15.03.2002

Feuer frei auf die Wilden!

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Feuer frei auf die Wilden!

Von der Entwicklung der Bomben bis zu ihrer Verwendung im Namen der Zivilisation: Der Essay „Und tot bist du“ erzählt die Geschichte des Bombardierens.

Von SVEN LINDQUVIST *

EINE Illustration zu Jules Vernes „Robur der Eroberer“ (1886) zeigt ein majestätisch über Paris, der Hauptstadt Europas, einherschwebendes Rauschiff. Seine enormen Scheinwerfer bestreichen das Wasser der Seine, Brücken und Fassaden. Überrascht, doch vertrauensvoll blicken die Menschen gen Himmel. […]

Auf dem folgenden Bild fliegt ein Raumschiff über Afrika, nicht weniger majestätisch und unnahbar. Doch hier begnügt es sich nicht damit, zu beleuchten. […] Im Namen der außer Zweifel stehenden Vorherrschaft des zivilisierten Menschen über den Farbigen […] bringen die Waffen des Raumschiffs den Tod über schwarze Verbrecher, die schreiend vor Entsetzen vor dem mörderischen Feuer zu fliehen versuchen.

Der Pilot als Polizist, die Bombe als Knüppel – diese Idee wurde bereits im Jahre 1910 von R. P. Hearne in „Airships in Peace and War“ entwickelt. Traditionelle Strafexpeditionen seien kosten- und zeitaufwendig, […] eine Strafaktion aus der Luft hingegen zeige rasche Wirkung, und zwar mit weit geringeren Kosten.

„Die moralische Wirkung einer solchen Waffe in den Ländern der Wilden ist unvorstellbar“, schreibt Hearne. „Das Auftauchen des Flugapparats würde Schrecken über die Stämme bringen. So würde man auch die furchtbaren Verluste an Menschenleben vermeiden, die weiße Truppen bei derartigen Expeditionen sonst zu beklagen haben.“ […] Die Bombenschützen würden „eine schmerzhafte, und abschreckende Strafe verabreichen“ – und dennoch viel humaner als jede herkömmliche Strafexpedition sein. Denn Bomben treffen nur die Schuldigen, Unschuldige berühren sie nicht.

Als Frankreich 1912 sechs Flugzeuge zu einem Polizeieinsatz nach Marokko sendet, wählen die Piloten Ziele von einer gewissen Größe – Dörfer, Märkte, Herden auf der Weide –, sonst würden die Bomben ihr Ziel verfehlen. Und als im Jahre darauf Spanien „seinen“ Teil Marokkos zu bombardieren beginnt, werden deutsche Splitterbomben eingesetzt, gefüllt mit Sprengkörpern und Stahlkugeln, Bomben, die extra so konstruiert sind, dass ihre Wirkung nicht konzentriert, sondern möglichst weit verteilt wird, um viele lebende Ziele zu erreichen.

Mohammed Abdil Hassan, von seinen Feinden „the Mad Mullah“ genannt, ist 1917 ein Dorn in der Tatze des britischen Löwen, schon seit langem […]. „Die Royal Air Force hat mit dem somalischen Mullah eine Rechnung zu begleichen.“

Mohammed A. Hassan hat nie in seinem Leben ein Flugzeug gesehen, und schon gar keine Bombe. Er ist vollkommen arglos und verfährt wie immer, wenn er Besuch empfängt: In seine besten Gewänder gekleidet, steht er inmitten seiner wichtigsten Berater vor seinem Hause, unter dem weißen Baldachin, der feierlichen Gelegenheiten vorbehalten ist, und erwartet in aller Ruhe die Ankunft der fremden Emissäre.

Bereits die erste Bombe setzt dem Krieg fast ein Ende. Sie tötet Mohammeds Berater […]. Bei dem folgenden Bombardement kommen seine Schwester und mehrere andere Familienmitglieder ums Leben. Zwei Tage lang jagen die britischen Bomber Mohammed und den Rest seiner Familie, die wie gehetzte Tiere in die Wüste fliehen – um sich schließlich zu ergeben.

Dauer: eine Woche statt eines Jahres. Gesamtkosten: 77 000 Pfund. Ein Pappenstiel, verglichen mit dem, was die Armee gefordert hatte. Churchill ist entzückt. […]

Wie andere Kolonialmächte auch werfen die Briten bereits seit einigen Jahren Bomben auf widerspenstige Bewohner ihrer Kolonien. Begonnen haben sie 1915 mit den Paschtunen an der nordwestlichen Grenze Indiens. […]

1916 bombardieren die Briten ägyptische Aufständische und den Sultan von Darfour im Westen des Sudans. Im Juni 1917 schlagen die Bomber einen Aufstand in Maschud an der afghanischen Grenze nieder. 1919, im dritten afghanischen Krieg, lässt Arthur Harris, der Chef der britischen Schwadron, Dakka, Dschalalabad und Kabul bombardieren. In seinen Memoiren beschreibt er, dass eine einfache Zehnkilobombe auf das Schloss des afghanischen Königs den Ausgang des Krieges entschied. […] Im selben Jahr fordern die Ägypter die Unabhängigkeit, und die Royal Air Force entsendet drei Schwadronen, um die Aufrührer in Zaum zu halten. Bei dem Versuch, einen Vasallenstaat zu errichten, wird 1920 Enzeli im Iran bombardiert. In Transjordanien bomben die Briten einen Aufstand nieder, mit zweihundert Toten.

Zehn Jahre nach der ersten Bombe hat man bei solchen Sachen schon Routine. Aber im Irak ist die Mission ganz anders: Sie heißt „Kontrolle ohne Besatzung“.

Im Prinzip muss man vor einem Bombardement die Bevölkerung warnen. Im Prinzip sind die Ziele Häuser, Herden und Krieger und nicht Greise, Frauen und Kinder. Die Praxis sieht aber meistens anders aus. Der erste Bericht aus Bagdad beschreibt, wie ein Luftangriff unter den Einwohnern und ihren Familien Panik auslöst. „Viele versuchten zu fliehen und sprangen ins Wasser, wo sie leichte Ziele für die Maschinengewehre waren.“

Churchill wünscht solche Berichte nicht mehr zu erhalten: „Ich bin zutiefst schockiert durch die Passage über das Bombardement, die ich rot markiert habe. Sollte so etwas veröffentlicht werden, wären die Luftstreitkräfte entehrt.[…] Absichtlich auf Frauen und Kinder zu schießen, die im Wasser eines Sees Schutz suchen, ist skandalös, und ich muss mich sehr wundern, dass Sie die verantwortlichen Offiziere nicht vors Kriegsgericht gebracht haben.“ […] Churchill wollte Ergebnisse; aber er wollte nicht wissen, wie sie zustande kamen.

Im Februar 1923 besucht Lionel Charlton, gerade in Bagdad eingetroffener Generalstabsoffizier, das Krankenhaus von Diwaniyya. Gefasst auf gebrochene Beine und Durchfallerkrankungen, wird er plötzlich mit den Folgen eines britischen Luftschlags konfrontiert. Der Unterschied zwischen einem Polizeiknüppel und einer Bombe springt ins Auge.

Hätte es sich hier um Krieg oder offenen Aufstand gehandelt, hätte er als Offizier keinerlei Einwände erhoben, wie er in seinen Memoiren schreibt, doch dieses „blinde Bombenwerfen auf die Bevölkerung mit dem Risiko, Frauen und Kinderzu töten, war ein sinnloses Massaker“.

Bald hisst ein weiterer Scheich die Kriegsflagge, und er muss bestraft werden. Aber aus einer Höhe von tausend Metern nur genau ihn zu treffen, ist nicht leicht. […] Wie zu erwarten, kommen rund zwanzig Frauen und Kinder ums Leben, als der aufrührerische Scheich bombardiert wird. Charlton erträgt es nicht mehr. Er bittet, aus Gewissensgründen seines Postens enthoben zu werden. Das Hauptquartier schickt ihn nach England, wo er 1928 in den Ruhestand versetzt wird.

Abu Haifa, der große Gesetzgeber persischer Herkunft und Gründer einer Rechtsakademie in Bagdad, ist der Erste, der die Tötung von Frauen, Kindern, Greisen, Kranken, Mönchen und allen anderen Kämpfern verbietet. Er verurteilt auch Vergewaltigungen und die Exekution von Geiseln. Über ihn ist nicht viel bekannt, außer dass er im Jahre 792 nach einem versuchten Aufstand eingekerkert wurde und fünf Jahre später im Gefängnis starb.

Die moralische Maxime, auf die Charlton sich berief, war also im Irak formuliert worden, lange bevor die Zivilisation auf die britischen Inseln gelangte. Bereits im 8. Jahrhundert, als der Islam den Nahen Osten und Nordafrika erobert, auf zwei Wegen Europa erreicht hat und sich auf dem Höhepunkt seines Einflusses befindet, versucht ein Gesetzgeber in Bagdad den Krieg zu humanisieren, indem er Regeln formuliert, die in Europa erst Jahrhunderte später anerkannt werden sollten. Aber anerkannt werden sie nicht immer, eingehalten noch weniger, wenn es gegen Völker anderer Hautfarbe geht. […]

Die Briten sind nicht die Einzigen, die ihre Kolonien bis zur völligen Unterwerfung bombardieren. Die Spanier führen sich in Marokko noch viel brutaler auf. Am 29. Juni 1924 werfen zwanzig spanische Flugzeuge bei Tetuán sechshundert Bomben ab und verursachen gewaltige Verluste in der Zivilbevölkerung. […] Aus der Luft werden Häuser zerstört, Ernten verbrannt und Dörfer mit Senfgas besprüht.

Der Einsatz von Giftgas ist nach der Genfer Konvention von 1925 verboten. Im Sommer 1925 verlangt das Rote Kreuz die Befugnis, Beobachter an den Schauplatz der Militäroperationen zu entsenden, um den Vorwürfen von Gaseinsätzen nachzugehen. Spanien verweigert die Erlaubnis. Dagegen sind zwei deutsche Militärs herzlich willkommen, die „Erfahrungen mit Gasangriffen aus der Luft“ sammeln wollen.

Zeitgleich wird Syrien zum Schauplatz einer Erhebung gegen die französische Kolonialmacht. […] Auch gegen Hama und Suayda werden massive Angriffe geflogen, aber vor allem das Bombardement der Muslimviertel von Damaskus am Sonntag, dem 18. Oktober 1925, führt zu Kontroversen. Es fordert mehr als tausend Todesopfer.

Syrien protestiert unter Bezugnahme auf das internationale Kriegsrecht, das das Bombardieren von nicht verteidigten Städten untersagt. […]

Nach eingehender Analyse des Falls entwickelt der amerikanische Jurist Quincy Wright, Spezialist für internationales Recht, zwei Theorien. […] Der ersten zufolge befindet Syrien sich wie alle nichteuropäischen Gesellschaften ohnehin außerhalb des Völkerrechts. Dieselbe Theorie teilt die Menschheit in drei Gruppen ein: Zivilisierte, Barbaren und Wilde. Das Internationale Recht gelte nur für die zivilisierte Menschheit. […]

Einer weiteren Theorie zufolge greift das Völkerrecht im Fall des Bombardements von Damaskus überhaupt nicht, weil die Aktion Frankreichs in Syrien eine innere Angelegenheit Frankreichs sei. Syrien sei zwar kein Teil Frankreichs, doch befänden sich die Franzosen im Auftrag des Völkerbundes in Syrien (wie die Engländer im Irak). Die Ordnung aufrechtzuerhalten gehöre mit zum Auftrag. […]

Die britischen Bombenangriffe blieben seinerzeit in Schweden so gut wie unkommentiert. Der italienische Angriff auf Äthiopien im Jahre 1935 hingegen löst allgemeine Entrüstung aus. Äthiopien hat als einziges afrikanisches Land die Unabhängigkeit bewahren und Mitglied im Völkerbund werden können. Schweden pflegte schon lange Beziehungen mit dem ostafrikanischen Land. […] Die Bomben, die auf Äthiopien niedergehen, sind Schweden also sehr viel näher als die, die den Irak oder Marokko getroffen hatten.

Im Dezember [1935] verwenden die Italiener noch Tränengas. Im Januar ist es Senfgas. Gunnar Agge sieht, wie Tropfen einer öligen Flüssigkeit schleierartig die Bombenkrater umgeben. „Sobald diese Tropfen an die bloßen Füße, an Beine oder Hände der Soldaten gerieten, bildeten sich große Blasen auf der Haut. […] Blind und halb erstickt stolperten sie ins Gebüsch, wo sie zusammenbrachen und liegen blieben, bis ihre Kameraden sie fanden. Noch fern der Bombeneinschläge verwelkten und verdorrten die mit den Tropfen besprühten Gräser und Blätter. […]“

Im Mai 1936 nehmen die Italiener Addis Abeba ein, und Mussolini erklärt den Krieg für beendet. Am 30. Juni 1936 richtet der exilierte Kaiser Haile Selassie vor dem Völkerbund einen letzten Appell an das Gewissen der Welt: „Nicht nur gegen Soldaten hat die italienische Regierung Krieg geführt. Sie hat vor allem die von den Kriegsschauplätzen weit entfernte Bevölkerung angegriffen, um sie zu terrorisieren und auszulöschen. […] An den Flugzeugen waren Senfgassprüher angebracht, um über weite Gegenden einen feinen Regen des tödlichen Gases zu verteilen. […] Seit Ende Januar 1936 waren Soldaten, Frauen, Kinder, Vieh, Flüsse, Seen und Felder ohne Unterlass diesem Todesregen ausgesetzt worden. […] Diese schreckliche Taktik war erfolgreich. Viele Menschen und viele Tiere sind umgekommen. Wer mit dem Todesregen in Berührung kam, floh schreiend vor Schmerzen. Wer von dem vergifteten Wasser trank, von verseuchten Nahrungsmitteln aß, musste unter grässlichen Schmerzen sterben.“ […]

Die Ansprache des Kaisers geht im Pfeifkonzert der italienischen Journalisten unter. Vier Tage später erkennt der Völkerbund die Eroberung Äthiopiens an und hebt die gegen Italien verhängten Sanktionen auf.

Ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Bombenangriff werden immer noch Afrikaner, Araber oder Chinesen bombardiert. Wir Europäer schauen weiter den Flugzeugen am Himmel nach, in der ruhigen Gewissheit, dass uns nichts Böses droht. Wir sind ja schon zivilisiert, nicht wahr.

Doch unter der stillen Oberfläche regen sich böse Träume. Unsere Ängste wandeln sich. […] Während wir in der Wirklichkeit Angehörige anderer Rassen bombardieren, verfolgen uns Albträume, in denen die Bomben auf uns selbst fallen.

aus dem Franz. von Hinrich Schmidt-Henkel

* Autor, Schweden. Deutsch: „Durch das Herz der Finsternis“, Frankfurt/M. (Campus) 1999. Abdruck aus: „Nu dog du – Bombernas arhundrade“. Stockholm (Bonniers) 1999.

Le Monde diplomatique vom 15.03.2002, von SVEN LINDQUVIST