13.09.2002

Bratislava zwischen Balkan und Brüssel

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Bratislava zwischen Balkan und Brüssel

IM Dezember dieses Jahres wird auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen die nächste Erweiterungsrunde beschlossen. Damit wird die Union ab 1. Januar 2004 bis zu zehn neue Mitgliedsstaaten haben, die allesamt ihre Gesellschaften an die Vorgaben aus Brüssel anpassen müssen. Zu ihnen gehört auch die Slowakei. Das allerdings kann sich im letzten Moment noch ändern – wenn bei den Parlamentswahlen am 21./22. September die eurokritischen Populisten gewinnen. Doch selbst wenn das Land in die EU aufgenommen wird – die Suche nach der nationalen Identität ist für die Menschen wichtiger als die Zugehörigkeit zu Europa.

Von DIETMAR BARTZ *

Vor nicht einmal zehn Jahren ist die Slowakei in einem hastigen politischen Prozess unabhängig geworden. Eine europäische Identität besitzt sie nicht. Das wäre auch eine Überforderung. Denn während die EU ihr transnationales Konzept verbreitet, beschäftigt sich die Slowakei noch immer mit der Herausbildung ihres eigenen Gesellschaftsmodells – und zwar in Abgrenzung zu zwei transnationalen Scheinprodukten der Vergangenheit, dem erzwungenen Internationalismus der Sowjetära und dem kaum weniger erfundenen Tschechoslowakismus. Metaphysik, so scheint es, ist zwischen Donau und Tatra nicht angesagt.

Mit Europa befassen sich die Slowakinnen und Slowaken dennoch, seit das Land zu den EU-Beitrittskandidaten gehört. Über die Mitgliedschaft wird zuletzt eine Volksabstimmung befinden, doch das Referendum mit seinem wohl eurofreundlichen Ausgang ist erst der zweite Schritt. Vorher werden die Parlamentswahlen am 21./22. September zeigen müssen, ob die jetzige proeuropäische Koalitionsregierung wiedergewählt wird. Das aber ist unsicher, denn die Arbeitslosigkeit ist hoch und die Enttäuschung über das Ausbleiben bildungs-, gesundheits- und sozialpolitischen Reformen groß.

Kommen darüber aber die EU-Kritiker an die Macht? Wie schon einmal der rechtspopulistische Premierminister Vladimír Mečiar von 1994 bis 1998, kann die Slowakei international schnell beim „Balkan“ landen, d. h. in der zweiten, abgeschlagenen Kandidatengruppe aus Rumänien, Bulgarien und der Türkei. Eine Tendenzaussage hierzu wird dem Schlüsseldokument zu entnehmen sein, das am 26. Oktober in Brüssel erscheint: der große EU-Jahresbericht über die Fortschritte aller Anwärterländer auf dem Weg zur Mitgliedschaft. Seine Verfasser bereiten die Beitrittsentscheidung vor, die der Gipfel am 12./13. Dezember in Kopenhagen fällen wird. Je nach Wahlausgang ist sogar die Natomitgliedschaft der Slowakei gefährdet: Am 21./22. November befindet in Prag ein Gipfel des Militärbündnisses, ob es nach Tschechien, Polen und Ungarn nun auch das letzte ostmitteleuropäische Land aufnehmen soll. In weniger als drei Monaten wird die slowakische Regierung entweder den Weg in die internationalen Großstrukturen geschafft haben oder aber auf lange Zeit isoliert sein.

So wie das Land außenpolitisch nicht zuverlässig wirkt, tut sich die slowakische Gesellschaft auch nach innen schwer. Zu instabil noch sind die Institutionen. Bis heute bestimmen Verfassungsdebatten, Volksabstimmungen und höchstrichterliche Entscheidungen die Tagespolitik, untrügliches Zeichen für noch nicht konsolidierte politische und administrative Prozesse. Dringend hat die EU Verwaltungsreformen eingefordert, um die Arbeit der Behörden weniger willkürlich, transparenter und effizienter zu machen.

Dass der autokratische Mečiar, der das Land mit nationalistisch verbrämter Günstlingswirtschaft überzog und mit der Einführung eines Präsidialsystems liebäugelte, immer wieder gebremst und schließlich abgewählt wurde, war weniger der schwachen Opposition oder den unbeholfenen Medien zu verdanken. Entscheidend war vielmehr, dass der Staatspräsident und der Oberste Gerichtshof, die beiden bedeutendsten „überparteilichen“ Staatsorgane, personell glücklich besetzt waren und ihre Integrität gegenüber der Regierung wahrten. Durch die Nichtunterzeichnung von Gesetzen und die Aufhebung dubioser Entscheidungen untergeordneter Gerichte sorgten sie für die Beibehaltung rechtsstaatlicherVerhältnisse.

Politik in einem Land, wo jeder jeden kennt

GERADEZU atomisiert ist das Parteienspektrum. Nach den Wahlen am 21./22. September ziehen wohl acht Parteien ins Parlament ein, von denen mehrere selbst wiederum Bündnisse darstellen. Auch die derzeitige Koalitionsregierung unter dem Christdemokraten Mikuláš Dzurinda besteht aus vier Fraktionen mit insgesamt 11 Parteien – beispielsweise haben sich drei ungarische Parteien zur Koalition MKS vereint. Zusammengehalten wird eine solche Struktur durch den Mangel an Alternativen und durch die Angst vor einer Wiederkehr Mečiars, dessen Partei HZDS die mit Abstand stärkste Einzelkraft im Parlament darstellt, und durch das Wohlwollen der EU. Da in einem so kleinen Land jeder jeden kennt, sind persönliche Sympathien und Antipathien eine wesentliche Bestimmungsgröße jeder politischen Aktivität. Integrative Personen von Format würden von den vielen ausländischen Stiftungen im Lande sofort gefördert werden, doch solche Persönlichkeiten sind weit und breit nicht in Sicht.

Das zweite Problem der slowakischen Parteienlandschaft sind die populistischen Ein-Mann-Bewegungen. Kann schon die HZDS als Mečiar-Wahlverein gelten, werden im neuen Parlament wohl zwei weitere solcher Gruppierungen sitzen. Der Abgeordnete Robert Fico, früher bei den Sozialisten, hat die Bewegung „Smer“ (Richtung) gegründet und verdankt seine Bekanntheit vor allem rassistischen Äußerungen über Roma und Ungarn sowie demagogischen Forderungen wie der Ankündigung, alle nicht nachweislich legal entstandenen Vermögen in der Slowakei zu konfiszieren. Wie Mečiar will auch Fico die bereits mit der EU ausgehandelte Kapitel des Beitrittsvertrages teilweise wieder in Frage stellen; beide kommen als Gesprächspartner für Brüssel nicht in Frage. Gemäßigter tritt der Medienmogul Pavol Rusko mit seiner Neuen Bürger-Allianz (ANO) auf. Der Berlusconi der Slowakei ist Miteigentümer des beliebten TV Markíza, einem Privatsender, der noch zu Mečiars Zeiten das Meinungsmonopol des halbamtlichen Slowakischen Fernsehens durchbrach und als Stimme der gesamten Opposition galt, jetzt aber parteilich für ANO berichtet.

Die Führer solcher Ein-Mann-Bewegungen neigen dazu, Person, Amt und Staat gleichzusetzen. Nicht der Wählerwille mit seinem zeitlich begrenzten Mandat, sondern die vergangenen oder künftigen Verdienste um die Nation legitimieren die Herrschaft. Mečiar hat dieses Modell der „totalitären Demokratie“, wie die Sozialphilosophin Tatiana Sedová es einmal genannt hat, popularisiert. Es „beruft sich auf das Mehrheitsprinzip, aber versteht die Politik nicht als Terrain, auf dem Konfliktinteressen ausgetragen werden“. Seine offene Klientelpolitik kollidiert mit EU-Normen wie Eignungsnachweisen, Gleichbehandlung bei Ausschreibungen oder Vertragsrechtssicherheit. Doch auf HZDS und Smer werden wohl je über 20 und auf die ANO rund 12 Prozent der Abgeordneten entfallen – insgesamt also entfallen mehr als die Hälfte aller Stimmen auf die Autokraten. Der Rest geht an reguläre Parteien. Die HZDS hat ihre bisherige Dominanz verloren, weil eine Abspaltung, die HZD, mit 7 bis 10 Prozent rechnen kann. Umfragen sehen die Ungarn-Koalition bei 13 Prozent, die christdemokratische SDKU von Premier Dzurinda bei 10 und die gleichfalls christliche KDH bei 8 Prozent. Vielleicht schafft auch die nationalistische SNS erneut den Sprung über die Fünfprozenthürde.

Ein populäres Smer-Wahlplakat zeigt Kinderpopos mit dem Slogan „Ja zur EU, aber nicht mit nacktem Hintern“. Es fordert Würde ein und formuliert zugleich, indem es die Slowaken als Kinder darstellt, ein Unterlegenheitsgefühl, das in der slowakischen Gesellschaft omnipräsent ist: Unterlegenheit gegenüber der Herrschaft und dem Ausland, was in der Slowakei lange eins war. Über Jahrhunderte wurde das agrarisch geprägte „Oberungarn“ von Budapest aus regiert, seit dem 19. Jahrhundert rabiat magyarisiert und wirtschaftlich vernachlässigt – wenn manchen konservativen Europapolitikern die multi-ethnische und multikulturelle Donaumonarchie in dem gewaltigen Bogen von Czernowitz und Krakau über Prag bis Wien und Triest wie eine frühe EU vorkam, galt das zumindest nicht für den ungarischen Teil. Die Friedensverhandler nach dem Ersten Weltkrieg legten das Land ohne großes Zutun slowakischer Vertreter mit Böhmen und Mähren zur Tschechoslowakei zusammen; nach tschechischem Verständnis wurde die Slowakei bis 1939 von Prag aus „zivilisiert“. Für sechs Jahre existierte sodann eine Slowakische Republik als klerikalfaschistischer Zwergstaat von Hitlers Gnaden, und ab 1945 kamen die Befehle wieder aus Prag und die ganz wichtigen aus Moskau. Zwar machte der Prager Frühling mit Alexander Dubček einen slowakischen Reformkommunisten weltbekannt, aber das Machtzentrum blieb in Prag, 1968 wie auch 1989, als die sanfte Revolution dort und erst später auch in der Slowakei den Realsozialismus hinwegfegte. Die kurzlebige Tschechisch-Slowakische Föderation bis 1992 taugte dann nur noch zur halbwegs geregelten Aufteilung von Tisch und Bett; hilflos verlangte die EU zunächst die Aufrechterhaltung des Status quo und erreichte damit ebenso wenig wie in Jugoslawien.

Eine solch lange Geschichte der Fremdbestimmung prägt Vorsicht und Schläue, vor allem aber Duldungsbereitschaft und Duckmäusertum aus – eine Art kollektive Ichschwäche, „unsere slowakischen Mentalität“, wie sie der Schauspieler Marian Libuda einmal umschrieb. Der Soziologe Andrej Findor nennt die nationale Identität der Slowaken „inkonsistent und ambivalent“. Und der Regisseur Martin Sulik stellte im Jahr 2000 seinem Film „Krajinka“ („Ländchen“, 2000) das Motto voran: „Dieser Film zeigt ein Land, das scheinbar nie existiert hat, weil sich keiner daran erinnert, weil keiner darüber redet. Versuchen wir es also und fangen jetzt damit an. Vielleicht wird dieses kleine Land einmal auf einer Landkarte erscheinen.“

Doch die Verhandlungen zum EU-Beitritt bestimmen die politische Agenda der Slowakei. Der Umgang damit ist funktionell. Auch eine Zwangsmodernisierung ist eine Modernisierung – in diesem Sinn erfüllt der Beitritt in der Slowakei eine ähnliche Funktion wie in Polen oder in der Schweiz. Befürworter sind die, denen die jetzige Gesellschaft zu eng ist, die allerorten noch das „alte Denken“ wahrnehmen, die einen allgemeinen Schutz vor unberechenbaren Regierungsentscheiden oder der Korruption suchen, die aber auch wissen, dass sie ohne den mächtigen Verbündeten aus Brüssel die Verhältnisse im Land nicht ändern können. 450 „EU-Gesetze“ sind bisher auf den Weg gebracht, aber noch sind die großen Erfolge ausgeblieben; bis zuletzt wird die EU darauf drängen müssen, dass der öffentliche Dienst umgebaut, die Korruption im Bildungs- und Gesundheitswesen bekämpft und die Besserstellung der Roma keine Leerformel bleiben wird.

Materielle Vorteile direkt von der EU zu erlangen steht bei den slowakischen Erwartungen an den Beitritt nicht so stark im Vordergrund, wie der Westen oft vermutet. Agrarsubventionen aus Brüssel spielen in dem Industrieland keine so herausgehobene Rolle wie im Baltikum. Hohe Direktinvestitionen aus dem Ausland haben die Slowakei längst in das System der internationalen Arbeitsteilung integriert. Auch Migration ist trotz 17 Prozent Arbeitslosigkeit – davon entfällt rund ein Drittel auf die Roma – kein vorrangiges Thema. Nach Amerika zu gehen ist im Land seit hundert Jahren üblich; die berühmtesten Auswandererkinder sind der Popkünstler Andy Warhol und der Schauspieler Paul Newman. Wer Arbeit in der Fremde sucht, findet sie ohne amtliche Hürden auch in Prag oder – etwas schwieriger – in Wien, das von Bratislava nur eine Autostunde entfernt liegt.

Solche Ventile haben den Migrationsdruck nicht zu hoch werden lassen. Zudem ist nur ein kleinerer Teil der slowakischen Gesellschaft wirklich mobil. Der hohe Anteil an Wohneigentum, kleinen Gärten und Feldern sowie die intensiven familiären und sozialen Beziehungen begrenzen die Flexibilität. Eher hat die große Zahl von Förderprogrammen, mit denen die westlichen Institutionen die Slowakei überhäuft haben, zur Abwanderung geführt; eine signifikante Zahl junger Frauen mit traditionellem Rollenverständnis hat auf diese Weise Kontakt mit dem Westen bekommen und dorthin ausgeheiratet.

Fremdbestimmung, so lautet in der Slowakei eine teils zustimmend, teils zynisch formulierte Ansicht, ist nicht nur schlecht: Die sozialistische Zwangsindustrialisierung in der Nachkriegs-ČSSR hat die rückständige Slowakei stärker entwickelt als die wohlhabenderen Landesteile Böhmen und Mähren. Die kapitalistische Zwangstransformation der Wirtschaft nach dem Systemwechsel und der Ausrufung der Unabhängigkeit hat das Land erstaunlich gut, zeitweilig sogar besser als Tschechien bewältigt. Und deshalb, so geht die Überlegung weiter, mag auch die Zwangseuropäisierung durch das Abarbeiten der Forderungen des riesigen EU-Beitrittskatalogs Chancen bieten. Die hohe Zustimmung zur EU jedenfalls beruht bei den meisten Wählerinnen und Wählern nicht auf präzisen Kosten-Nutzen-Rechnungen, sondern auf einem diffusen Gefühl der Notwendigkeit. Schließlich beschert die EU dem Land wenigstens ein Reformprogramm.

* Redakteur der tageszeitung. Lebte 1994 bis 1998 als freier Korrespondent in der Slowakei. Im Herbst erscheint „Wirtschaft von A–Z“, Frankfurt (Eichborn).

Le Monde diplomatique vom 13.09.2002, von DIETMAR BARTZ