13.09.2002

Verheerender Überfluss

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Verheerender Überfluss

DIE Hirseernte im September 2001 fiel im Distrikt Sikar im indischen Bundesstaat Rajasthan außergewöhnlich gut aus. „Die beste seit zwanzig Jahren“, sagen die Bauern. Ein Segen nach drei Jahren der Trockenheit, in denen Millionen von Bauern darbten und sich verschulden mussten.

Die reiche Ernte kam wie gerufen, zumal die landwirtschaftlichen Produktionskosten in den Neunzigerjahren ebenso stetig stiegen, wie die Subventionen sanken. Doch es dauerte nicht lange, da verwandelte sich die Euphorie in einen Albtraum. Nachfrage und Marktpreise blieben auf einem sehr niedrigen Niveau. Dayal Singh, ein Bauer des Distrikts, sagt, die Händler hätten ursprünglich 250 Rupien für den Doppelzentner geboten, ein Drittel der Produktionskosten. „Bei solchen Preisen behalte ich die Ernte lieber und verfüttere sie ans Vieh.“ Zwei Monate lang übte sich die Regierung in Untätigkeit, dann legte sie einen garantierten Mindestpreis von 480 Rupien fest. Subkaran Bhuria hält dies für völlig unzureichend, zudem sei die Unterstützung mit einem Papierkrieg verbunden: „Bei den vielen Anträgen und Formularen geben viele Bauern entmutigt auf.“ Hirse lässt sich sechs Monate lagern. Wer wenig Schulden hat, kann warten. Die anderen verkaufen mit Verlust, was die stattlichen Lagerbestände weiter anschwellen lässt.

Die Agrarpolitik der Regierung stieß in letzter Zeit auf heftige Kritik. Auf der einen Seite kaufe der Staat Getreide zu garantierten Mindestpreisen auf, andererseits reduziere er den Vertrieb dieses Getreides über das „Öffentliche Vertriebssystem“ (PDS) – eine absurde Situation, wie viele meinen, und ein Skandal im Hinblick auf die Ernährungssicherheit von Millionen und Abermillionen einkommensschwacher Menschen. Die guten Ernten der letzten beiden Jahre, die Reduzierung der kostenlosen oder preisgünstigen Veräußerung und die geringe Kaufkraft eines Teils der Bevölkerung ließen die staatlichen Lagerbestände an Getreide unaufhörlich anwachsen. Man schätzt, dass voriges Jahr in den Silos über 60 Millionen Tonnen Weizen und Reis lagerten, bei einer Lagerkapazität von unter 30 Millionen Tonnen. Und der Aufwärtstrend hält unvermindert an. Der Getreideberg, mit dem man offenkundig nichts anzufangen weiß, wächst immer weiter an, aber Unterernährung und Hunger auch. Nach Angaben der Weltbank leben in Indien 250 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, ein Viertel der Bevölkerung. Andere Schätzungen liegen bei 300 Millionen und darüber.

Nach Ansicht mancher Beobachter tut die Regierung nicht genug, nach Ansicht anderer eher zu viel. Agrarexperte Swaminathan schreibt: „Das unselige Resultat einer zu guten Ernte liegt darin, dass die Bauern mit massiven Preiseinbrüchen fertig werden müssen. […] Die Regierung beugt sich dem politischen Druck und kauft überstürzt minderwertiges Getreide zu überhöhten Preisen auf. Das ist Mildtätigkeit, kein Handel. Aber die vorherrschende Mentalität in unserem Land ist eben so: Die Regierung gilt als Milchkuh. Ob Trockenheit, Überschwemmungen oder Handelsprobleme – die Regierung hilft […]. Das ist nicht der richtige Weg, eine dynamische Landwirtschaft aufzubauen.“ Und weiter: „Solange die Menschen keine Kaufkraft haben, werden wir mit dem Paradox leben müssen, dass wir in einem Meer von Elend Überfluss haben und die Reserven des PDS nicht genügend genutzt werden, weil es nicht genügend zahlungsfähige Käufer gibt. Das ist die größte Herausforderung, der sich Indien derzeit stellen muss. Beschäftigung und Existenzmittel für jeden Inder – dies muss die Grundlage unserer nationalen und globalen Politik sein.“

R.-P. P.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2002, von R.-P. P.