13.09.2002

Wer schafft den Felgaufschwung Ost?

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Wer schafft den Felgaufschwung Ost?

Die Wahl werde im Osten entschieden, heißt es allenthalben, weshalb die Kandidaten mit Fleiß durch die neuen Länder touren. In ihrem Wahlkampf kommen die tatsächlichen Nöte des Ostens gar nicht vor. Umso größer ist der Kraftakt, mit dem sie sich nach oben zu stemmen versuchen, und der noch dazu elegant aussehen soll.

Von JENS REICH *

DER Osten Deutschlands wird umworben wie die widerspenstige Braut. Alle Heiratskandidaten wissen, dass als Mitgift bei ihr nicht viel zu holen ist, aber die Demütigung, verschmäht zu werden, wäre unerträglich. Die Septemberwahl wird zwar im Osten nicht gewonnen, wohl aber verloren – so lautet die paradoxe These, und an ihr ist mehr dran als ein geistreiches Aperçu.

Während man in der alten Bundesrepublik „West“ sicher sein kann, dass zwar während des Wahlkampfrennens die Positionen dauernd wechseln, wobei je nach Skandal oder Sensation mal diese, mal jene Partei Vorsprung hat, so ist es ebenso gewiss, dass sie auf der Zielgeraden wieder Kopf an Kopf rennen werden und die Entscheidung knapp wird. Vorne ringen SPD und CDU um den ersten Platz; weiter hinten kämpfen FDP und Grüne um den dritten Rang. Das Ergebnis der Koalitionen, die noch immer rechts und links genannt werden, war nur selten weit entfernt vom Patt. Helmut Kohl hatte 1994 grade mal drei Stimmen mehr als die Opposition. Ähnlich erging es Willy Brandt vor dreißig Jahren. Im Westen wird die Wahl gewonnen, wenn man im Endspurt Fortune hat und mehr als die Hälfte der Sitze im Handstreich erobert. Verlieren jedoch kann man die Wahl im störrischen Osten, der seit zwölf Jahren mit im Boot ist und jedesmal für Überraschungen sorgte. 1990 brachten Osten und Vereinigungseuphorie Oskar Lafontaine um den sicheren Sieg und Helmut Kohl die schon verloren geglaubte Verlängerung. 1994 dann hofften die Ostler auf den Kanzler der Einheit und trauten noch seinen Versprechungen – knappes Aus für Rudolf Scharping. 1998 schließlich vereinten sich Osten und Westen im Bestreben, Helmut Kohl loszuwerden; damals kam es zum Kantersieg von Gerhard Schröder und Rot-Grün. Und diesmal?

Wer etwas von Wahrscheinlichkeitsrechnung und Stichprobentheorie versteht, weiß, dass bei einer repräsentativen Befragung von 1.000 Wählern die Streubreite laut Bernoulli-Verteilung notwendig 1 bis 2 Prozent beträgt, sodass bei einer globalen Frage, wie z. B. ob die Regierung abgewählt werden wird, zwischen 48 und 52 Prozent jedes Ergebnis annähernd gleich wahrscheinlich ist. So sind alle Umfragen Kaffeesatz-Wettlesen von mehreren Wahrsagern auf der gleichen unsicheren Basis, und es ist schon erstaunlich, welche Bedeutung dem in den Medien und bei den Politikern beigemessen wird.

Bekanntlich machen im Osten nur wenige Wähler ihr Kreuz immer an der gleichen Stelle, z. B. etwa 15 Prozent für die PDS. Die festen Prozente sind auch für SPD und Union im Osten nicht viel größer. Die einst bürgerbewegten Grünen haben im Osten 1990 besser abgeschnitten als im Westen, und auch die FDP hatte zeitweilig erstaunliche Ost-Prozente und konnte in mehreren Landesregierungen dabei sein, bevor sie ebenso wie die Grünen 1998 ins Bodenlose stürzte. Aber auch das muss nicht endgültig sein. Die Volatilität des Wahlverhaltens ist ein Phänomen, dass ich aus eigener Beobachtung in meiner Umgebung bestätigen kann: Ich kenne mehrere Leute, die ganz munter erzählen, dass sie bisher bei jeder Wahl anders gewählt haben. Da gab es in Sachsen-Anhalt eine FDP, die mit Genscher 1990 zu Ergebnissen kam, die heute Möllemann zum Helden des Tages machen würden, dann total abstürzte, 2002 wieder mit satten Prozenten auftauchte und regierungsfähig wurde. Da gab es im gleichen Land eine DVU, die 13 Prozent holte und beim nächsten Mal unter der Wasseroberfläche verschwand. Solche Schwankungen zeigen, dass das Wahlvolk im Osten noch nicht bei einer lebensweltlich und sozial definierten politischen Einbindung angekommen ist.

Die wahlkämpfenden Parteien reagieren nervös auf solche Sachverhalte. Die großen Kontrahenten schenken dem Osten weit mehr Aufmerksamkeit, als ihm nach Stimmenanteil (20 Prozent) zukommen müsste. Stoiber bereiste die östlichen Bundesländer, und wie weiland Helmut Kohl wird ihm überall der gleiche Empfang zuteil, genauer gesagt, zwei Varianten des gleichen Empfangs: Wenn die örtliche CDU nicht aufpasst, dann hat er in Wurfnähe die Alternativen und Autonomen; es fliegen Hühnereier und Tomaten, und die Begleiter müssen CDU-Sonnenschirme zur Abwehr aufspannen. Die Fotos von der Eröffnung des Berliner Wahlkampfs auf dem Alexanderplatz gingen unlängst um die Welt. Sie zeigten zunächst Stoiber mit Mikrofon tapfer gegen den Eierhagel anredend, während der Berliner Steffel hinter dem Rücken seines bayrischen Beschützers in Deckung ging; Sekunden später traten beide den ungeordneten Rückzug zu den Limousinen an, wobei auch noch Frau Merkel verloren ging und mit der U-Bahn nach Hause fahren musste. Auch Helmut Kohl hat im Osten ähnliche Erfahrungen gemacht. Unvergessen ist Halle 1993, als ein faules Ei auf seinem Jackett zerplatzte, Kohl mit schnellem Schritt zum Gegenangriff überging und nur mit Mühe von seinen Bewachern daran gehindert werden konnte, den unverschämten Rowdy mit Watschen zu züchtigen. Die örtlichen Organisatoren haben aus solchen Zwischenfällen gelernt und sorgen, Empfangsvariante zwei, möglichst dafür, dass die Wurfweite durch Stuhlreihen und brav Beifall klatschendes CDU-Wählervolk blockiert ist. Die Protestierer können nur noch von hinten pfeifen und brüllen, und Stoiber antwortet den Jugendlichen über superstarke Lautsprecher mit solch treffstarken Argumenten wie dem, dass sie vierzig Jahre lang bewiesen hätten, dass aus ihrem SED-Staat nie etwas werden könne. Immerhin ist Stoiber wesentlich geschmeidiger als Helmut Kohl, der die Menge unverblümt als Pöbel anredete und ein entsprechendes Wutgeheul sowie zahlreiche Neustimmen für die PDS erzielte (das Letztere weiß ich aus Meinungsäußerungen aus meiner Arbeitsstelle).

So hat der Straßenwahlkampf der CDU karnevaleske Züge und sagt nicht viel aus über die Reaktion der Menge, die hinter den Gardinen verharrt und am 22. September den Ausschlag geben wird. Gerhard Schröder übt sich demgegenüber in der Pose des Landesvaters, erklärt den Osten huldvoll zur Chefsache, reist von Ort zu Ort und nimmt die Verbeugungen des Volkes entgegen, verteilt wohltätige Geschenke in Form von kleineren Spendenschecks, entdeckt gleichaltrige Ost-Kusinen, von denen er in den Wirren des Kalten Krieges nie etwas gehört hatte. (Die Neuentdeckten scheinen übrigens PDS-Wählerinnen zu sein, wenn man die kessen Antworten, die sie den Reportern gaben, für bare Münze nimmt.) Der Effekt der Rundreise wird dadurch eingeschränkt, dass Serenissimus von jedem zweiten Untertan auf Thema eins, nämlich seine Arbeitslosigkeit, angesprochen wird, wozu er auch nur wortreichen, aber wirkungslosen Trost spenden kann. Die FDP gibt bei diesem Wahlumzug die Harlekinsfigur. Westerwelle ist mit seinem Guidomobil nur im Fernsehen, aber nicht im Osten gesehen worden, und seine Stellvertreterin Cornelia Pieper verpatzte ihren tollen Wahlerfolg in Sachsen-Anhalt, indem sie anschließend größenwahnsinnige Ansprüche auf die Ministerpräsidentschaft stellte und danach einen Posten fern der Heimat in der FDP-Zentrale antrat. Die Bündnisgrünen versuchen es im Osten mit Konzentration auf den dauerlaufgestählten, schlanken Auftritt ihres Sympathieträgers Joschka Fischer, von dessen staatstragenden Europabekenntnissen allerdings keine begeisternde Wirkung auf das Ostvolk ausgeht, das vage Befürchtungen wegen der bevorstehenden Osterweiterung der EU hegt, „wenn die Polen und Weißrussen uns überschwemmen“.

Bleibt die PDS. Gregor Gysi, als Jack-in-the-Box, hat seiner Partei erst einmal die lange Nase gezeigt und den mühsam erkämpften Senatorenposten samt Abgeordnetenmandat in Berlin einfach hingeworfen. Ob das die Wahlaussichten der PDS hinreichend schmälern wird, worauf im Westen viele hoffen, ist noch nicht ausgemacht. Gysi jedenfalls nimmt fröhlich als Klassenkasper am Wahlkampf seiner Partei teil und erfreut die Anhänger mit lustigen Sprüchen und gewundenen Advokatenargumenten. Wieso man auf ein Boot klettern soll, von dem er gerade mit Bauchklatscher abgesprungen ist, wollen seine Anhänger offensichtlich nicht erklärt bekommen. Sie finden ihn so, wie er ist, „einfach toll“.

Erst kürzlich ist in der Kabarettrunde sittlicher Ernst aufgekommen: Die Jahrhundertflut quer durch den Osten hat die Stimmung gewendet. Mit Anorak, Gummistiefeln und gefurchter Stirn haben die Wahlkämpfer die weichen Deiche mit dem Prüfstab getestet und den Opfern Katastrophenhilfe angekündigt. Alle versprachen sofortiges, großzügiges und unbürokratisches Geld, und jede Partei will dazu ein anderes Sparschwein schlachten.

Stoiber tut sich in der neuen Lage etwas schwer, weil er als Opposition Hilfe nur rhetorisch leisten kann. Für Schröder kommt die Krise wie gerufen, da er als Staatschef Handlungsfähigkeit demonstrieren kann, wobei er sich allerdings mit einem Helmut-Kohl-Zitat gefährlich verplappert hat: Keinem soll es schlechter gehen als vorher! An solche Äußerungen erinnert sich das sonst so begriffsstutzige Ostvolk sehr wohl. Im Moment fragt sich allerdings, ob die Schröder-freundliche Stimmung, die sich in Umfragen niederschlägt, bis zur Wahl dauern wird. Ein Skandal bei der Finanzhilfe z. B. kann das Boot schnell zum Kippen bringen. Oder Sozialneid, wenn das Gerücht aufkommt, die Flutopfer ersetzten ihr Plumpsklo durch Villeroy & Boch.

Der Unernst der Wahlkampagne Ost ist letzten Endes dadurch bedingt, dass Kandidaten und Wählerschaft aneinander vorbeireden und durch keinen lebensweltlichen oder sozialen Kontakt miteinander verbunden sind. Guido Westerwelle für die FDP etwa, flinkzüngiger Vierzigjähriger, Doktor der Jurisprudenz, aus bester Bonner Familie – wo im Osten gibt es Gleichaltrige mit vergleichbarer Sozialisation und Studienrichtung, mit ähnlicher Lebenserfahrung? Wohlhabende Rechtsanwälte oder Ärzte mit Kindern auf dem Gymnasium, smarte Unternehmer von westlicher Weltläufigkeit – mit solchen Spurenelementen kann man im Osten keine 5-Prozent-Hürde überspringen. Auch Joschka Fischer und Claudia Roth, gestählt in Stadtguerillaschlachten und endlosen Ideologiescharmützeln – wo ist da eine Klientel, die vergleichbare politische und soziale Erfahrungen hätte? Für beide Sorten denkbarer Ansprechpartner, schicke Yuppies wie linksbewegte Alternative, fallen mir in meiner Lebensumgebung nur Zugereiste ein, die Neubürger der Städte.

Die schwerblütige Provinzbevölkerung kann gar nicht so schnell zuhören, wie den Bewerbern in der Talkshow die Phrasen von der Zunge gehen. Die gesetzteren Kandidaten, die Landesvatertypen, wie Vogel in Thüringen, Stolpe in Brandenburg und Biedenkopf in Sachsen, haben zwar lange Zeit gewisse Wählerschichten angesprochen, aber auch sie sind von anderem Kaliber, mit anderem Wohlstand, anderen Lebenserfahrungen als ihre zeitweiligen Wähler. Wenn die reißenden Schlammbäche Haus und Garten fortspülen, sitzen die Honoratioren auf dem Dresdner Weißen Hirsch, hoch oben über den Elbwiesen, im Trockenen. Sie sind weit, weit weg. Selbst wenn die Kandidaten es nicht wollen – die Distanz ist kaum geringer als zu Preußens Zeiten, als der adlige Gutsherr den Bauern die richtige Wahl zu treffen dringend empfahl. Die wenigen Prominenten, die aus dem Osten stammen, haben es auf andere Weise schwer: Die Wähler fragen sich misstrauisch, wie der das wohl geschafft hat, wenn er genauso bescheiden gestartet ist wie man selbst. Alle Bundestagskandidaten bewerben sich um Arbeitsstellen, auf denen sie das Fünf- bis Zehnfache verdienen von dem, was ihre Wähler erhalten, und der Neid darauf, dass man nicht selbst mit ein paar flotten Thesen den Job ergattern kann, zeigt sich auf nahezu jeder Wählerversammlung.

Im Westen gibt es eine Politikverdrossenheit, die letzten Endes produktiv wird, indem sich, wenn auch mühsam, für neue soziale Gruppen politische Vertreter finden, deren Auftreten und Ausstrahlung in Resonanz mit „ihren“ Wählern steht. Im Osten dagegen existiert eine prinzipielle Öl-Wasser-Scheidung zwischen „uns“ und „denen da“. Es fehlen die gesellschaftlichen Transmissionsriemen, die alten (Kirchen, Gewerkschaften, Rotary- und Lions-Clubs, Stammtische, Heimatvereine) ebenso wie die sich immer neu bildenden (Bürgerinitiativen, Hochschulgruppen, Lobbys). Auch nach zwölf Jahren haben sich noch keine sicheren politisch-sozialen Milieus gebildet. In den anderen ehemaligen Ostblockländern haben sich längst ausgeprägte, von Parteien vertretene politische Strukturen gebildet. Ostdeutschland hingegen ist politisches Niemandsland, über dem lähmend die Dunstglocke westdeutscher Präformation hängt.

Ein schöner Trost ist immerhin dabei: Der Osten wird grün! Vorbei sind die Zeiten, da man während der Zugfahrt durch Leuna und Bitterfeld Stickhustenanfälle von den gelbroten nitrosen Gasen bekam, die zahlreiche Schlote farbenprächtig in die Stratosphäre schickten. Die Luft im Osten ist sauber geworden, die Laubbäume werfen nicht mehr im August ihre Blätter ab, und in Flüssen und Seen darf man wieder baden. Der Osten – ein Landschaftsschutzpark! Die Bundesrepublik brüstet sich damit, dass sie das einzige Land ist, das seit 1990 die Emissionen deutlich reduziert hat. Nur schade, dass die Schließung der verdreckten Energie- und Chemiegiganten aus der späten DDR anstatt der nitrosen Gase zur Emission von einer Million arbeitslosen Industriearbeitern geführt hat! Diese Abwanderung gerade der Jungen wäre tatsächlich ein Wahlkampfthema für den Osten.

* Professor für Molekularbiologie an der Humboldt-Universität in Berlin. 1990 Mitglied des Runden Tisches der DDR. Autor u. a. von „Abschied von den Lebenslügen“, Berlin (Rowohlt) 1992.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2002, von JENS REICH