14.06.2002

Das Pferd, die Spinne und die Schlange

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Das Pferd, die Spinne und die Schlange

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht in diesem Jahr an den Nigerianer Chinua Achebe. Damit wird ein Schriftsteller geehrt, der wie kein anderer den Zusammenprall der Kulturen auf seinem Kontinent durchlebt und verarbeitet hat. Wir drucken einen Auszug aus: „Ein Bild von Afrika“.

Von CHINUA ACHEBE *

EINE der frühesten Kurzgeschichten, die ich geschrieben habe, heißt „Chike and the river“ und schließt folgendermaßen: Die ersten Sätze in seinem „Neuen Lesebuch“ waren sehr einfach, und dennoch erfüllten sie ihn mit einer unbestimmten Freude: „Es war einmal ein Zauberer. Er lebte in Afrika. Er ging nach China, um eine Lampe zu holen.“ Chike las sie zu Hause wieder und wieder und machte dann ein Liedchen daraus. Es war ein Liedchen ohne Sinn. „Immergrün“ schlich sich hinein und auch „Damaskus“. Doch es war wie ein Fenster, durch das er in der Ferne eine seltsame, magische neue Welt sah. Und er war glücklich.

Und so öffnete der kleine afrikanische Junge begeistert sein Herz und Hirn dieser aufregenden, weiten Welt, die sich um ihn entfaltete. Dieser Junge war ich.

Ich ging in eine gute Schule, die nach dem Vorbild der britischen Public Schools aufgebaut war. Dort las ich eine Menge englischer Bücher. Zu Dutzenden las ich Bücher wie „Die Schatzinsel“, „Gullivers Reisen“, „Oliver Twist“, „Der Gefangene von Zenda“ oder „Tom Browns Schulzeit“. Doch ich stieß auch auf Ryder Haggard und John Buchan und die anderen und ihre „afrikanischen“ Bücher.

Zu Anfang sah ich mich überhaupt nicht als Afrikaner. Ich ergriff Partei für die Weißen gegen die Wilden. Mit anderen Worten, in meinen ersten Schuljahren dachte ich, dass ich bei den haarsträubenden Abenteuern mit knappem Ausgang zu den Weißen gehörte. Der Weiße war gut und vernünftig und intelligent und mutig. Die Wilden, die sich ihm entgegenstellten, böse und dumm, oder zumindest hinterlistig. Ich hasste sie bis aufs Blut.

Aber es kam ein Zeitpunkt, an dem ich alt genug war zu erkennen, dass diese Schriftsteller mich übertölpelt hatten! Ich war ja überhaupt nicht auf Marlowes Boot, das in „Herz der Finsternis“ den Kongo heraufdampfte. Ich war eins jener seltsamen Wesen, die am Flussufer greuliche Gesichter schneidend umherhüpften. Oder, wenn ich darauf bestand, an Bord des Schiffes zu sein, dann musste ich mich wahrscheinlich mit der Rolle jenes „verbesserten Exemplars“, wie Conrad ihn sarkastisch bezeichnet, zufrieden geben, der da lächerlicher als ein behoster Hund versucht, hinter die Hexerei im Heizkessel des Schiffes zu kommen.

Damals sagte ich nein und begriff, dass Geschichten nicht unschuldig sind; dass man sie dazu benutzen kann, dich in die falsche Gruppe einzuordnen, in die Partei der Menschen, die sich anschicken, dich zu berauben. Und apropos Raub: Wie steht es mit der Sprache? Deutet nicht die Tatsache, dass ich in der Sprache meines Kolonialherren schreibe, darauf hin, dass ich mich der endgültigen Enteignung füge? Das ist eine umfangreiche und vielschichtige Angelegenheit, auf die wir hier nicht vollständig eingehen können.

Meine Meinung ist, dass jeder, der sich nicht dazu in der Lage fühlt, in Englisch zu schreiben, natürlich seinen Vorlieben folgen kann. Doch darf er sich keine Freiheiten hinsichtlich unserer Geschichte herausnehmen. Es ist einfach nicht wahr, dass die Engländer uns zwangen, ihre Sprache zu lernen. Die britische Kolonialpolitik in Afrika und anderswo hat im Gegenteil immer wieder ihre Bevorzugung der einheimischen Sprachen hervorgehoben. Überreste dieser Politik können wir heute noch in der Bantustan-Politik Südafrikas entdecken. Wir wählten das Englische, nicht weil die Briten das wünschten, sondern weil wir jene neuen Nationalitäten, zu denen uns der Kolonialismus gruppiert hatte, stillschweigend akzeptiert hatten, und wir brauchten seine Sprache, um unsere eigenen Angelegenheiten zu regeln, einschließlich derjenigen, die darin bestand, den Kolonialismus selbst im Laufe der Zeit zu stürzen.

Das heißt nicht, dass unsere indigenen Sprachen jetzt vernachlässigt werden sollen. Es heißt, dass diese Sprachen in der Gegenwart und in der vorhersehbaren Zukunft mit der fremden koexistieren und sich wechselseitig beeinflussen müssen. Für mich gibt es nicht entweder Englisch oder Igbo, sondern nur beide, Englisch und Igbo. Als Christopher Okigbo, unser bedeutendster Dichter, vor zweiundzwanzig Jahren auf dem Schlachtfeld starb, schrieb ich für ihn eines der besten Gedichte, das ich jemals geschrieben habe, auf Igbo in der Form eines traditionellen Trauerliedes, das ein Gleichaltriger ihm singt. Ein völlig anderes Gedicht schrieb ich vor fünfzehn Jahren auf Englisch, um des Todes des angolanischen Dichters und Präsidenten, Agostinho Neto, zu gedenken. Aus meiner Sicht ist die Fähigkeit, dies beides zu tun, ein großer Vorteil und nicht die Katastrophe, als die es einige meiner Freunde fortwährend bezeichnen.

Ich bin davon überzeugt, dass man das Hervortreten der modernen afrikanischen Literatur als die Wiedergeburt der Feier betrachten muss. Man ist versucht zu sagen, dass diese Literatur aufkam, um die Menschen nach Afrika zurückzuversetzen. Doch das wäre falsch, denn die Menschen haben Afrika niemals verlassen, außer in der schuldhaften Vorstellung von Afrikas Widersachern.

Ich muss nun noch einen letzten Punkt hervorheben. Feier heißt nicht Lob oder Anerkennung. Natürlich kann Lob ein Teil davon sein, aber nur ein Teil. Jeder, der mit der zeitgenössischen afrikanischen Literatur vertraut ist, weiß, wo wir in dieser Sache stehen; wir sind nicht des Imperators Schmeichler. Ein schwedischer Schriftsteller und Journalist sagte vor ein paar Jahren bei einem internationalen Schriftstellertreffen in Schweden zu der kleinen Gruppe anwesender Afrikaner: „Ihr Burschen habt Glück. Eure Regierungen stecken euch ins Gefängnis. Hier in Schweden schenkt uns niemand Aufmerksamkeit, egal was wir schreiben.“ Wir haben uns überschwenglich für unser unverdientes Glück bei ihm entschuldigt!

Der ständige Kampf zwischen Herrscher und Dichter ist auch in Afrika keine neue Erscheinung. Die Griots, die Dichter unserer Vorfahren, hatten ihre eigene Art, mit diesem Problem fertig zu werden, manchmal direkt, manchmal versteckt.

Ich möchte schließen, indem ich Ihnen ein sehr kurzes Märchen der Haussa aus Nigeria erzähle: ein kleines Meisterstück und Beispiel dafür, dass die Geschichte ein zweischneidiges Schwert sein kann:

Einmal ritt die Schlage auf ihrem Pferd, im Sattel zusammengerollt, wie es ihre Art war. Als sie an der Spinne vorbeikam, die die Straße entlanglief, sagte diese: „Entschuldigung Herr, aber so reitet man nicht.“ – „»Nicht?“ fragte die Schlange. „Kannst du mir dann zeigen, wie man reitet?“ – „Mit Freuden“, sagte die Spinne.

Die Schlange glitt an der Flanke des Pferdes herab aus dem Sattel zu Boden. Die Spinne sprang in den Sattel, saß ganz gerade und galoppierte höchst elegant die Straße herauf und herunter. „So reitet man richtig“, sagte sie. – „Sehr gut“, sagte die Schlange, „wirklich sehr gut. Steig bitte ab.“

Die Spinne sprang herab, und die Schlange glitt an der Flanke des Pferde wieder herauf in den Sattel, in dem sie sich wie zuvor zusammenrollte. Dann sagte sie und schaute auf die Spinne herab: „Wissen ist sehr gut, aber Haben ist besser. Was nutzt einem reiterisches Können ohne Pferd?“ Und ritt davon.

An diesem einfachen Märchen vermag jeder die Verwendung der Geschichte zur Erhaltung des Status quo in einer Klassengesellschaft zu erkennen. Die Schlange ist ein Aristokrat, der so etwas wie Pferde aufgrund der Tatsache besitzt, wer er ist. Die Spinne ist ein Gemeiner, dessen reiterisches Können, zweifellos in Jahren des Kampfes und der Übung erworben, ihm in seiner hierarchischen Gesellschaft nichts nützt. Die Haussa, bei denen diese Geschichte entstand, sind ein monarchisches Volk, und das Ethos der Geschichte deckt sich mit den herrschenden Werten ihres politischen Systems. Man kann sich vorstellen, wie der Emir und sein Hof am Schluss lauthals gelacht haben.

Doch genau so deutlich ist auch, dass der Griot, der diese Geschichte erfand, in den voluminösen Falten des Gelächters den Verweis und das Schimmern von Eisen verbarg, ob er sich dessen nun bewusst war oder nicht. Zu gegebener Zeit wird diese selbe Geschichte bereitstehen, um einem revolutionären Zweck zu dienen, indem sie nutzt, was schon immer vorhanden war: eine unansehnliche, untaugliche und selbstgefällige Aristokratie, die sie diesmal nicht dem Gelächter aussetzt, sondern schmerzhafter Struktur.

Die neue Literatur in Afrika ist sich der Möglichkeiten bewusst, die ihr offen stehen, um auf unserem Kontinent der Menschlichkeit zu huldigen. Sie ist sich auch dessen bewusst, dass unsere Welt sich mehr und mehr mit den Welten der anderen verschränkt. Wie sagt doch eine der Figuren in „L‘Aventure ambigue“ zu einem Franzosen: „Wir haben nicht die gleiche Vergangenheit, ihr und wir, doch werden wir genau die gleiche Zukunft haben. Das Zeitalter vereinzelter Schicksale ist ein für allemal vorbei.“ Wenn wir das akzeptieren, und ich sehe dazu keine Alternative, dann sollten wir besser lernen, das Wesen, die Existenz des anderen zu würdigen und jedem Volk den ihm zustehenden menschlichen Respekt entgegenzubringen.

dt. Thomas Brückner

* Chinua Achebe, geb. 1930 im ostnigerianischen Ogidi, arbeitete nach dem Studium beim Rundfunk Nigerias. Während des Biafrakrieges war er Sonderbotschafter Biafras. Mit seinem Roman „Things fall apart“ (dt. „Okonkwo oder das Alte stürzt“, Suhrkamp, 1983) wurde er 1958 weltberühmt. Den obigen Auszug entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung des Verlages dem Band „Ein Bild von Afrika: Rassismus in Conrads ,Herz der Finsternis‘ “ © Alexander Verlag, Berlin 2000).

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von CHINUA ACHEBE