dass ganze Bereiche der zaristischen Verwaltung unter dem neuen Regime beibehalten wurden. In der Tat musste das neue Regime in allen Bereichen erst einmal seine Lehrzeit absolvieren und auf die Erfahrung von Regierungsstellen zurückgreifen, die weiter nach den alten Methoden verfuhren. Ein neuer Staat war geschaffen, aber seine Funktionäre waren die alten geblieben, und Lenin sah das Problem, wie man diese zu besserer Arbeit anhalten könne.

Zudem wurde für jede neue Behörde eine Sonderkommission eingesetzt, um deren Organisation zu überwachen. Gewöhnlich erhielt ein Verwaltungshistoriker oder ein versierter Funktionär den Auftrag, die Strukturen der entsprechenden zaristischen Behörde zu untersuchen. Und wenn man beim besten Willen auf kein brauchbares Vorbild stieß, wurden die westlichen Modelle bemüht.

Stalin ging sogar noch einen Schritt weiter und übernahm quasi offiziell das Modell des monarchistischen Staates. Die derart gewahrte Tradition kennzeichnete das gesamte System – als Absolutismus eines bürokratischen Machtapparats. Sogar die anscheinend „neue“ Funktion des Generalsekretärs konservierte einige Merkmale der Zarenrolle. Und die pompösen Zeremonien des zaristischen wie des sowjetischen Regimes wurzelten in einer gemeinsamen Kultur, die Ikonen favorisierte und gern den Eindruck von Stärke und Unbesiegbarkeit vermittelte.

Zur Bezeichnung des starken Staates, der Ende der 1920er-Jahre entstand, wurde in den letzten Jahrzehnten des Systems vor allem in konservativen Kreisen gern der zaristische Ausdruck dseriawa, („Großmacht“) verwandt. Während dseriawnik zu Lenins Zeiten ein Schimpfname für üble Nationalisten gewesen war, hatte es jetzt durch seine Nähe zum Wesen der Zarenmacht (samodseriets, also Alleinherrscher) einen positiven Klang.

Dass das Staatseigentum an Grund und Boden in den Händen eines absoluten Herrschers lag, hatte auch einige alte Regime in Mittel- und Osteuropa ausgezeichnet. In der UdSSR wurde das Staatseigentum im Namen des Sozialismus auf die gesamte Ökonomie ausgedehnt. Entgegen des modernisierenden Anscheins wurde also das alte Modell des Eigentums an Grund und Boden (früher die wichtigste ökonomische Ressource) bewahrt und sogar verstärkt und erneuert.

Aber wiewohl man das System unbestritten als Grund besitzende Autokratie klassifizieren konnte, erfüllte es doch eine dem 20. Jahrhundert eigene historische Aufgabe: die Funktion des „Entwicklungsstaats“, den es allenthalben gab und bis heute noch gibt, besonders in den alten landwirtschaftlichen Monarchien im Osten und im Nahen Osten (China, Indien, Iran). Beim Aufbau des stalinistischen Staates machte sich zum Teil diese historische Rationalität geltend, auch wenn sie durch die Entwicklung zum „Stalinismus“ gefährlich verzerrt worden ist. Doch der Übergang zu einem despotischen Modell ist keine unheilbare Krankheit, wie es die Überwindung des Stalinismus in Russland und des Maoismus in China beweist. Zudem bleibt es eine historische Notwendigkeit, dass ein Staat imstande ist, trotz aller Schwierigkeiten die ökonomische Entwicklung zu lenken.

In den 1980er-Jahren hatte die UdSSR in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ein hohes Niveau erreicht, obwohl das politische System versumpft war. Die Art von Reformen, die etwa Juri Andropow anstrebte, wären durchaus in der Lage gewesen, die Ziele zu erreichen: einen reformierten und aktiven Staat, der die Entwicklung zu lenken und sich im Zuge der Umwandlung der sozialen Landschaft von einen überholten Autoritarismus zu befreien vermag.

Der Rückgriff auf die Symbolik der dzerjava und die Verwendung des Ausdrucks durch einen großen Teil der Führungsschicht zeigte das Erlahmen des Apparats, der seine politische Macht nur mehr im Dienst seiner eigenen Interessen nutzte und sich vom „Entwicklungsstaat“ verabschiedete. Die Herrschenden konnten sich nicht dazu durchringen, dem Hammer und der Sichel etwas Neues – zum Beispiel einen Computer – hinzuzufügen. Sie flüchteten sich vielmehr in einen Konservativismus, der den Sehnsüchten der Bürger widersprach, denen die Entwicklung des Staates mit fataler Verspätung hinterherhinkte.

Die Formel „bürokratischer Absolutismus“, die das sowjetische System gut beschreibt, stammt aus den Analysen der preußischen Monarchie des 18. Jahrhunderts, deren Herrscher zwar das Oberhaupt der Bürokratie, faktisch aber von ihr abhängig waren. Genau so hatten in der UdSSR die hohen Parteiführer, die Oberhäupter des Staates, in Wirklichkeit jede Macht über ihre Bürokratien verloren. Die ehemaligen sowjetischen Minister, die mit ihren Memoiren die nostalgische Erinnerung an diesen Superstaat beleben, haben nicht begriffen, dass die Begeisterung für die dzerjava genau dann einsetzte, als der Staat aufgehört hatte, seine frühere Rolle zu spielen. Er war nur noch ein Phantom seiner selbst, der letzte Stoßseufzer einer überkommenen Macht.

Wenn die sowjetischen Jahre im Rückblick als typisch russisches Kapitel in der Geschichte des Landes erscheinen, so liegt das in erster Linie am internationalen Umfeld dieser Ära. Denn dieses Russland war im Hinblick auf seine freundschaftlichen oder feindlichen Beziehungen zu seinen Nachbarn darauf angewiesen, diese Beziehungen mit allen, auch ideologischen Mitteln weiterzuentwickeln. Ob sie ihre Ideen aus dem Ausland übernahmen oder ihnen ihre eigenen Begriffe entgegensetzten, die russischen Herrscher mussten ihre Antennen immer nach außen wie nach innen richten. Und natürlich hat die internationale Situation die Geschichte der Sowjetunion massiv beeinflusst, am deutlichsten etwa im Ersten Weltkrieg und in den 1920er-Jahren bzw. im Zweiten Weltkrieg.

Dass der Stalinismus der Dreißigerjahre, auf seinem absoluten Höhepunkt, trotz aller Verfolgungen, denen die Sowjetbürger ausgesetzt waren, im Westen ein hohes Ansehen genoss, lag größtenteils an der Krise im Westen. Russland schien sich in einem mächtigen industriellen Aufschwung zu befinden, und die Versuchung war groß, das Elend im Land mit dem Argument herunterzuspielen, eine derart eindrucksvolle Dynamik werde rasch für Abhilfe sorgen. Auch bei Kriegsende 1945 profitierten Stalin und der Stalinismus von einer solchen Kontrastwirkung. Dabei wuchsen auch damals die Missstände im Land, die nicht allein durch die Verheerungen des Krieges zu erklären waren.

Dann kam der Kalte Krieg. Der soll, wie Stalins persönlicher Dolmetscher Berejkov in seinen Memoiren berichtet, bereits mit Stalins Entrüstung über die verspäte Landung der Amerikaner in der Normandie begonnen haben. Der sowjetische Diktator sah darin ein politisches Kalkül: Er war überzeugt, Franklin D. Roosevelt habe den Kriegseintritt der Amerikaner absichtlich so lange hinausgezögert, bis sich das Dritte Reich und die Sowjetunion verausgabt hatten. Als dann im Sommer 1945 die Atombomben auf Japan fielen, fühlte man sich in Moskau in der Annahme bestätigt, die USA wollten der UdSSR und dem Rest der Welt den Beginn einer neuen Ära der internationalen Beziehungen verkünden. Diese Entwicklung endete jedenfalls damit, dass die Sowjetunion sich auf den Status einer Supermacht und auf einen Rüstungswettlauf einließ, der die konservativsten Aspekte seines staatlichen Systems perpetuierte und seine Reformfähigkeit verminderte.

Parallel setzten die sowjetischen Führer an die Stelle des „einstigen Westens“, an dem man sich bis dahin orientiert hatte, die Vereinigten Staaten. Sie wurden zum heimlichen Maßstab der sowjetischen Leistungsfähigkeit, wobei manchen Funktionären der wachsende Rückstand des Landes aufging. Nachdem die Sowjetunion das (sinnlose) Rennen zum Mond verloren hatte und mit den Entwicklungen des Informationszeitalters nicht mehr Schritt halten konnte, begannen einige der führenden Kräfte zu verzweifeln, während die Konservativen einfach an ihrer Fortschrittsfeindlichkeit festhielten.

Heute schildern gewisse Soziologen die alte Sowjetunion als ein Eldorado, weil sich der Lebensstandard der russischen Bevölkerung und ihre soziale Versorgung seit Anfang der 1990er-Jahre immer weiter verschlechtert haben oder weil der Besuch von Theatern, Konzertsälen und Bibliotheken, ja sogar die Lektüre von Büchern und Zeitungen stark zurückgegangen ist. Die erhöhte Arbeitsbelastung lässt die Menschen in ihrer Freizeit passiver werden. Natürlich konnten sie, als gegen Ende der Sowjetära die Freizeit schrittweise ausgeweitet wurde, viel reger am kulturellen Leben teilhaben. Mittlerweile ziehen viele Russen auf ihren eigenen Parzellen Gemüse, oder sie betreiben Viehzucht, um ihre Einkünfte aufzubessern oder einfach nur zu überleben – und haben eben weniger Zeit für andere Dinge.

Von den neuen Rechten und Freiheiten wie von den teuren Dienstleistungen profitiert nur eine kleine Schicht wohlhabender, hoch qualifizierter, unternehmerisch tätiger Russen. Wer nicht in Moskau lebt, hat kaum Zugang zu Kultur. Zur beliebtesten Freizeitbeschäftigung ist das Fernsehen – von allseits beklagter Qualität – geworden. Die wissenschaftliche Forschung ist im Niedergang begriffen, immer weniger Russen haben Zugang zu Erziehungs- und Ausbildungsinstitutionen, die Geburtenziffer geht zurück. Es mehren sich die Anzeichen, dass das Überleben der Nation auf dem Spiel steht.

Um von diesem Zustand abzulenken, führen die neuen Machthaber einen gigantischen Propagandafeldzug gegen das verblichene Sowjetsystem und greifen dabei in die Trickkiste, die früher der Westen benutzt hat: Das System sei monströs gewesen, vom Sündenfall 1917 bis zum fehlgeschlagenen Staatsstreich im August 1991, dessen Scheitern eine neue Ära der Freiheit eingeleitet habe. Offenbar leidet das ohnehin kläglich geschrumpfte heutige Russland auch noch unter der Verleugnung seiner historischen Identität. Statt die Vergangenheit kritisch zu analysieren, üben sich die „Reformatoren“ in Ignoranz und plündern nebenbei die Reichtümer des Landes.

Zugleich sind sie auf der fieberhaften Suche nach anderen Vergangenheiten, die der Sehnsucht der Nation nach einer neuen Identität Nahrung geben könnten. Zunächst haben sie sich die zaristische und vorrevolutionäre Ära vorgenommen, um dann – da alles Sowjetische bereit diskreditiert war – die „Weißen“ aus dem Bürgerkrieg zu rehabilitieren. Die dumme Begeisterung für alles, was den Bolschewiken verhasst war, ist schuld daran, dass so mancher Russe die „Eliten“, die seit 1991 an der Macht sind, als neue „zaristische Besatzer“ empfand und dass fähige Köpfe das Land auf das Niveau der Dritten Welt absinken sehen.

Trotz der katastrophalen Folgen des Obskurantismus sind jedoch auch positive Zeichen zu beobachten. Der russische Philosoph Mejouew hat es so formuliert: „Ein Land kann nicht ohne seine Geschichte existieren. Unsere Reformer, ob Kommunisten oder Demokraten, slawophil oder vom Westen fasziniert, machen einen entscheidenden Fehler, indem sie keine rational und moralisch begründete Kontinuität zwischen der Vergangenheit und der Zukunft Russlands herstellen. [. . .] Die einen leugnen die Vergangenheit, die anderen sehen in ihr das einzige Modell. Damit kann die Zukunft für manche nur ein Gemisch aus alten Themen sein, für andere wiederum nur die passive Hinnahme des völlig anderen, das keinen Vorläufer in der russischen Geschichte hat. Die Zukunft muss jedoch vor allem in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit gedacht werden, insbesondere zur jüngsten Vergangenheit, die wir gerade hinter uns haben.“

Mejouew greift auch Putins liberalen Wirtschaftsberater Andrej Illarionow an, der behauptet, für Russland sei das vergangene ein verlorenes Jahrhundert, insofern die sozialistische Revolution das Land aus seiner liberalen Bahn geworfen und den einstigen Riesen in eine Maus verwandelt habe. Die einzige Chanc sei demnach die Rückkehr zum Liberalismus. Aber es ist leichter, im Nachhinein klug daherzureden, als zu analysieren, was geschehen ist. Wer Russland vorhält, es sei Anfang des 20. Jahrhunderts nicht liberal geworden, hat weder eine Ahnung von der russischen Geschichte noch vom Liberalismus. Der Durchbruch des Liberalismus ist Resultat eines langen historischen Prozesses vom Mittelalter über die Reformation und Renaissance bis zu den – häufigen – Revolutionen gegen absolute Monarchien.

Für Mejouew liegt der Schlüssel der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht allein in der bolschewistischen Revolution. In der kurzen Zeitspanne von zwölf Jahren hat es drei Revolutionen gegeben: Die erste von 1905 wurde niedergeschlagen; in der zweiten, im Februar 1917, siegten die gemäßigten Revolutionäre; die Oktoberrevolution, in der die radikalsten Revolutionäre siegten, war nur die letzte Phase des revolutionären Prozesses. Der russische Philosoph Nikolai Berdiajew hat Recht: Die Bolschewiken waren nicht die Urheber der Revolution, sondern die ausführenden Werkzeuge. Wer vorwiegend moralische Kriterien anlegt und die Brutalitäten einer Bürgerkriegssituation verurteilt, wird der Sache nicht gerecht. Eine Revolution ist keine legale und moralische Aktion, sondern die Entfaltung einer gemeinsamen Kraft. Eine „gute“ Revolution gibt es nicht – bisher waren sie alle blutig.

In diesem Sinne meint Mejouew: „Wer die Revolutionen verurteilt, verurteilt fast die gesamte russische Intelligenzija und die ganze russische Geschichte, die den Humus der revolutionären Ereignisse bilden. Revolutionen [. . .] enttäuschen immer die Erwartungen, aber sie schlagen eine wirklich neue Seite auf. Man muss nur herausfinden, um welche Seite es sich handelt, ohne sich zu sehr auf das zu verlassen, was die Sieger oder die Besiegten sagen. Im Grunde war unser Sozialismus seinem technologischen Inhalt nach ein ‚russischer Kapitalismus‘, der Form nach dagegen ein Antikapitalismus.“

Für ein Land an der Peripherie der westlichen Welt sei es schwierig, Modernisierung und Demokratie zu verbinden, argumentiert Mejouew. Eine Zeit lang muss das eine dem anderen weichen. Die Bolschewiken haben das sehr genau verstanden – deshalb haben sie den Bürgerkrieg gewonnen, und die UdSSR ist siegreich aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen. Auch China handelte in diesem Sinne, indem es eine marktwirtschaftlich beschleunigte Modernisierung durchführte und zugleich an einem nicht demokratischen politischen System festhielt. Kein Regime der Welt ist gut beraten, wenn es die Vergangenheit ablehnt, als wäre sie eine Wüste, in der nichts gedeihen kann. Man sollte sie vielmehr als Sprungbrett für neue Fortschritte sehen und das bewahren, was sie an wirklicher Größe aufweist.

Das heutige Russland mit seiner Sehnsucht nach vorrevolutionären Zeiten ist viel weiter vom Westen entfernt, als es die Bolschewiki waren. „Unsere Liberalen“, meint Mejouew, „können sich keiner Großtat rühmen, außer dass sie sämtliche Erfolge zunichte gemacht haben, obwohl die Zukunft Russlands doch auf der Bewahrung der Errungenschaften der Vergangenheit, auf ihrer Entwicklung und auf dem Erhalt einer Kontinuität beruhen muss, die mit der Definition neuer Aufgaben einhergeht. Im Augenblick ist die Verbindung zur Vergangenheit unterbrochen, aber eines Tages wird sie wiederhergestellt sein. Das bedeutet jedoch keine Rückkehr in die vor- oder nachrevolutionäre Zeit. Es kann sich ja jeder selbst fragen, was ihm an der Vergangenheit gefällt, woran er hängt, was fortgeführt und was bewahrt werden sollte. Das wird ihm helfen, die Zukunft zu bewältigen.“ Einige von Mejouews Ideen mag man anzweifeln, doch das Grundproblem formuliert er treffend: Die russische Vergangenheit hat mit der Geschichte Europas und der Welt im 20. Jahrhundert zu tun. Die kann deshalb nicht entziffert werden, ohne das sowjetische System mit unparteiischem Blick zu studieren.

dt. Grete Osterwald

* Emeritierter Professor der Universität von Pennsylvania, Autor u. a. von „Lenins letzter Kampf“, Hamburg 1989, „Russia/USSR/Russia: The Drive and Drift of a Superstate“, „The Making of the Soviet System: Essays in the Social History of Interwar Russia“, beide New York 1994, und „Stalinism and Nazism“, Cambridge 1997.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von MOSHE LEWIN